Eine Rolex, acht iPhones, ein Haufen Goldschmuck

Immer höhe­re Strom- und Gas­rech­nun­gen, die Lebens­mit­tel­prei­se explo­die­ren: Wenn es dem Land schlecht geht, spü­ren das zuerst die Pfand­häu­ser. Ein Besuch im Leih­haus Müns­ter an der Hafenstraße.

TEXT: DAVID HOLZAPFEL
TITELFOTO: NIKOLAUS URBAN
LEKTORAT: ANTONIA STROTMANN

In einem Hin­ter­zim­mer an der Hafen­stra­ße 23, unter dem küh­len Licht von Neon­röh­ren, lagern in Rega­len aus Holz die Besitz­tü­mer vie­ler Men­schen. Fein säu­ber­lich beschrif­tet lie­gen da dut­zen­de Spie­gel­re­flex­ka­me­ras, Laut­spre­cher, iPads, auch ein Akkor­de­on. An der Stirn­sei­te des Rau­mes wacht ein schwe­rer Tre­sor über Gold­schmuck und Uhren, die seit Mona­ten nie­mand getra­gen hat.

Hin­ter jedem die­ser Gegen­stän­de steckt eine Geschich­te, und weil das hier ein Pfand­leih­haus ist, hat sie sel­ten ein gutes Ende.

An einem Mitt­woch Ende Okto­ber steht Juli­an Oer hin­ter dem Tre­sen aus gepress­tem Holz und ver­gräbt die Hän­de in den Jacken­ta­schen. Bald wird er 34, er ist ein Mann mit wachen Augen, der immer kurz über­legt, bevor er etwas sagt. 

Es ist kurz nach 10 Uhr, gera­de hat er den Laden auf­ge­sperrt. Jetzt war­tet er auf den Ansturm. 

„Es kom­men so vie­le Men­schen zu uns wie nie“: Juli­an Oer an sei­nem Com­pu­ter im Leihaus.

Das Ende eines Monats bedeu­tet für vie­le Men­schen neu­es Gehalt. Eigent­lich wer­den am Monats­en­de vie­le Gegen­stän­de aus­ge­löst. Statt­des­sen haben viel mehr Men­schen Din­ge gebracht als sonst. Durch die Kri­se ändert sich gera­de vieles.

Die Menschen brauchen Geld für Lebensmittel, Strom, Schulbücher

Die Infla­ti­ons­ra­te in Deutsch­land ist zwei­stel­lig. Lebens­mit­tel kos­ten so viel wie nie, auch die Strom- und Gas­rech­nun­gen schie­ßen in die Höhe. Das Leben ist teu­er geworden.

Immer öfter ste­hen sie jetzt am Tre­sen von Juli­an Oer: Die Rent­ne­rin, die ihre Gold­ket­te abgibt, um die Tier­arzt­rech­nung für ihre Kat­ze bezah­len zu kön­nen. Da ist der Vater, der sein iPho­ne ver­pfän­det, weil daheim sonst der Strom abge­stellt wird, die Mut­ter, die Geld braucht für Lebens­mit­tel oder Schul­bü­cher. Juli­an Oer sagt: „Es kom­men so vie­le Men­schen zu uns wie nie.“

Das Leih­haus Müns­ter ist ein unschein­ba­res Haus in einer unschein­ba­ren Gegend aus Glas und Beton. Vor der Tür rol­len Autos trä­ge im Berufs­ver­kehr. Es gibt kei­ne blin­ken­den Schil­der, die auf das Geschäft hin­wei­sen. Wer ein Pfand­leih­haus besucht, schätzt Diskretion.

Das Leih­haus an der Hafen­stra­ße. Juli­an Oer hat es von sei­nem Vater übernommen. 

Die Ein­gangs­tür öff­net sich und ein Paar schlurft her­ein. Mann und Frau, sei­ne Hand umklam­mert ihre. Eine kugel­si­che­re Schei­be trennt sie von Oer. „Wir brau­chen Geld“, sagt der Mann, sei­ne Stim­me klingt hei­ser. Unru­hig wan­dert sein Blick im Raum umher. Nur für einen Moment schaut er dem Pfand­lei­her direkt ins Gesicht.

„Was haben Sie für mich?“, fragt Oer. Ein Reiß­ver­schluss surrt, die Frau zieht einen klei­nen Beu­tel aus Samt aus ihrer Hand­ta­sche. „Kann ich 200 Euro haben, bit­te?“, fragt der Mann. „Jetzt schaue ich mir das erst ein­mal an“, sagt Oer mit der küh­len Pro­fes­sio­na­li­tät eines Bankberaters.

Die Pfandleihe ist oft ein Familiengeschäft

Der Pfand­ver­leih ist das zweit­äl­tes­te Gewer­be der Welt. Es gilt als Vor­läu­fer des Bank­ge­schäfts. Ver­ein­facht zusam­men­ge­fasst ver­dient Oer sein Geld damit, es ande­ren als Pfand für Gegen­stän­de wie Uhren, Autos oder Han­dys zu lei­hen und für das ver­lie­he­ne Geld Zin­sen zu ver­lan­gen. Bei ihm sind das rund vier Pro­zent. Für Autos kommt noch eine Stand­ge­bühr hin­zu. Oer beleiht fast alles: Schmuck, Elek­tro­nik, Werk­zeug, sogar Boo­te. Den Eigentümer:innen gibt er dafür einen Teil der Sum­me, die die Din­ge wert sind.

Wenn Oers Kund:innen es nicht schaf­fen, ihre Gegen­stän­de zurück­zu­kau­fen, ver­stei­gert er sie, meist nach einem hal­ben Jahr. Macht er dabei Gewinn, geht die­ser an den Kun­den, nimmt er zu wenig ein, trägt er den Verlust.

Leih­haus­be­sit­zer, das wer­de man nicht ein­fach so, erzählt Oer spä­ter in sei­nem Büro. Kin­der sagen: Wenn ich groß bin, will ich zum Mond flie­gen oder Feu­er löschen. Kin­der sagen nicht: Ich will spä­ter ein­mal Geld ver­lei­hen. Eine Aus­bil­dung zum Pfand­lei­her gibt es in Deutsch­land nicht. Auch Oer kam über Umwe­ge an die Hafen­stra­ße 23. Er mach­te eine kauf­män­ni­sche Aus­bil­dung, und wie bei vie­len Pfand­ver­lei­hern war es schließ­lich die Fami­lie, die ihn ins Geschäft brachte. 

Belie­he­ne Gegen­stän­de in den Lager­re­ga­len: Vor zehn Jah­ren, mit 24, stieg Juli­an Oer in das Leih­haus­ge­schäft ein.

Sein Vater besaß schon ein Pfand­haus in Hamm, Anfang der 90er-Jah­re kauf­te er das Leih­haus in Müns­ter dazu. Im Jahr 2013, mit 24 Jah­ren, stieg Juli­an Oer in das Geschäft ein.

Die Zin­sen in einem Pfand­haus sind hoch, den Kun­den bie­tet der Ver­leih aber einen ent­schei­den­den Vor­teil: Wo eine Bank eine Schufa-Aus­kunft oder einen Gehalts­nach­weis haben will, ist Oer die Kre­dit­wür­dig­keit egal. Er will nur einen Aus­weis sehen, dann gibt es schnel­les Geld. Und vor allem: kei­ne Fragen.

Manch­mal erzäh­len Kund:innen trotz­dem. Weil sie jeman­dem zum Reden brau­chen, weil ihnen ihr Besuch pein­lich ist oder sie sich erklä­ren wol­len. Sie erzäh­len dann von ihrer Spiel­sucht und davon, dass sie mit dem gelie­he­nen Geld gleich Glück haben wer­den. Oder sie reden von ihren Enkeln, denen sie zu Weih­nach­ten ein klei­nes Geschenk kau­fen wol­len. Ein­mal stand ein Dro­gen­ab­hän­gi­ger im Laden und woll­te sei­ne Kopf­hö­rer zu Geld machen. Als Oer ablehn­te und sag­te, er kön­ne sie aus hygie­ni­schen Grün­den nicht anneh­men, zog der Mann aus Ver­zweif­lung sei­ne Schu­he aus und bot sie ihm an.

Rentner:innen, Stu­die­ren­de, Selbst­stän­di­ge, Men­schen aller Alters­grup­pen und mit ver­schie­dens­ten Beru­fen, sie alle kämen ins Leih­haus Müns­ter. „Den typi­schen Kun­den gibt es nicht“, sagt Oer. Mit der Kri­se aber ver­än­de­re sich das. Der Pfand­lei­her schätzt, dass er schon jetzt 15 Pro­zent mehr Kund:innen hat, als frü­her. Nun sei­en es immer mehr Men­schen aus dem Mit­tel­stand, die vor ihm am Tre­sen stehen. 

Die­ses Phä­no­men erle­ben Pfand­häu­ser gera­de bun­des­weit. Dabei hat­te der Zen­tral­ver­band des deut­schen Pfand­kre­dit­ge­wer­bes noch im ver­gan­ge­nen Jahr geklagt, die Coro­na­pan­de­mie und der zurück­hal­ten­de Kon­sum der Men­schen hät­ten sich nega­tiv aufs Pfand­haus­ge­schäft aus­ge­wirkt. Die aktu­el­le Kri­se macht das Ver­pfän­den wie­der attrak­tiv. Und für vie­le unvermeidlich.

180 Euro für die Eheringe

Vor Oer lie­gen jetzt zwei Rin­ge auf dem Tre­sen. Der Mann tip­pelt von einem Fuß auf den ande­ren, wäh­rend Oer sich die Rin­ge vors Gesicht hält und sie sehr genau betrach­tet. Ver­sil­ber­tes Besteck, fal­sche iPho­nes mit klapp­ri­gen Knöp­fen, Dia­man­ten aus dem Labor: Die Betrü­ger wer­den immer geschick­ter, weiß Oer. Bei Gold ver­lässt er sich auf Prüf­säu­ren, bei Elek­tro­nik und ande­rem auf sei­ne Erfah­rung. Sieht er nicht genau hin, ver­brennt er sein Geld. 

Mit den Rin­gen ist Oer zufrie­den. Er stellt sich an den Com­pu­ter im Eck und tippt in das EDV-Sys­tem: Rosé­gold, 14 Karat, sie­ben Gramm schwer. 

„180 Euro kann ich dafür geben“, sagt Oer, an das Paar gewandt. Der Mann fixiert einen Punkt an der Wand hin­ter dem Pfand­lei­her. „So wenig?“ Er über­legt, mur­melt etwas in Rich­tung sei­ner Frau, dann sagt er: „Okay.“

Die Rin­ge fal­len in eine Plas­tik­tü­te und wer­den mit einer fünf­stel­li­gen Num­mer ver­se­hen. Dann ver­schwin­den die Zei­chen einer Lie­be im Lager. Ein hal­bes Jahr hat das Paar nun Zeit, sei­ne Ehe­rin­ge auszulösen.

Das Ehe­paar ver­schwin­det in die Herbst­son­ne. Als die Tür geschlos­sen ist, zieht Oer an einer Marl­bo­ro Gold, bläst den Rauch aus und sagt: „Die Schick­sa­le kannst du nicht alle an dich heranlassen.“ 

Ein Pfand­lei­her, der zu kulant ist, müs­se schnell sel­ber ins Pfand­haus. Manch­mal aber macht Oer eine Aus­nah­me. Wenn ihm ein Mensch sym­pa­thisch oder ein zuver­läs­si­ger Stamm­kun­de ist zum Bei­spiel. Dann gibt er auch ein­mal mehr als üblich.

Um 18 Uhr endet der Arbeits­tag des Pfand­lei­hers Juli­an Oer. Eine Rolex, acht iPho­nes, ein Hau­fen Gold­schmuck: So lau­tet die Bilanz des Tages. „Es ist unty­pisch, dass die Men­schen am Monats­en­de so viel brin­gen“, sagt Oer. „Gera­de ver­än­dert sich alles.“