„Das Coming-out war mein persönliches Ostern“

Ein schwu­ler Mann hei­ra­tet eine Frau, sie bekom­men Kin­der. Dann ent­deckt sie sei­ne Gay-Maga­zi­ne. Doch die Heim­lich­kei­ten gehen wei­ter. Er wird Dia­kon in einer katho­li­schen Gemein­de. Sie wird depres­siv. Erst jetzt, mit fast 60 Jah­ren, outet er sich öffentlich.

TEXT: NIKLAS BESSENBACH
FOTOS: NIKOLAUS URBAN
LEKTORAT: ANTONIA STROTMANN

Im Herbst 1980 steht Joa­chim Speck am Bahn­hof, er war gera­de Rudern, und war­tet auf sei­ne Mut­ter. Wie so oft ist sie zu spät. Er ist damals 16 Jah­re alt, gelang­weilt geht er in ein Zeit­schrif­ten­ge­schäft und guckt sich die Maga­zi­ne mit den nack­ten Män­nern an. Plötz­lich stellt sich ein Frem­der neben ihn und schenkt ihm einen Kau­gum­mi. Dann zieht der Mann ihn raus, in eine Häu­ser­ecke, wo sie nie­mand sieht. Joa­chim Speck könn­te davon­ren­nen, aber er lässt es zu. Danach weiß er, was er schon län­ger geahnt hat: Er ist schwul.

In den kom­men­den Tagen über­legt er, was ihm da pas­siert ist. Eigent­lich war das eine Ver­ge­wal­ti­gung, denkt er, nur, war­um fühl­te es sich dann so gut an? Er ist verwirrt.

Inzwi­schen liegt die Begeg­nung über 40 Jah­re zurück. Und er weiß noch genau, wie sich in den Tagen danach sein Unbe­ha­gen in Wohl­ge­fal­len wan­del­te, immer mehr, bis er in sich hin­ein lächel­te, wenn er an den Frem­den dachte.

Als er noch ein Kind war, klär­te ihn sei­ne älte­re Schwes­ter auf, was schwul bedeu­tet. Schwul – das Wort gefiel ihm. Viel­leicht traf es sogar auf ihn zu? Wenn er mit dem Bus zur Schu­le fuhr, die Pla­ka­te an den bei­den Kinos sah, wun­der­te er sich dar­über, dass dort immer nur Frau­en ero­tisch posier­ten. Er woll­te Män­ner sehen. Alles von ihnen.

Auf Distanz zu seinen Eltern

In sei­ner Jugend hofft Joa­chim Speck, dass er nur bise­xu­ell ist. Er hat Angst vor sei­nen Eltern, denen gleich­ge­schlecht­li­che Lie­be wider­strebt. Als er 1964 gebo­ren wird, ver­folgt der Staat homo­se­xu­el­le Män­ner noch. Grund­la­ge dafür war Para­graf 175 des Straf­ge­setz­buchs. Zwi­schen 1949 und 1969 wur­den in der Bun­des­re­pu­blik etwa 50.000 Män­ner ver­ur­teilt. Speck spricht mit nie­man­dem über sei­ne Homo­se­xua­li­tät. Fühlt sich unver­stan­den und aus­ge­schlos­sen, wie unter einer Käseglocke.

Als Jugend­li­cher träumt Joa­chim Speck davon, Pfar­rer zu wer­den. Er besucht ger­ne die Mes­se. Mag das Gebet, hört auf­merk­sam der Pre­digt zu. Gott stellt er sich nicht als etwas Gegen­ständ­li­ches vor, eher als Wel­le oder Fir­ma­ment. Auf jeden Fall ohne Geschlecht, ohne Gesicht. Ein Schöp­fer, der die Men­schen machen lässt. „Ich glau­be nicht, dass Gott die Men­schen in Kröpf­chen und Töpf­chen ein­teilt“, sagt er.

Joa­chim Speck wächst in Wal­desch auf, einem Dorf in der Nähe von Koblenz. Der Vater ist Ver­wal­tungs­rich­ter und zeich­net sich nicht dadurch aus, dass sich Kin­der zu ihm hin­ge­zo­gen füh­len. Er zeigt erst Inter­es­se an sei­nem Sohn, als der das ers­te Mal die FAZ in den Hän­den hält. Sie blei­ben sich immer fremd. Die Mut­ter ist Haus­frau und streng zu ihren Kin­dern. Nicht grau­sam, aber stra­fen habe sie gekonnt, sagt Speck.

Mit Mädchen knutschen, aber kein Sex

Er stu­diert Jura in Frei­burg. Tritt dem CDU-nahen Ver­band RCDS und einer schla­gen­den Ver­bin­dung bei. Unter Kon­ser­va­ti­ven fühlt er sich wohl. Hier und da knutscht er mit Frau­en. Für mehr fehlt ihm der Mut. Sei­ne Homo­se­xua­li­tät igno­riert er.

Dann ent­schei­det er sich, Land­arzt zu wer­den, und schreibt sich für Medi­zin ein. Das Dörf­li­che, die Nähe zu den Men­schen: Die Arbeit wäre der eines Pries­ters nicht unähn­lich, denkt er, zumin­dest ein biss­chen seel­sor­ge­risch. „Ich war jemand, der sich ger­ne in Phan­ta­sie­wel­ten bewegt hat.“ Aber er fällt durch Prü­fun­gen, Natur­wis­sen­schaf­ten lie­gen ihm nicht. Er macht mit Jura weiter.

In die­ser Zeit liest er in Büchern nach, wie man sich outet. Er will sei­ne Ängs­te über­win­den. End­lich auch in der Wahr­neh­mung der ande­ren der wer­den, der er wirk­lich ist. Als Stich­tag setzt er sich die Hoch­zeit sei­ner bes­ten Freun­din, es ist 1992, er ist 28 Jah­re alt.

Sie möchte Kinder. Er denkt: Hoffentlich mit mir

Auf der Par­ty trifft er eine Frau, er fühlt sich zu ihr hin­ge­zo­gen: Kur­ze locki­ge Haa­re, kräf­ti­ge Ober­schen­kel, sie raucht wie er Phil­ip Mor­ris. Sie erzählt ihm, dass sie ger­ne Schrei­ne­rin gewor­den wäre, aber abge­lehnt wur­de, weil die Betrie­be nur Toi­let­ten für Män­ner hat­ten. Er könn­te ihr stun­den­lang zuhören.

Sie habe männ­lich auf ihn gewirkt, sagt er. Sie ist domi­nant, gibt den Takt vor. Ist er viel­leicht doch nicht schwul? Er hofft es so sehr. Als sie ihm erzählt, dass sie Kin­der möch­te, denkt er: hof­fent­lich mit mir. Sie besucht ihn in Göt­tin­gen, der ers­te Kuss.

Sie zie­hen zusam­men, bekom­men zwei Kin­der, hei­ra­ten. Der Wunsch, Pfar­rer zu wer­den, ist so weit weg wie nie. Manch­mal schleicht er sich in Zeit­schrif­ten­ge­schäf­te und bestaunt wie­der die Maga­zi­ne mit den nack­ten Män­nern. Wenn nie­mand zu Hau­se ist, blät­tert er sie durch.

Die Fami­lie wohnt kurz in Ber­lin, Speck arbei­tet in ver­schie­de­nen Kanz­lei­en. In einer dient er bloß als Unter­schrif­ten-Onkel, sagt er. Dann wech­selt er in eine, die auf Fami­li­en­recht spe­zia­li­siert ist. So rich­tig kommt er aber nie in die­ser Welt der Gerichts­ter­mi­ne und Gut­ach­ten und Ellen­bo­gen an.

Er besucht in die­ser Zeit regel­mä­ßig die Mes­se in Sankt Kon­rad in Fal­ken­see. Manch­mal springt er ein, wenn nicht genug Mess­die­ner da sind. Der Pfar­rer begeis­tert ihn. Hört er die Pre­dig­ten, hat er den Ein­druck, sie wären nur für ihn. So sehr tref­fen sie sei­ne Empfindung.

Sei­ne Frau ent­deckt in der Ber­li­ner Woh­nung in einem Ruck­sack die Hef­te mit den nack­ten Män­nern. Fas­sungs­los fragt sie ihn, was das zu bedeu­ten habe. Er sagt ihr die Wahr­heit. Aller­dings nur halb, ganz ent­schlos­sen ist er nicht. Er redet sich und ihr ein, dass er nur bi sei.

Und sie ist sich gar nicht sicher, ob es über­haupt ein Sei­ten­sprung wäre, ob es für sie eine Kata­stro­phe wäre, wenn er etwas mit einem Mann hät­te. So wenig nimmt sie sei­ne Homo­se­xua­li­tät offen­bar ernst. Am Ende des Gesprächs ist er erleich­tert, dass zumin­dest sei­ne Frau sein wah­res Ich kennt.

Sie eini­gen sich dar­auf, eine Paar­the­ra­pie zu machen, das hilft fürs Ers­te. Er ver­bie­tet sich, in die Maga­zi­ne zu gucken. Will stren­ger zu sich sein, auf der Stra­ße die Sei­ten­bli­cke auf Män­ner unter­las­sen. Doch ab da fühlt er sich wie auf Bewährung.

Ein Neuanfang mit seiner Frau, vorher aufs schwule Straßenfest

Heu­te sagt er, er hät­te schon an dem Tag die Bezie­hung been­den sol­len, sei­ne Iden­ti­tät offen­le­gen müs­sen, auch gegen­über sei­nen Kin­dern. Aber er habe sich ver­steckt, er sei vor sich selbst geflohen.

Sie ver­las­sen Ber­lin, machen einen Neu­an­fang in Witt­lich. Gehen zurück in die Pro­vinz, etwa 70 Kilo­me­ter von Koblenz, sei­ner alten Hei­mat. Sei­ne Frau zieht zuerst hin, fin­det eine Anstel­lung als Heb­am­me. Speck regelt letz­te Ange­le­gen­hei­ten in einer Kanz­lei, die er über­nom­men hat­te, aber pleiteging.

Allein in Ber­lin besucht er ein schwu­les Stra­ßen­fest. Er könn­te jetzt knut­schen, Män­ner ken­nen­ler­nen und ein Date aus­ma­chen. Doch er traut sich nicht. An einem Stand kauft er eine Umhän­ge­ta­sche mit der Regen­bo­gen­flag­ge drauf. Als er nach Witt­lich kommt, nimmt er sie mit.

Es dau­ert nicht lan­ge, bis sei­ne Frau die Tasche fin­det. Sie strei­ten hef­tig, machen ein­an­der Vor­wür­fe. Er muss immer wie­der an ein Zitat aus einem Film den­ken, es ermu­tigt ihn: „Zu lan­ge waren die Vor­hän­ge geschlos­sen, jetzt ist es Zeit, sie zu öffnen.“

Das ist die ers­te Trennung.

Er nimmt sich eine Woh­nung. Erst das lau­si­ge Staats­examen, dann das Schei­tern als Rechts­an­walt, jetzt die Tren­nung. Speck fühlt sich min­der­wer­tig. Er beschließt, unten anzu­fan­gen, und räumt Rega­le in einem Dro­ge­rie­markt ein.

Noch ein Neuanfang, diesmal in Münster

Um sei­ne Kin­der küm­mert sich nun eine Au-pair. Doch die jun­ge Frau ist völ­lig über­for­dert. Joa­chim Speck nutzt das, um sei­ner Fami­lie wie­der näher zu kom­men. Sei­ne Frau lässt das zu. Ein hal­bes Jahr nach der Tren­nung zie­hen sie wie­der zusam­men. Aber so rich­tig funk­tio­niert die Bezie­hung nicht mehr. Zu viel ist unaus­ge­spro­chen. Zu viel schwelt im Untergrund.

Er ver­sucht, Kon­takt zu einer quee­ren Gemein­de in Trier auf­zu­bau­en, die er im Inter­net ent­deckt hat. Er muss sich über­win­den, zögert immer wie­der, hin­zu­fah­ren, traut sich nicht anzu­ru­fen. Dann fährt er hin. Doch nie­mand ist da. Er pro­biert es nie wieder.

Sei­ne Frau ver­dient das Geld für die Fami­lie. Doch weil sie sich in Witt­lich in ihrem Job nie so rich­tig wohl fühlt, beschlie­ßen sie 2005, nach Müns­ter zu zie­hen, wo sie als Heb­am­me in einem Kran­ken­haus anfängt. Speck arbei­tet in einem Ver­lag. An Wochen­en­den steht er zudem in Warn­wes­te auf dem Bahn­steig von Müns­ter und hilft Gehör­lo­sen, Men­schen mit Roll­stuhl und Blin­den in die Züge. Er möch­te nah an Men­schen sein, auch im Beruf.

Als er sei­nen Job im Ver­lag ver­liert, wird er Bahn­an­sa­ger. Jetzt sitzt er in einem Käm­mer­lein über dem Stell­werk und sieht jeden Tag Züge ankom­men und wei­ter­fah­ren. An einem Tag ver­hed­dert sich eine Tau­be in der Ober­lei­tung, nichts geht mehr. „Das war Highli­fe und Kon­fet­ti“, sagt Speck. Stän­dig gibt er durchs Mikro­fon neue Anwei­sun­gen, nur noch die Hälf­te der Glei­se ist befahr­bar. Für die­sen Stress und sol­che Unvor­her­seh­bar­kei­ten habe er den Job geliebt, kein Tag sei wie der ande­re gewesen.

Tags­über umar­men er und sei­ne Frau sich noch. Aber abends im Bett lie­gen sie wach neben­ein­an­der und nichts pas­siert. Kei­ne Berüh­rung, kei­ne Lust. Vor allem, weil er auf Män­ner steht. Doch er spürt auch ers­te Sym­pto­me sei­ner Mul­ti­plen Skle­ro­se, die erst viel spä­ter aus­bricht. Sei­ne Libi­do nimmt ab. „Ich lieb­te sie schon“, sagt er, „aber ohne Begehren.“

Ihm fehlt der Mut. Seiner Frau auch

An einem Tag läuft er am Hügel an der Kreuz­schan­ze vor­bei, ein belieb­ter Treff für schwu­le Män­ner. Es ist kei­ne Absicht, eher Zufall. In Gebü­schen lie­gen benutz­te Kon­do­me. Er unter­hält sich mit einem Mann, dann haben sie Sex. Zwar nur ein Qui­ckie, aber es ist groß­ar­tig. Jetzt spürt er, was ihm durch sei­ne Ängs­te ent­gan­gen ist. Am Abend liegt er wie­der neben sei­ner Frau.

Dann geht der Sohn, er ist da 13 Jah­re alt, in den Kel­ler und knackt das Schloss von einem alten Akten­kof­fer sei­nes Vaters, ein sil­ber­ner Pilo­ten­kof­fer, er woll­te ihn schon lan­ge für die Schu­le haben. Vor ihm lie­gen etli­che Maga­zi­ne, mus­ku­lö­se Män­ner, nackt, Küs­se. Scho­ckiert fragt er den Vater, was das sei, ob sie tat­säch­lich ihm gehö­ren würden?

Speck ist sprach­los. Schiebt es auf die Tren­nungs­pha­se, schafft es aber nicht, sei­nem Sohn die Wahr­heit zu sagen. „Zu schis­sig“, sei er gewe­sen. Er hofft, dass der Sohn nicht alles gese­hen habe. Das fra­gi­le Fami­li­en­band – er will es nicht zer­stö­ren. Und nicht nur er sei fei­ge gewe­sen, auch sei­ne Frau, die ja alles gewusst habe und trotz­dem ein­fach mit ihm wei­ter­ge­lebt habe wie zuvor.

Doch noch das Theologiestudium

Als sich sein Gesund­heits­zu­stand ver­schlech­tert, wech­selt er ins Beschaf­fungs­ma­nage­ment der Deut­schen Bahn. Er bestellt nun für Bahn­hö­fe Stüh­le, Hygie­ne­ar­ti­kel und Wetterschutzhäuschen.

Speck besucht regel­mä­ßig die Mes­se in St. Petro­nil­la, einer Gemein­de in Müns­ter-Han­dorf. Er und sei­ne Frau neh­men an einer Fahrt der Gemein­de nach Assi­si teil. Er ver­steht sich gut mit der Frau, die im Lit­ur­gie­aus­schuss arbei­tet. Sie über­re­det ihn, bei ihrer Grup­pe mit­zu­ma­chen. So lernt er den Pas­tor immer bes­ser kennen.

2010 fragt der Pas­tor ihn, ob er nicht Dia­kon wer­den möch­te. In dem Amt wür­de er Men­schen beer­di­gen, ver­hei­ra­ten, tau­fen. Er ist unent­schlos­sen, er mei­det sonst das Ram­pen­licht. Am Ende stimmt er zu.

Er muss sich vier Jah­re auf die Wei­he vor­be­rei­ten. Er beginnt ein Fern­stu­di­um in Theo­lo­gie, zusam­men mit acht ande­ren Män­nern. Eine sei­ner Lieb­lings­stel­len wird der Haupt­mann von Kafar­na­um, im Mat­thä­us­evan­ge­li­um 8,5-13. Ein Haupt­mann bit­tet Jesus, sei­nen kran­ken Knecht zu hei­len. Speck mag sie, weil sie aus­drückt, dass Gott jeden Men­schen annimmt, „ohne zu bewer­ten, wie bela­den und mit wel­chem Gepäck einer unter­wegs ist“. Er mag sie aber noch aus einem ande­ren Grund: „Der Haupt­mann hat­te wohl eine beson­ders enge Bezie­hung zu sei­nem Knecht“, sagt Speck.

Eigentlich will die Kirche Menschen wie ihn nicht

Durch sei­ne Vor­be­rei­tung auf das Kir­chen­amt ent­frem­den sich Speck und sei­ne Frau. War frü­her alles auf den Schicht­dienst sei­ner Frau aus­ge­rich­tet, muss er nun für Prü­fun­gen ler­nen und hat daher weni­ger Zeit, sich für die Fami­lie einzusetzen.

2014 wer­den er und sechs wei­te­re Män­ner geweiht. Als er vor dem Bischof steht und die Wei­he emp­fängt, über­legt er, dass er eigent­lich schwul ist und dass die Kir­che, Men­schen wie ihn streng genom­men nicht haben will. Sie ver­ur­teilt Homo­se­xua­li­tät als Sün­de, schwu­le Män­ner dür­fen nicht Pries­ter wer­den, ihre Lage ver­hin­de­re, dass sie „kor­rek­te Bezie­hun­gen zu Män­nern und Frau­en auf­bau­en“. Speck genießt die Zere­mo­nie trotz­dem. Sein klei­nes Geheim­nis amü­siert ihn.

Er zögert den Moment lan­ge her­aus, erst 2019 outet er sich vor sei­ner Toch­ter. War­um erst jetzt, kann er nicht genau erklä­ren. Sie sagt, sie müss­te ihren Vater jetzt ganz neu kennenlernen.

Sei­ne Frau fühlt sich immer unglück­li­cher in der Bezie­hung, sie wird depres­siv, für eine Zeit nimmt sie sich eine Woh­nung. Living apart tog­e­ther nennt sie das Kon­zept. Aber es funk­tio­niert nicht. Sie trennt sich von ihm.

Am 24. Janu­ar 2022 sitzt Joa­chim Speck im Home­of­fice. Er küm­mert sich gera­de um Ange­le­gen­hei­ten einer Bau­stel­le für die Deut­sche Bahn, als er sieht, dass sich unter dem Schlag­wort „Out in Church“ hun­der­te von quee­ren Men­schen, die für die Kir­che arbei­ten, geoutet haben. Er liest ihr Mani­fest im Inter­net, schaut sich am Abend die Doku dar­über an. Es über­rascht ihn, wie vie­le aus Müns­ter dabei sind. Er denkt, dass das trotz­dem nur ein klei­ner Teil ist, vie­le que­e­re Men­schen noch Angst vor Kün­di­gun­gen oder sogar Aus­schluss aus der Kir­che haben. Er denkt, dass er jetzt fast 60 Jah­re alt ist und viel zu lan­ge geschwie­gen hat. „Der rote Faden mei­nes Lebens waren Ohn­macht und Angst“, sagt er.

Noch am sel­ben Tag mel­det er sich auf der Web­site der Kam­pa­gne an. Er füllt einen Fra­ge­bo­gen aus und lädt ein Foto hoch. Als nach zwei Wochen sein Pro­fil noch immer nicht online ist, wird er unge­dul­dig. Dann sieht er end­lich schwarz auf weiß, dass sei­ne Geschich­te in den Sozia­len Medi­en geteilt wird, und fühlt er eine gro­ße Befreiung.

Das Bis­tum Müns­ter ver­schickt kurz nach der Ver­öf­fent­li­chung der Kam­pa­gne eine Pres­se­mit­tei­lung raus, in der der Bischof Felix Genn sei­ne Sym­pa­thie für die Bewe­gung kundtut.

Outing im Weihekurs, dann in der Gemeinde

Am Tag nach der Ver­öf­fent­li­chung der Kam­pa­gne trifft er sich mit sei­nen Mit­brü­dern aus dem Wei­he­kurs zum Video­te­le­fo­nat, jeden Abend beten sie gemein­sam. Joa­chim Speck trägt den Psalm 139 vor. Eine Stel­le ist ihm beson­ders wich­tig: „Ich dan­ke Dir, dass ich so stau­nens­wert und wun­der­bar gestal­tet bin. Ich weiß es genau: Wun­der­bar sind Dei­ne Werke.“

Nach dem Beten sagt er, dass es die Kam­pa­gne #OutIn­Church gibt und fügt hin­zu: „Ich bin einer davon.“

Wäh­rend des Tele­fo­nats sagt nie­mand etwas dazu. Hin­ter­her schrei­ben sie ihm Nach­rich­ten, dass sie stolz auf ihn sind. In den Tagen danach führt er lan­ge Tele­fo­na­te, er ruft Men­schen aus der Gemein­de an, spricht mit sei­ner Fami­lie. Vor den Gesprä­chen fühlt er sich wie vor einer Prü­fung: ange­spannt und nervös.

Sei­ne Kin­der freu­en sich für ihn. Mit sei­ner Frau hat er kei­nen Kon­takt mehr. Sei­ne Mut­ter sagt, wenn man sich ein­mal für ein Leben ent­schie­den habe, sol­le man dabei blei­ben, er sol­le nur mal an die Kin­der den­ken, man hän­ge sowas nicht an die gro­ße Glo­cke. Das ist mil­de im Ver­gleich dazu, dass sie vor vie­len Jah­ren sag­te, dass er schwul ist, wer­de sie nicht überleben.

Joa­chim Speck lei­det sein Leben lang dar­un­ter, dass er zu wenig Zuspruch von sei­nen Eltern bekommt. Er sieht dar­in den Ursprung sei­ner Angst-Kar­rie­re, wie er sein Leben rück­bli­ckend bezeichnet.

Immer mal wie­der hört er den Satz, hete­ro­se­xu­el­le Men­schen wür­den ja auch nicht her­um­lau­fen und allen erzäh­len, auf wen sie ste­hen. Speck reagiert da gelas­sen, er sagt dann, Hete­ro­se­xu­el­le wer­den schließ­lich nicht dis­kri­mi­niert. Eine betag­te Frau aus der Gemein­de sagt ihm, ihr sei­en Schwu­le fremd, sie sei so nicht erzo­gen wor­den. Doch die meis­ten gra­tu­lie­ren ihm.

Der Wunsch nach einem Seelenverwandten

In sei­ner ers­ten Pre­digt nach sei­nem Coming-out tritt er vor die Gemein­de und erzählt von #OutIn­Church. „Der Kam­pa­gne habe ich mich mit Dank­bar­keit ange­schlos­sen“, sagt er. Seit­dem fällt es ihm leich­ter, vor der Gemein­de zu spre­chen. Sein Coming-out war für ihn ein Befrei­ungs­schlag. „Das war mein per­sön­li­ches Ostern“, sagt er.

Jetzt möch­te er dazu bei­tra­gen, dass que­e­res Leben in der Kir­che nor­mal wird. In den Gemein­den in Müns­ter tref­fe er bereits auf vie­le libe­ra­le Ver­bün­de­te. Aber der Amts­kir­che ste­he die zwei­te Koper­ni­ka­ni­sche Wen­de noch bevor, sagt er. Sie muss sei­ner Mei­nung nach end­lich aner­ken­nen, dass Homo­se­xua­li­tät kei­ne Krank­heit oder ein Defekt, son­dern natür­lich ist. Sie stig­ma­ti­sie­re in ihrem Kate­chis­mus que­e­re Men­schen und benach­tei­li­ge Frau­en, sie könn­ten nicht Dia­ko­nin­nen wer­den, obwohl es sie in der Urkir­che gege­ben habe. „Die Kir­che steht für Soli­da­ri­tät und Nächs­ten­lie­be, denkt die­se Grund­sät­ze aller­dings nicht kon­se­quent zu Ende.“

Es habe einen Teil­erfolg der Kam­pa­gne gege­ben, im Novem­ber hät­ten sich die Bischö­fe immer­hin auf ein neu­es kirch­li­ches Arbeits­recht geei­nigt. Die pri­va­te Lebens­ge­stal­tung von Mit­ar­bei­ten­den der katho­li­schen Kir­che und katho­li­schen Ver­bän­den spielt jetzt kei­ne Rol­le mehr. Den Arbeit­ge­ber hat nun nicht mehr zu inter­es­sie­ren, ob ein Pas­to­ral­re­fe­rent oder eine Erzie­he­rin offen homo­se­xu­ell lebt. Speck sagt, er freue sich ein­ge­schränkt dar­über. Bis­her sei es ein Beschluss der Deut­schen Bischofs­kon­fe­renz. Er muss aber erst noch in jedem ein­zel­nen Bis­tum umge­setzt wer­den. Außer­dem dür­fe der Beschluss nicht dar­über hin­weg­täu­schen, dass #OutIn­Church sich auch für que­e­re Men­schen ein­setzt. Deren Inter­es­sen blen­de die Kir­che wei­ter aus.

Speck fin­det es schlimm, dass die Bischö­fe im Rah­men des Reform­pro­zes­ses Syn­oda­ler Weg ein Papier über die Sexu­al­ethik schei­tern lie­ßen. Zwei der vier Weih­bi­schö­fe aus Müns­ter haben dage­gen gestimmt oder sich ent­hal­ten. Das sei nicht der Wan­del, den er sich wün­sche, sagt Speck. Laut Papier soll­ten sich zum Bei­spiel homo­se­xu­el­le Part­ner­schaf­ten „unter dem aus­drück­lich von der Kir­che zuge­spro­che­nen Segen Got­tes gestellt sehen kön­nen“. Wei­ter steht im Papier: Die Kir­che müs­se Homo­se­xua­li­tät aner­ken­nen, dies sei „drin­gend gebo­ten“. Auch der Vor­schlag, trans- und inter­ge­schlecht­li­che Men­schen im Tauf­re­gis­ter ohne Geschlechts­an­ga­be zu füh­ren, war dar­in enthalten.

Für Speck bringt die­se Reform aller­dings nicht mehr Sicher­heit, schließ­lich muss er wei­ter­hin zöli­ba­t­är leben.

Er lebt der­zeit allein, ohne Part­ner. Sei­ne Sexua­li­tät lebt er nicht mit ande­ren Män­nern aus, was auch an sei­ner fort­schrei­ten­den Krank­heit liegt. In sei­nem Alter, sagt er, gehe es ihm jetzt auch weni­ger um Sex, eher um einen See­len­ver­wand­ten, einen Part­ner, mit dem er sein Leben tei­len möch­te. „Wür­de Mr. Won­derful noch um die Ecke kom­men, wür­de ich mich für ihn ent­schei­den. Auch auf die Gefahr hin, nicht mehr Dia­kon sein zu können.“