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Speck sitzt in einer Sitzreihe in der Kirche und schaut in den Lichteinfall an der Kamera vorbei

„Das Coming-out war mein persönliches Ostern“

Ein schwuler Mann heiratet eine Frau, sie bekommen Kinder. Dann entdeckt sie seine Gay-Magazine. Doch die Heimlichkeiten gehen weiter. Er wird Diakon in einer katholischen Gemeinde. Sie wird depressiv. Erst jetzt, mit fast 60 Jahren, outet er sich öffentlich.

von Niklas Bessenbach • Lektorat: Antonia Strotmann • Fotos: Nikolaus Urban

Im Herbst 1980 steht Joachim Speck am Bahnhof, er war gerade Rudern, und wartet auf seine Mutter. Wie so oft ist sie zu spät. Er ist damals 16 Jahre alt, gelangweilt geht er in ein Zeitschriftengeschäft und guckt sich die Magazine mit den nackten Männern an. Plötzlich stellt sich ein Fremder neben ihn und schenkt ihm einen Kaugummi. Dann zieht der Mann ihn raus, in eine Häuserecke, wo sie niemand sieht. Joachim Speck könnte davonrennen, aber er lässt es zu. Danach weiß er, was er schon länger geahnt hat: Er ist schwul.

In den kommenden Tagen überlegt er, was ihm da passiert ist. Eigentlich war das eine Vergewaltigung, denkt er, nur, warum fühlte es sich dann so gut an? Er ist verwirrt.

Inzwischen liegt die Begegnung über 40 Jahre zurück. Und er weiß noch genau, wie sich in den Tagen danach sein Unbehagen in Wohlgefallen wandelte, immer mehr, bis er in sich hinein lächelte, wenn er an den Fremden dachte.

Als er noch ein Kind war, klärte ihn seine ältere Schwester auf, was schwul bedeutet. Schwul – das Wort gefiel ihm. Vielleicht traf es sogar auf ihn zu? Wenn er mit dem Bus zur Schule fuhr, die Plakate an den beiden Kinos sah, wunderte er sich darüber, dass dort immer nur Frauen erotisch posierten. Er wollte Männer sehen. Alles von ihnen.

Auf Distanz zu seinen Eltern

In seiner Jugend hofft Joachim Speck, dass er nur bisexuell ist. Er hat Angst vor seinen Eltern, denen gleichgeschlechtliche Liebe widerstrebt. Als er 1964 geboren wird, verfolgt der Staat homosexuelle Männer noch. Grundlage dafür war Paragraf 175 des Strafgesetzbuchs. Zwischen 1949 und 1969 wurden in der Bundesrepublik etwa 50.000 Männer verurteilt. Speck spricht mit niemandem über seine Homosexualität. Fühlt sich unverstanden und ausgeschlossen, wie unter einer Käseglocke.

Als Jugendlicher träumt Joachim Speck davon, Pfarrer zu werden. Er besucht gerne die Messe. Mag das Gebet, hört aufmerksam der Predigt zu. Gott stellt er sich nicht als etwas Gegenständliches vor, eher als Welle oder Firmament. Auf jeden Fall ohne Geschlecht, ohne Gesicht. Ein Schöpfer, der die Menschen machen lässt. „Ich glaube nicht, dass Gott die Menschen in Kröpfchen und Töpfchen einteilt“, sagt er.

Joachim Speck wächst in Waldesch auf, einem Dorf in der Nähe von Koblenz. Der Vater ist Verwaltungsrichter und zeichnet sich nicht dadurch aus, dass sich Kinder zu ihm hingezogen fühlen. Er zeigt erst Interesse an seinem Sohn, als der das erste Mal die FAZ in den Händen hält. Sie bleiben sich immer fremd. Die Mutter ist Hausfrau und streng zu ihren Kindern. Nicht grausam, aber strafen habe sie gekonnt, sagt Speck.

Mit Mädchen knutschen, aber kein Sex

Er studiert Jura in Freiburg. Tritt dem CDU-nahen Verband RCDS und einer schlagenden Verbindung bei. Unter Konservativen fühlt er sich wohl. Hier und da knutscht er mit Frauen. Für mehr fehlt ihm der Mut. Seine Homosexualität ignoriert er.

Dann entscheidet er sich, Landarzt zu werden, und schreibt sich für Medizin ein. Das Dörfliche, die Nähe zu den Menschen: Die Arbeit wäre der eines Priesters nicht unähnlich, denkt er, zumindest ein bisschen seelsorgerisch. „Ich war jemand, der sich gerne in Phantasiewelten bewegt hat.“ Aber er fällt durch Prüfungen, Naturwissenschaften liegen ihm nicht. Er macht mit Jura weiter.

In dieser Zeit liest er in Büchern nach, wie man sich outet. Er will seine Ängste überwinden. Endlich auch in der Wahrnehmung der anderen der werden, der er wirklich ist. Als Stichtag setzt er sich die Hochzeit seiner besten Freundin, es ist 1992, er ist 28 Jahre alt.

Sie möchte Kinder. Er denkt: Hoffentlich mit mir

Auf der Party trifft er eine Frau, er fühlt sich zu ihr hingezogen: Kurze lockige Haare, kräftige Oberschenkel, sie raucht wie er Philip Morris. Sie erzählt ihm, dass sie gerne Schreinerin geworden wäre, aber abgelehnt wurde, weil die Betriebe nur Toiletten für Männer hatten. Er könnte ihr stundenlang zuhören.

Sie habe männlich auf ihn gewirkt, sagt er. Sie ist dominant, gibt den Takt vor. Ist er vielleicht doch nicht schwul? Er hofft es so sehr. Als sie ihm erzählt, dass sie Kinder möchte, denkt er: hoffentlich mit mir. Sie besucht ihn in Göttingen, der erste Kuss.

Sie ziehen zusammen, bekommen zwei Kinder, heiraten. Der Wunsch, Pfarrer zu werden, ist so weit weg wie nie. Manchmal schleicht er sich in Zeitschriftengeschäfte und bestaunt wieder die Magazine mit den nackten Männern. Wenn niemand zu Hause ist, blättert er sie durch.

Die Familie wohnt kurz in Berlin, Speck arbeitet in verschiedenen Kanzleien. In einer dient er bloß als Unterschriften-Onkel, sagt er. Dann wechselt er in eine, die auf Familienrecht spezialisiert ist. So richtig kommt er aber nie in dieser Welt der Gerichtstermine und Gutachten und Ellenbogen an.

Er besucht in dieser Zeit regelmäßig die Messe in Sankt Konrad in Falkensee. Manchmal springt er ein, wenn nicht genug Messdiener da sind. Der Pfarrer begeistert ihn. Hört er die Predigten, hat er den Eindruck, sie wären nur für ihn. So sehr treffen sie seine Empfindung.

Seine Frau entdeckt in der Berliner Wohnung in einem Rucksack die Hefte mit den nackten Männern. Fassungslos fragt sie ihn, was das zu bedeuten habe. Er sagt ihr die Wahrheit. Allerdings nur halb, ganz entschlossen ist er nicht. Er redet sich und ihr ein, dass er nur bi sei.

Und sie ist sich gar nicht sicher, ob es überhaupt ein Seitensprung wäre, ob es für sie eine Katastrophe wäre, wenn er etwas mit einem Mann hätte. So wenig nimmt sie seine Homosexualität offenbar ernst. Am Ende des Gesprächs ist er erleichtert, dass zumindest seine Frau sein wahres Ich kennt.

Sie einigen sich darauf, eine Paartherapie zu machen, das hilft fürs Erste. Er verbietet sich, in die Magazine zu gucken. Will strenger zu sich sein, auf der Straße die Seitenblicke auf Männer unterlassen. Doch ab da fühlt er sich wie auf Bewährung.

Ein Neuanfang mit seiner Frau, vorher aufs schwule Straßenfest

Heute sagt er, er hätte schon an dem Tag die Beziehung beenden sollen, seine Identität offenlegen müssen, auch gegenüber seinen Kindern. Aber er habe sich versteckt, er sei vor sich selbst geflohen.

Sie verlassen Berlin, machen einen Neuanfang in Wittlich. Gehen zurück in die Provinz, etwa 70 Kilometer von Koblenz, seiner alten Heimat. Seine Frau zieht zuerst hin, findet eine Anstellung als Hebamme. Speck regelt letzte Angelegenheiten in einer Kanzlei, die er übernommen hatte, aber pleiteging.

Allein in Berlin besucht er ein schwules Straßenfest. Er könnte jetzt knutschen, Männer kennenlernen und ein Date ausmachen. Doch er traut sich nicht. An einem Stand kauft er eine Umhängetasche mit der Regenbogenflagge drauf. Als er nach Wittlich kommt, nimmt er sie mit.

Es dauert nicht lange, bis seine Frau die Tasche findet. Sie streiten heftig, machen einander Vorwürfe. Er muss immer wieder an ein Zitat aus einem Film denken, es ermutigt ihn: „Zu lange waren die Vorhänge geschlossen, jetzt ist es Zeit, sie zu öffnen.“

Das ist die erste Trennung.

Er nimmt sich eine Wohnung. Erst das lausige Staatsexamen, dann das Scheitern als Rechtsanwalt, jetzt die Trennung. Speck fühlt sich minderwertig. Er beschließt, unten anzufangen, und räumt Regale in einem Drogeriemarkt ein.

Speck sitzt in einer Sitzreihe in der Kirche und dreht sich zur Seite.
Joachim Speck in seiner Kirche. Nach dem Scheitern als Rechtsanwalt beschließt er, unten anzufangen. Er räumt in einem Drogeriemarkt Regale ein.

Noch ein Neuanfang, diesmal in Münster

Um seine Kinder kümmert sich nun eine Au-pair. Doch die junge Frau ist völlig überfordert. Joachim Speck nutzt das, um seiner Familie wieder näher zu kommen. Seine Frau lässt das zu. Ein halbes Jahr nach der Trennung ziehen sie wieder zusammen. Aber so richtig funktioniert die Beziehung nicht mehr. Zu viel ist unausgesprochen. Zu viel schwelt im Untergrund.

Er versucht, Kontakt zu einer queeren Gemeinde in Trier aufzubauen, die er im Internet entdeckt hat. Er muss sich überwinden, zögert immer wieder, hinzufahren, traut sich nicht anzurufen. Dann fährt er hin. Doch niemand ist da. Er probiert es nie wieder.

Seine Frau verdient das Geld für die Familie. Doch weil sie sich in Wittlich in ihrem Job nie so richtig wohl fühlt, beschließen sie 2005, nach Münster zu ziehen, wo sie als Hebamme in einem Krankenhaus anfängt. Speck arbeitet in einem Verlag. An Wochenenden steht er zudem in Warnweste auf dem Bahnsteig von Münster und hilft Gehörlosen, Menschen mit Rollstuhl und Blinden in die Züge. Er möchte nah an Menschen sein, auch im Beruf.

Als er seinen Job im Verlag verliert, wird er Bahnansager. Jetzt sitzt er in einem Kämmerlein über dem Stellwerk und sieht jeden Tag Züge ankommen und weiterfahren. An einem Tag verheddert sich eine Taube in der Oberleitung, nichts geht mehr. „Das war Highlife und Konfetti“, sagt Speck. Ständig gibt er durchs Mikrofon neue Anweisungen, nur noch die Hälfte der Gleise ist befahrbar. Für diesen Stress und solche Unvorhersehbarkeiten habe er den Job geliebt, kein Tag sei wie der andere gewesen.

Tagsüber umarmen er und seine Frau sich noch. Aber abends im Bett liegen sie wach nebeneinander und nichts passiert. Keine Berührung, keine Lust. Vor allem, weil er auf Männer steht. Doch er spürt auch erste Symptome seiner Multiplen Sklerose, die erst viel später ausbricht. Seine Libido nimmt ab. „Ich liebte sie schon“, sagt er, „aber ohne Begehren.“

Ihm fehlt der Mut. Seiner Frau auch

An einem Tag läuft er am Hügel an der Kreuzschanze vorbei, ein beliebter Treff für schwule Männer. Es ist keine Absicht, eher Zufall. In Gebüschen liegen benutzte Kondome. Er unterhält sich mit einem Mann, dann haben sie Sex. Zwar nur ein Quickie, aber es ist großartig. Jetzt spürt er, was ihm durch seine Ängste entgangen ist. Am Abend liegt er wieder neben seiner Frau.

Dann geht der Sohn, er ist da 13 Jahre alt, in den Keller und knackt das Schloss von einem alten Aktenkoffer seines Vaters, ein silberner Pilotenkoffer, er wollte ihn schon lange für die Schule haben. Vor ihm liegen etliche Magazine, muskulöse Männer, nackt, Küsse. Schockiert fragt er den Vater, was das sei, ob sie tatsächlich ihm gehören würden?

Speck ist sprachlos. Schiebt es auf die Trennungsphase, schafft es aber nicht, seinem Sohn die Wahrheit zu sagen. „Zu schissig“, sei er gewesen. Er hofft, dass der Sohn nicht alles gesehen habe. Das fragile Familienband – er will es nicht zerstören. Und nicht nur er sei feige gewesen, auch seine Frau, die ja alles gewusst habe und trotzdem einfach mit ihm weitergelebt habe wie zuvor.

Doch noch das Theologiestudium

Als sich sein Gesundheitszustand verschlechtert, wechselt er ins Beschaffungsmanagement der Deutschen Bahn. Er bestellt nun für Bahnhöfe Stühle, Hygieneartikel und Wetterschutzhäuschen.

Speck besucht regelmäßig die Messe in St. Petronilla, einer Gemeinde in Münster-Handorf. Er und seine Frau nehmen an einer Fahrt der Gemeinde nach Assisi teil. Er versteht sich gut mit der Frau, die im Liturgieausschuss arbeitet. Sie überredet ihn, bei ihrer Gruppe mitzumachen. So lernt er den Pastor immer besser kennen.

2010 fragt der Pastor ihn, ob er nicht Diakon werden möchte. In dem Amt würde er Menschen beerdigen, verheiraten, taufen. Er ist unentschlossen, er meidet sonst das Rampenlicht. Am Ende stimmt er zu.

Er muss sich vier Jahre auf die Weihe vorbereiten. Er beginnt ein Fernstudium in Theologie, zusammen mit acht anderen Männern. Eine seiner Lieblingsstellen wird der Hauptmann von Kafarnaum, im Matthäusevangelium 8,5-13. Ein Hauptmann bittet Jesus, seinen kranken Knecht zu heilen. Speck mag sie, weil sie ausdrückt, dass Gott jeden Menschen annimmt, „ohne zu bewerten, wie beladen und mit welchem Gepäck einer unterwegs ist“. Er mag sie aber noch aus einem anderen Grund: „Der Hauptmann hatte wohl eine besonders enge Beziehung zu seinem Knecht“, sagt Speck.

Eigentlich will die Kirche Menschen wie ihn nicht

Durch seine Vorbereitung auf das Kirchenamt entfremden sich Speck und seine Frau. War früher alles auf den Schichtdienst seiner Frau ausgerichtet, muss er nun für Prüfungen lernen und hat daher weniger Zeit, sich für die Familie einzusetzen.

2014 werden er und sechs weitere Männer geweiht. Als er vor dem Bischof steht und die Weihe empfängt, überlegt er, dass er eigentlich schwul ist und dass die Kirche, Menschen wie ihn streng genommen nicht haben will. Sie verurteilt Homosexualität als Sünde, schwule Männer dürfen nicht Priester werden, ihre Lage verhindere, dass sie „korrekte Beziehungen zu Männern und Frauen aufbauen“. Speck genießt die Zeremonie trotzdem. Sein kleines Geheimnis amüsiert ihn.

Er zögert den Moment lange heraus, erst 2019 outet er sich vor seiner Tochter. Warum erst jetzt, kann er nicht genau erklären. Sie sagt, sie müsste ihren Vater jetzt ganz neu kennenlernen.

Seine Frau fühlt sich immer unglücklicher in der Beziehung, sie wird depressiv, für eine Zeit nimmt sie sich eine Wohnung. Living apart together nennt sie das Konzept. Aber es funktioniert nicht. Sie trennt sich von ihm.

Am 24. Januar 2022 sitzt Joachim Speck im Homeoffice. Er kümmert sich gerade um Angelegenheiten einer Baustelle für die Deutsche Bahn, als er sieht, dass sich unter dem Schlagwort „Out in Church“ hunderte von queeren Menschen, die für die Kirche arbeiten, geoutet haben. Er liest ihr Manifest im Internet, schaut sich am Abend die Doku darüber an. Es überrascht ihn, wie viele aus Münster dabei sind. Er denkt, dass das trotzdem nur ein kleiner Teil ist, viele queere Menschen noch Angst vor Kündigungen oder sogar Ausschluss aus der Kirche haben. Er denkt, dass er jetzt fast 60 Jahre alt ist und viel zu lange geschwiegen hat. „Der rote Faden meines Lebens waren Ohnmacht und Angst“, sagt er.

Noch am selben Tag meldet er sich auf der Website der Kampagne an. Er füllt einen Fragebogen aus und lädt ein Foto hoch. Als nach zwei Wochen sein Profil noch immer nicht online ist, wird er ungeduldig. Dann sieht er endlich schwarz auf weiß, dass seine Geschichte in den Sozialen Medien geteilt wird, und fühlt er eine große Befreiung.

Das Bistum Münster verschickt kurz nach der Veröffentlichung der Kampagne eine Pressemitteilung raus, in der der Bischof Felix Genn seine Sympathie für die Bewegung kundtut.

Speck sitzt in einer Sitzreihe in der Kirche und schaut in die Kamera
„Die Kirche steht für Solidarität und Nächstenliebe, denkt diese Grundsätze allerdings nicht konsequent zu Ende”: Joachim Speck hat irgendwann seine eigenen Schlüsse gezogen.

Outing im Weihekurs, dann in der Gemeinde

Am Tag nach der Veröffentlichung der Kampagne trifft er sich mit seinen Mitbrüdern aus dem Weihekurs zum Videotelefonat, jeden Abend beten sie gemeinsam. Joachim Speck trägt den Psalm 139 vor. Eine Stelle ist ihm besonders wichtig: „Ich danke Dir, dass ich so staunenswert und wunderbar gestaltet bin. Ich weiß es genau: Wunderbar sind Deine Werke.“

Nach dem Beten sagt er, dass es die Kampagne #OutInChurch gibt und fügt hinzu: „Ich bin einer davon.“

Während des Telefonats sagt niemand etwas dazu. Hinterher schreiben sie ihm Nachrichten, dass sie stolz auf ihn sind. In den Tagen danach führt er lange Telefonate, er ruft Menschen aus der Gemeinde an, spricht mit seiner Familie. Vor den Gesprächen fühlt er sich wie vor einer Prüfung: angespannt und nervös.

Seine Kinder freuen sich für ihn. Mit seiner Frau hat er keinen Kontakt mehr. Seine Mutter sagt, wenn man sich einmal für ein Leben entschieden habe, solle man dabei bleiben, er solle nur mal an die Kinder denken, man hänge sowas nicht an die große Glocke. Das ist milde im Vergleich dazu, dass sie vor vielen Jahren sagte, dass er schwul ist, werde sie nicht überleben.

Joachim Speck leidet sein Leben lang darunter, dass er zu wenig Zuspruch von seinen Eltern bekommt. Er sieht darin den Ursprung seiner Angst-Karriere, wie er sein Leben rückblickend bezeichnet.

Immer mal wieder hört er den Satz, heterosexuelle Menschen würden ja auch nicht herumlaufen und allen erzählen, auf wen sie stehen. Speck reagiert da gelassen, er sagt dann, Heterosexuelle werden schließlich nicht diskriminiert. Eine betagte Frau aus der Gemeinde sagt ihm, ihr seien Schwule fremd, sie sei so nicht erzogen worden. Doch die meisten gratulieren ihm.

Der Wunsch nach einem Seelenverwandten

In seiner ersten Predigt nach seinem Coming-out tritt er vor die Gemeinde und erzählt von #OutInChurch. „Der Kampagne habe ich mich mit Dankbarkeit angeschlossen“, sagt er. Seitdem fällt es ihm leichter, vor der Gemeinde zu sprechen. Sein Coming-out war für ihn ein Befreiungsschlag. „Das war mein persönliches Ostern“, sagt er.

Jetzt möchte er dazu beitragen, dass queeres Leben in der Kirche normal wird. In den Gemeinden in Münster treffe er bereits auf viele liberale Verbündete. Aber der Amtskirche stehe die zweite Kopernikanische Wende noch bevor, sagt er. Sie muss seiner Meinung nach endlich anerkennen, dass Homosexualität keine Krankheit oder ein Defekt, sondern natürlich ist. Sie stigmatisiere in ihrem Katechismus queere Menschen und benachteilige Frauen, sie könnten nicht Diakoninnen werden, obwohl es sie in der Urkirche gegeben habe. „Die Kirche steht für Solidarität und Nächstenliebe, denkt diese Grundsätze allerdings nicht konsequent zu Ende.“

Es habe einen Teilerfolg der Kampagne gegeben, im November hätten sich die Bischöfe immerhin auf ein neues kirchliches Arbeitsrecht geeinigt. Die private Lebensgestaltung von Mitarbeitenden der katholischen Kirche und katholischen Verbänden spielt jetzt keine Rolle mehr. Den Arbeitgeber hat nun nicht mehr zu interessieren, ob ein Pastoralreferent oder eine Erzieherin offen homosexuell lebt. Speck sagt, er freue sich eingeschränkt darüber. Bisher sei es ein Beschluss der Deutschen Bischofskonferenz. Er muss aber erst noch in jedem einzelnen Bistum umgesetzt werden. Außerdem dürfe der Beschluss nicht darüber hinwegtäuschen, dass #OutInChurch sich auch für queere Menschen einsetzt. Deren Interessen blende die Kirche weiter aus.

Speck findet es schlimm, dass die Bischöfe im Rahmen des Reformprozesses Synodaler Weg ein Papier über die Sexualethik scheitern ließen. Zwei der vier Weihbischöfe aus Münster haben dagegen gestimmt oder sich enthalten. Das sei nicht der Wandel, den er sich wünsche, sagt Speck. Laut Papier sollten sich zum Beispiel homosexuelle Partnerschaften „unter dem ausdrücklich von der Kirche zugesprochenen Segen Gottes gestellt sehen können“. Weiter steht im Papier: Die Kirche müsse Homosexualität anerkennen, dies sei „dringend geboten“. Auch der Vorschlag, trans- und intergeschlechtliche Menschen im Taufregister ohne Geschlechtsangabe zu führen, war darin enthalten.

Für Speck bringt diese Reform allerdings nicht mehr Sicherheit, schließlich muss er weiterhin zölibatär leben.

Er lebt derzeit allein, ohne Partner. Seine Sexualität lebt er nicht mit anderen Männern aus, was auch an seiner fortschreitenden Krankheit liegt. In seinem Alter, sagt er, gehe es ihm jetzt auch weniger um Sex, eher um einen Seelenverwandten, einen Partner, mit dem er sein Leben teilen möchte. „Würde Mr. Wonderful noch um die Ecke kommen, würde ich mich für ihn entscheiden. Auch auf die Gefahr hin, nicht mehr Diakon sein zu können.“