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Ein Geflüchteter aus dem Iran

Lieber tot als zurück

Ein junger Mann möchte leben. In seiner iranischen Heimat ist das nicht möglich. Woanders auch nicht. Am Ende versucht er, sich umzubringen – obwohl er nicht sterben möchte. Die Geschichte eines Menschen, der nie nach Deutschland wollte.

von Andreas Holzapfel • Redaktion: Constanze Busch und Ralf Heimann • Fotos: Laura Schenk

Warnhinweis

In diesem Text werden ein Suizidversuch und selbstverletzende Handlungen, Kriegshandlungen, Gewalt, Flucht und Abschiebung sowie ein Hungerstreik geschildert. Bei manchen Menschen können diese Themen negative Reaktionen auslösen. Bitte seien Sie achtsam, wenn das bei Ihnen der Fall ist.


Shaky kramt die Schachtel Beruhigungstabletten aus der Hosentasche. Er sitzt auf den Fliesen zwischen der Toilette und dem Waschbecken, die Tür hat er abgeschlossen. Er drückt ein paar Pillen aus der Verpackung und wirft sie sich in den Mund. Dann nimmt er das Messer. Als er fertig ist, steckt er sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Er sitzt da und raucht. Er wartet. Irgendwann verliert er das Bewusstsein.

Als Shaky vier Tage später aufwacht, vielleicht waren es auch fünf, so genau weiß er das nicht mehr, liegt er im Krankenhaus. Die Bilder im Kopf verschwimmen, nur das ganze Blut hat er vor Augen. Er will seinem Bruder eine Nachricht schreiben. Er schickt sie jemand anderem. Es ist alles noch trüb. Aber zum ersten Mal ist da dieses Gefühl: Ich bin sicher.

So erzählt er die Geschichte, heute, knapp zwei Jahre später.

Zwei Mal, sagt Shaky, habe er sich beinahe umgebracht. Einmal mit dem Messer. Einmal mit Tabletten. Er sagt: Er wollte nie sterben. Er wollte nur bleiben. Aber dafür habe er riskieren müssen, zu sterben. Wer labil ist, darf nicht abgeschoben werden. „Für mich war alles total klar: Entweder ich lebe hier. Oder ich sterbe. Aber ich lasse nicht zu, dass sie mir mein Leben nehmen.“

Für ein Leben in Frieden müssen Geflüchtete oft den Tod riskieren. Auf der Flucht, aber auch vor der Abschiebung. Viele sterben lieber, als in ihrer Heimat zu leben. In den fünf Jahren zwischen 2015 und 2019 hat es in Deutschland mindestens 1.792 Suizidversuche und Selbstverletzungen gegeben, dokumentiert der Verein „Antirassistische Initiative“ (Ari). Mindestens 134 Geflüchtete haben sich umgebracht oder sind auf der Flucht vor der Abschiebung gestorben.

„Etwa alle zwei Monate geht jemand ans Fenster“

Wahrscheinlich sind es noch viel mehr. Die Ari, die in Berlin sitzt und sich gegen Rassismus einsetzt, dokumentiert nur jene Fälle, die jeweils von zwei verschiedenen Quellen berichtet worden sind. Offiziell werden sie nur in wenigen Bundesländern erfasst, etwa in Hamburg oder Bayern. Aber genau dort gebe es überproportional viele Fälle. Viele Schicksale bleiben jedoch hinter den Mauern der Heime, so auch in Nordrhein-Westfalen.

Nur wenige Fälle werden bekannt. Das letzte Mal löste der Tod des 23-jährigen Jamal Nasser M. Empörung über die Abschiebepraxis der Bundesrepublik aus. M. war einer der von Innenminister Horst Seehofer stolz verkündeten 69 Afghanen, die 2018 aus Deutschland abgeschoben wurden. Schon vor der Abschiebung versuchte er, der acht Jahre lang in Hamburg lebte, sich das Leben zu nehmen. Wenige Tage später gelang es ihm in Kabul.

M. ist nur einer von Hunderten.

Auch in Münster gibt es das, sagt ein Krankenpfleger eines Flüchtlingsheimes, der unerkannt bleiben möchte. Er arbeitet seit etwa eineinhalb Jahren dort, bald hört er auf. „Ich will den Menschen ja helfen“, sagt er, „aber ich ertrage das nicht mehr.“ Viele der Geflüchteten seien traumatisiert, sie lebten auf engstem Raum, zusammen mit Fremden, immer in der Angst, dass sie wieder zurück müssten, obwohl sie nicht zurück könnten. „Etwa alle zwei Monate geht jemand ans Fenster oder schneidet sich die Pulsadern auf, weil er nicht mehr kann.“ Gestorben sei in dem Heim noch keiner, sagt er. „Zum Glück.“

An einem Tag Ende August, nicht weit vom Dortmund-Ems-Kanal, spiegeln sich die Sonnenstrahlen im Wasserfilm auf dem Trittstein. Shaky öffnet die Haustür. In der Küche entschuldigt er sich für die Unordnung – ein paar Teller stehen in der Spüle –, sein Vater habe ihn gerade weinend angerufen: Sein Onkel sei gestorben. Im Wohnzimmer schenkt er Tee ein und lässt einen Löffel Zucker in seinen rieseln, dann beginnt er zu erzählen.

Ein Geflüchteter aus dem Iran in seinem Zimmer
Ein Geflüchteter aus dem Iran in seinem Zimmer. Im Vordergrund Sticker. Foto: Laura Schenk

„Die meisten Haare habe ich in Deutschland verloren.“

Viele Stunden, über drei Tage, wird Shaky von seinem Leben erzählen, davon, zurückzumüssen, zurückzuwollen, aber nicht zurückzukönnen. Sein Schicksal ist auch eine Geschichte über sogenannte sichere Herkunftsstaaten, die eben nicht sicher sind, und EU-Staaten, die Geflüchtete schlagen oder ins Gefängnis stecken lassen, um sie loszuwerden. Shaky hat sich den Platz, den das System für ihn nicht finden wollte, einfach genommen. Die Narben aber sind geblieben, auf der Haut und darunter.

Shaky trägt eine beige Stoffhose und ein weißes Unterhemd, eine silberne Kette um den Hals, an den Füßen schlabbern ausgelatschte Flip-Flops. Er hat kräftige Schultern, eine knubbelige Nase und buschige Augenbrauen, seine Stirn ragt ein wenig über die Augen. Geheimratsecken haben sich in sein raspelkurzes Haar gefressen.

Er zeigt ein Foto: Vor zehn Jahren wuchs da, wo noch Stoppel oder keine mehr sind, eine dunkelbraune Mähne, mit der er für Haarpflegeprodukte hätte werben können. „Stress“, sagt Shaky und zieht die Augenbrauen hoch, so wie er es immer macht, wenn er etwas betonen möchte. Er ist in seinem Leben oft weggerannt, vor schießenden Soldaten, vor fallenden Bomben, hat sich aus der sektenartigen Organisation der Volksmudschahedin befreit, seine Eltern seit 18 Jahren nicht umarmt. Und dennoch sagt er, der erst seit zwei Jahren hier ist: „Die meisten Haare habe ich in Deutschland verloren.“

Shaky, die Kurzform von Shakiba, ist nicht sein richtiger Name. Den Namen „Shakiba“ hat er sich selbst gegeben, als er sich entschloss, vor der Sekte zu fliehen, so sagt er. „Shakiba“ ist persisch und bedeutet „geduldig“. Er habe gewusst, er müsse geduldig sein, um all das, was noch kommen würde, durchzustehen.

Shakys richtigen Namen kennt nur, wer ihn kennen darf. Er fürchtet sich vor der Ausländerbehörde, vor der Sekte, von der er sich losgerissen hat, und vor dem iranischen Geheimdienst, der die Volksmudschahedin bekämpft und Abtrünnige zur Mitarbeit zwingt, sie foltert oder tötet. Daher: keine genauen Orte, keine richtigen Namen, nichts, was ihn verraten könnte.

Bescheide, Bescheide über Bescheide

Im Wohnzimmer steht ein speckiges Ledersofa in der Ecke, von der Decke hängt eine Schaukel aus weißem Leinenstoff, an den Wänden Regale mit Büchern, dazwischen getuschte Bilder in bunten Farben. Shaky schlägt eine dicke, blaue Kladde auf, darin Briefe, Schreiben, Dokumente, negative Bescheide, positive Bescheide, Bescheide über Bescheide. Er blättert sich durch den Stapel und grinst. „Ich bin seit zwei Jahren in Deutschland“, sagt er, „aber ich habe schon drei Kilo Papier.“

Shaky hat sein Leben in der Kladde abgeheftet. Manche Papiere stecken in gelben Briefumschlägen, eines in Klarsichtfolie: der positive Asyl-Bescheid. Die Kladde hilft, den Weg von Shaky nachzuzeichnen, genauso wie Fotos, Videos, der Flüchtlingsausweis aus den USA, jener von den Vereinten Nationen und seine zwei Narben am Arm. Die vielen Dokumente haben möglicherweise sein Leben gerettet. Ein Freund, der einen ähnlichen Weg gegangen sei wie er, habe kein Asyl bekommen. Er habe die Dokumente auf der Flucht verloren.

Trotz der drei Kilo Papier lassen sich nicht alle Teile von Shakys Geschichte nachprüfen. Manche beruhen einzig auf seiner Erzählung. Auch die beginnt mit einem Stück Papier, mit einem Brief, den er seinen Eltern hinterlässt.

Eines Nachts, Shaky hat gerade seinen Schulabschluss gemacht, schultert er seinen Rucksack, darin ein paar Klamotten, etwas zu essen, eine Flasche Wasser und eine Taschenlampe, und schließt die Tür seines Elternhauses zum letzten Mal. Gemeinsam mit zwei Freunden macht er sich auf den Weg. Ihr Ziel: Camp Ashraf, Hauptquartier der iranischen Volksmudschahedin, in dem 3.500 Mitglieder leben, es liegt im Irak, unweit der Grenze zum Iran.

Er hatte Glück. Hatte er Glück?

Die Volksmudschahedin (MEK) sind die vielleicht stärkste Oppositionsbewegung im Iran. Sie wollen, so sagen sie, das islamische Regime stürzen und einen demokratischen Staat nach marxistischem Vorbild errichten. 1979 hatten sie zusammen mit Ajatollah Chomeini das Regime des Schahs gestürzt, sich dann aber mit dem neuen Machthaber überworfen. Die Anhänger der Volksmudschahedin wurden gefoltert und getötet, sprengten Gebäude der Regierung und erschossen Mitglieder. Sie gingen in den Irak ins Exil und kämpften mit Saddam Hussein gegen das Regime; ihre Ideologie wurde immer mehr zum Personenkult um die exilierten Führer. 2007 beschloss der Europäische Rat einstimmig, die Volksmudschahedin weiter als Terrororganisation zu behandeln und ihr eingefrorenes Vermögen nicht freizugeben. Zwei Jahre später strich er sie dann aber nach einem jahrelangen Rechtsstreit von der Liste der terroristischen Organisationen.

Bis zu seinem Aufbruch lebt Shaky ein gutes Leben. Er wächst in Schiras auf, einer Stadt mit etwa eineinhalb Millionen Einwohner:innen im Süden Irans. Seine Familie ist weder reich noch arm, aber gebildet. Seine Nachbarn aber haben nicht viel mehr als eine kleine Wohnung und großen Hunger. Ihnen bringt er öfter Obst und Gemüse. Auf der Straße sieht er, wie Kinder im Müll wühlen und sich Essensreste in den Mund stopfen, hört, dass Männer ihre Frauen vergewaltigen dürfen, liest, dass Männer und Frauen, die ihre Meinung sagen oder gleichgeschlechtliche Partner:innen lieben, bis zum Hals vergraben gesteinigt werden. All das erschüttert ihn und weckt seinen Zorn gegen das Regime.

Shaky und seine Freunde wissen nicht viel über die Organisation MEK, aber was sie wissen, finden sie gut. Ihren Eltern verraten sie nichts. Mitglieder der Volksmudschahedin werden im Iran gefoltert und getötet, auch ihre Angehörigen werden bestraft.

Die Odyssee beginnt.

Sie sind noch nicht lange dabei, da fallen im Jahr 2003 die Amerikaner in den Irak ein, sie besetzen das Camp und entwaffnen die Kämpfer. Sie sind gut zu ihnen, aber auch bald wieder weg. Die irakische Regierung soll die MEK schützen. Dafür kassiert sie zwar Gelder von den Vereinten Nationen, doch der Schutz bleibt aus. Immer wieder wird das Camp angegriffen, von irakischen Soldaten, aber auch von iranischen Paramilitärs. Mit Gewehren, Raketen und Mörsern.

Als Shaky davon spricht, steht er plötzlich auf und holt den Laptop aus seinem Zimmer. Er öffnet Youtube, klickt Videos an: Kampfjets schmeißen Bomben auf ein Camp, Soldaten jagen Menschen und schießen auf sie, Männer liegen gefesselt am Boden, mit einem Loch im Kopf. Shaky zeigt mit dem Finger auf den Bildschirm. „Die waren gefesselt und trotzdem…“ Er steht auf, schüttelt den Kopf und wedelt mit dem Zeigefinger, dann öffnet er die Tür zum Balkon. Er zündet sich eine Zigarette an und zieht kräftig daran, dann dreht er sich wieder in Richtung Laptop. Sieht die Bomben, sieht, wie die Menschen rennen, sieht, wie sie fallen. Er wendet sich ab. Der Qualm umschließt ihn. Er hatte Glück. Hatte er Glück?

„Ein Freund. Auch tot.“

Nach der Zigarette setzt er sich wieder. Er stützt seinen Ellbogen auf den Tisch, legt sein Kinn auf die Handinnenfläche und verbirgt seinen Mund hinter der Faust. Er zeigt mit dem Finger auf eine Leiche, dann fährt er mit dem Cursor über sie. „Das war mein ehemaliger Kommandant“, sagt er. Im Hintergrund läuft ein trauriges Lied. „Ein Freund. Auch tot.“ Zwischen den Kriegsszenen blendet das Video Fotos von Opfern ein. „Den habe ich gekannt.“ Er schluckt. Ein paar Bilder weiter. „Den auch. Ein guter Mann.“ Seine Augen werden feucht, seine Nase und Wangen erröten, die verästelnden Blutgefäße scheinen durch, er lässt die Hände auf den Tisch fallen. „Kannst du dir das vorstellen?“

Bis zum Jahr 2013 sterben im Camp über einhundert Volksmudschahedin, viele mehr werden verletzt. Die Bewohner gelten nicht mehr als Terroristen, sondern als Flüchtlinge, verfolgt von iranischen sowie irakischen Akteuren, anerkannt nach der Genfer Konvention. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) will sie außer Landes bringen. Doch es findet sich lange niemand, der alle 3.000 Bewohner aufnehmen will. Die Führer der MEK wollen sie zusammen halten. Erst im September 2016 kommen die letzten Flüchtlinge, darunter auch Shaky, nach Albanien.

Für Shaky sind die MEK längst zum Gefängnis geworden. Von Freiheit und Demokratie, für die er kämpfen wollte, kann er hier nur träumen. Frauen und Männer leben getrennt voneinander, an Sex dürfen sie nicht mal denken. Sie dürfen sich nicht mit nur einem Freund unterhalten, alles muss in der Gruppe passieren. Wer zweifelt und kritisiert, wird geächtet. In den Versammlungen müssen sie in die Mitte treten und sich vor allen anderen selbst geißeln. Report ablegen, so heißt das. Shaky steht dann da und schreit sich selbst an, dass er an Sex gedacht habe, dass er sich nach Freiheit sehne, dass er es nicht wert sei, ein missratenes Stück. Die anderen zeigen mit dem Finger auf ihn und rufen im Kanon: „Du hast gesündigt, du hast gesündigt.“

Shaky ist der Musiker des Lagers, sein Lieblingsinstrument ist das Tanbur, ein bauchiges Saiteninstrument. Meistens übt er, manchmal tritt er auf die Bühne oder spielt für den Fernsehsender der MEK. Er liest viel, auch Bücher, die andere Mitglieder hineingeschmuggelt haben, etwa Karl Poppers „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“. Er liest die Sätze und merkt, was er schon lange geahnt hat. Einer dieser Feinde ist die MEK.

In Albanien dürfen die Mitglieder das Camp auch mal verlassen. Die MEK, ihr Quartier liegt direkt neben dem Büro der UN, wollen sich als offene demokratische Organisation präsentieren, die sie nicht sind. Shaky genießt die Freiheit, er redet viel mit Freunden, spaziert durch die Straßen und bleibt den Versammlungen fern. Er will raus. Er spricht mit seinem besten Freund, der will auch gehen. Sie sagen es ihren Kommandeuren. Die reden auf sie ein. Aber es ist nur noch eine Frage der Zeit.

Er sieht seine Eltern, zum ersten Mal seit 15 Jahren

Shaky kann nicht einfach gehen. 15 Jahre hat er nur im Camp gelebt. Er hat kaum Geld und keinen Besitz. Er weiß nicht, wie das Internet funktioniert, hat keine Ausbildung, spricht nur Persisch und Arabisch. Er hat weder eine Arbeits- noch eine Aufenthaltserlaubnis außerhalb vom Camp. Außerdem sucht der Geheimdienst nach Abtrünnigen, um Informationen aus ihnen herauszupressen. Er zweifelt. Was soll ich da draußen machen? Wie soll ich überleben? Und wo soll ich überhaupt hin? Es ist die Abhängigkeit, die ihn hält.

Über ein Jahr nach der Ankunft in Albanien verlässt er die MEK. Er zieht zu einem Bekannten. Raus geht er nur, um Essen zu kaufen. Er muss lernen, zu leben. Er kauft sich ein gebrauchtes Tablet, macht sich mit dem Internet vertraut, büffelt Englisch, übt Tanbur, lässt sich Geld von Freunden und Verwandten schicken, organisiert seine Weiterreise nach Deutschland. Er lässt den Bart wachsen. Der Geheimdienst soll ihn darunter nicht finden.

Eines Tages tippt er eine Nummer in das Tablet. Auf dem Bildschirm sieht er seine Eltern, das erste Mal seit 15 Jahren. Tränen fließen, alle schluchzen. Plötzlich erschrickt er. Sie sind grau geworden, Falten durchziehen ihr Gesicht. Seine Eltern sind ohne ihn alt geworden. Werden sie ohne ihn sterben?

Acht Monate später, im März 2018, machen sich Shaky und sein Freund auf den Weg nach Deutschland. Sie steigen in Busse, fahren mit Taxis. Die Grenzen passieren sie zu Fuß. Aufreibend, aber reibungslos. Bis Polizisten in Kroatien sie in den Streifenwagen schieben. Verhaftet. Wegen illegaler Einreise. Die Zelle dürfen sie nur zum Essen verlassen. Frühstück, Mittag, Abendbrot, wenn sie Glück haben. Shaky läuft den kleinen Flur vor der Zelle auf und ab, damit er nachts zumindest ein wenig schlafen kann. Nach 20 Tagen sagt ihnen die Leiterin, dass sie gehen dürften. „Sieben Tage habt ihr Zeit, das Land zu verlassen. Danach dürft ihr zwei Jahre nicht einreisen.“ Zurück wollen sie sowieso nicht.

Ein Freund bringt sie mit dem Auto nach Deutschland, sie landen erst in Duisburg, dann in Rheinberg. Nach zwei Wochen bekommt Shaky einen Brief vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF): „Der Antrag wird als unzulässig abgelehnt. Die Abschiebung nach Kroatien wird angeordnet.“

Sein Fingerabdruck hat ihn eingeholt. Ein Geflüchteter muss da seinen Asylantrag stellen, wo er zuerst europäischen Boden betreten hat. Oder in der Praxis: da, wo er zuerst registriert worden ist. Aber es gibt einen Weg: Bringen ihn die Behörden nicht innerhalb von sechs Monaten zurück, darf er bleiben. Das Versteckspiel beginnt.

„Die Heime sind Ghettos“

Shaky will nicht zurück nach Kroatien. Nicht zurück ins Gefängnis. Kroatien geht harsch gegen Geflüchtete vor. Mehrfach kamen in den letzten Jahren an Kroatiens Grenzen Menschen ums Leben. Sogenannte Grenzschützer würden Geflüchtete mit Schlagstöcken zurückprügeln, Hunde auf sie hetzen, sogar drohen, die Geflüchteten zu erschießen, berichten Menschenrechtsorganisationen. Das Border Violence Monitoring Network dokumentierte allein bis Ende 2019 mehr als 600 Fälle. Das Europaparlament hat Kroatiens Praxis immer wieder verurteilt, ebenso wie das UNHCR. Alles Lügen, sagen dazu kroatische Behörden. Ende 2019 aber musste Kroatiens Innenminister einräumen, dass ein Afghane „aus Versehen“ angeschossen wurde. Hochrangige EU-Politiker:innen blieben stumm. Fachleute sagen, es werde geduldet, weil sie so die Geflüchteten fernhielten.

So lange hat Shaky von Deutschland geträumt. Nun ist er da. Er lebt mit vier anderen in einem kleinen Zimmer, zu essen gibt es ein paar Scheiben Brot, Wurst und Käse, dazu ein Stück Möhre oder Gurke. Abends stopft er Klamotten in den Rucksack und setzt sich in die Bahn, fährt von Rheinberg nach Essen, von Essen nach Duisburg. Und zurück. Drei bis vier Stunden Schlaf, sechs bis acht, wenn er zwei Mal fährt. Die Polizei holt Abschiebepflichtige meist nachts. Das weiß er. Manchmal schläft er auch bei Bekannten auf der Couch oder klemmt sich eine Decke unter den Arm und legt sich in den Wald am Rhein. Tagsüber muss er wieder einstempeln im Heim. Fehlt er länger als drei Tage, gilt er als flüchtig. Die Behörden hätten dann 18 Monate Zeit, ihn nach Kroatien zu bringen.

Das gute Gefühl vom Anfang – zertrümmert von einem Blatt Papier. Da ist nur noch die Angst: Werden sie mich holen? Und wenn ja, was bringt das alles noch?

Shaky tippt auf ein Foto: Völlig ausgezehrt liegt er auf den Treppenstufen in einer orientalischen Aula, die Augen kaum geöffnet – als wäre er zusammengebrochen. „Hier habe ich fast drei Monate nichts gegessen, aus Protest wegen der Angriffe auf unser Camp“, sagt er. In der Zeit habe er 25 Kilo abgenommen. Er blickt auf. „In Deutschland habe ich in den ersten neun Monaten 15 Kilo verloren. Die Heime sind Ghettos. Die, die noch nicht depressiv sind, werden es da drin.“

Als die Blätter im Jahr 2018 von den Bäumen fallen, kann Shaky nicht mehr. Er weiß nicht, wie er die zwei, drei Monate überstehen soll, bis er lange genug in Deutschland ist, um bleiben zu dürfen. Er weiß nur eins: Es gibt kein Zurück. Kroatien bedeutet Gefängnis oder Rückkehr in den Iran. Iran bedeutet Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst oder Gefahr für Leib und Leben. Für ein Leben in Deutschland würde er sterben.

„Solange ich hier bin, stirbst du nicht“

Bleiben darf nur, wer an einer „lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung“ leidet. Nicht, wer nur vortäuscht. Also muss es echt sein: Shaky schließt sich in der Toilettenkabine ein, schluckt Beruhigungstabletten und sackt irgendwann allmählich in sich zusammen. Dann drückt von außen jemand die Klinke, Stimmen, es kracht. Ein paar Leute stürmen hinein. Die Leiterin des Heims kniet sich zu Shaky. „Lasst mich einfach sterben“, sagt er. Sie schüttelt den Kopf: „Solange ich hier bin, stirbst du nicht.“

Die Zigarette hat ihm womöglich sein Leben gerettet, so habe es ihm die Leiterin nachher erzählt. Ein anderer Mann habe nur Hilfe geholt, weil er den Qualm gerochen hatte. Eigentlich habe er nur auf die Toilette gewollt.

Shaky bekommt Antidepressiva, nimmt sie auch. „Ich wollte mich nicht umbringen, aber ich war schon depressiv“, sagt er. Nach drei Wochen wird er entlassen. Den Behörden bleibt noch mehr als Monat.

Wieder ist Shaky nachts überall, nur nicht im Zimmer. Sechs Wochen. Fünf Wochen. Vier Wochen. Dann will er es ein für alle Mal entscheiden. Er schluckt eine Handvoll Pillen, jenes Antidepressivum, das sie ihm im Krankenhaus gegeben hatten. Ein Freund findet ihn recht bald, Shaky überlebt. Er hatte ihn eingeweiht.

Shaky bleibt im Krankenhaus, bis die Frist verstrichen ist. Dann kommt er in ein Flüchtlingsheim in Münster. Er hat es geschafft. Ein Brief ein paar Wochen später: Abschiebung angeordnet. Schock. Widerspruch. Wieder ein Brief: ein Fehler, sorry. Er hat es geschafft. Den ersten Schritt. Er darf Asyl beantragen.

Shaky flieht nicht vor Krieg oder weil er etwa wegen seines Glaubens oder seiner Sexualität verfolgt würde. Er muss nachweisen, dass aus politischen Gründen sein Herkunftsstaat hinter ihm her ist. Das gelingt nur etwa einem von Hundert. Insgesamt zehn Stunden lang fragen sie ihn aus, über sein Leben, über seine Familie, seine Flucht, die Organisation, das Regime. Er muss aufzeichnen, wie die Camps ausgesehen haben, muss sagen, welche Rituale sie pflegten, wer die Kommandeure waren. Shaky muss seine Dokumente vorlegen, seinen Pass, die Bescheinigung der US-Army, den Ausweis von den UN, als Flüchtling nach der Genfer Konvention.

Nach dem Gespräch weisen sie ihn darauf hin, dass die Entscheidung dauern würde. Und sie dauert. Und dauert. Anfang 2020 ein Brief. Diesmal vom Sozialamt: Er möge sich bitte beim Jobcenter melden. Shaky versteht nicht, wieder mal. Soll er jetzt arbeiten, kriegt er keine Unterstützung mehr? In der Beratungsstelle für Geflüchtete wundert sich die Mitarbeiterin. Das Jobcenter sei erst zuständig, wenn der Antrag anerkannt worden ist. Sie ruft seinen Anwalt an. Der sagt: Shaky ist anerkannt worden. Er hatte nur vergessen, es ihm zu sagen.

Zum ersten Mal frei, nur nicht von Sorgen

Für Shaky beginnt endlich der Rest seines Lebens. Er paukt fleißig Sprachen, im Alltag kommt er mit Deutsch zurecht, Englisch spricht er inzwischen fließend. Er wird eingeladen, auf Englisch zu referieren, obwohl er bis vor drei Jahren das lateinische Alphabet nicht kannte. Er gibt Konzerte, spielt etwa bei einer Veranstaltung des Flüchtlingsrats oder der Seebrücke, einer Hilfsorganisation für Geflüchtete. In seiner Freizeit geht er gern zum Basketballplatz und zockt mit denen, die da sind.

Er hat ihn gewonnen, den Überlebenskampf. Aber als großer Gewinner fühlt er sich nicht. Er würde lieber heute als morgen zurück in den Iran. „Wenn es diese Diktatur nicht gäbe, wäre ich schon lange wieder zuhause“, sagt er. „Was will ich denn hier? Meine Familie, meine Freunde – ich habe die seit 18 Jahren nicht mehr gesehen. Im Iran haben Musiker, die nur halb so talentiert sind wie ich, ein gutes Leben. Aber hier? Was soll ich hier machen mit iranischer Musik? Hier muss ich erst noch mal zur Schule. Oder eben LKW fahren.“

Obwohl Shaky schon 35 ist, muss er sich mit Fragen beschäftigen, die sich hierzulande Teenager stellen. Er muss nun erst mal fließend Deutsch sprechen, dann will er Abitur machen. Wenn es mit der Musik nicht klappt, würde er gern studieren, am liebsten Philosophie, vielleicht aber auch Informatik. „Am Ende werde ich Musiker sein, ganz sicher. Ich weiß, die Realität ist brutal. Aber ich habe den Preis schon bezahlt. Ich werde mein Leben nicht verschwenden.“

Wenn Shaky darüber spricht, wie er fast gestorben wäre, knetet er seine Hände, seine Füße ruhen aber meist. „Ich bin kein Roboter“, sagt er, „natürlich geht mir das nahe. Aber ich wusste, warum ich das tue. Ich wollte mir nehmen, was mir zusteht. Und ich war bereit, dafür zu sterben.“ Wer, wenn nicht er, verdiene das Recht, bleiben zu dürfen? „Auf der Straße sehe ich Menschen, die von überall herkommen und hier studieren. Das ist wunderbar. Aber ich soll zurück? Ich weiß nicht, was passieren würde, wenn ich zurück in den Iran käme. Und ich will es auch gar nicht wissen.“

Shaky ist zum ersten Mal frei, nur nicht frei von Sorgen. Wird er hier Heimat finden? Darf er je wieder in den Iran? Wird er seine Eltern noch mal in den Arm nehmen? Shaky riskierte sein Leben für ein Leben in Deutschland. Aber eigentlich will er hier gar nicht sein. —

Über den Autor

Andreas Holzapfel ist einer von elf Reporter:innen an der Reportageschule Reutlingen, die Ende August 2020 in Münster Geschichten für RUMS recherchiert und geschrieben haben. Dabei wurden sie von den drei Fotograf:innen Laura Schenk, Angelika Wieschollek und Nikolaus Urban begleitet. Die Reportagen, Interviews und Features veröffentlichen wir in unregelmäßigen Abständen.


Korrektur:
In einer früheren Version des Textes hatten wir geschrieben, der Iran gelte als sicheres Herkunftsland. Das stimmt nicht. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge stuft den Iran nicht als solches ein. Wir haben den Fehler korrigiert.

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