Missbrauchsfall von Münster | Was falsche Vorstellungen mit Vorgärten zu tun haben

Müns­ter, 10. Juni 2020

Guten Tag,

als Ober­staats­an­walt Mar­tin Bot­zen­hardt am Sams­tag der Öffent­lich­keit die ver­stö­ren­de Nach­richt über­brach­te, dass die Poli­zei in Müns­ter einen Ring von Pädo-Kri­mi­nel­len ent­tarnt hat, sag­te er: „Wir sehen bis­her nur die Spit­ze des Eisbergs.“ 

Das sag­te im Juni 2018 auch der Chef­er­mitt­ler der Frei­bur­ger Kri­mi­nal­po­li­zei am Ran­de des Pro­zes­ses zum soge­nann­ten Stau­fe­ner Miss­brauchs­fall. Eine Mut­ter hat­te ihren damals sie­ben­jäh­ri­gen Sohn gemein­sam mit ihrem Lebens­ge­fähr­ten sexu­ell miss­braucht, ihn gegen Geld Frem­den zur Ver­fü­gung gestellt und das alles gefilmt. 

Ende 2018 kam ans Licht, dass meh­re­re Män­ner auf einem Cam­ping­platz in Lüg­de über zehn Jah­re lang mehr als 30 Kin­der miss­braucht hat­ten. Der Lei­ter der Ermitt­lungs­kom­mis­si­on sag­te: „Es ist wohl nur die Spit­ze des Eisbergs.“

Und als die Poli­zei im ver­gan­ge­nen Okto­ber einen Tipp aus Kana­da bekam, dass ein 42-jäh­ri­ger Mann aus Ber­gisch Glad­bach online Kin­der­por­nos ange­bo­ten hat­te, dau­er­te es noch knapp zwei Mona­te, bis die Ermit­teln­den neun Woh­nun­gen durch­such­ten und dabei neben vie­len schreck­li­chen Vide­os auch Han­dys mit Chat­grup­pen ent­deck­ten, die bis zu 1.800 Mit­glie­der hat­ten. Ein Poli­zei-Seel­sor­ger sag­te: „Wir sehen immer nur die Spit­ze des Eisbergs.“

Stau­fen, Lüg­de, Ber­gisch Glad­bach, Müns­ter. Es sind auf­fäl­lig vie­le Eis­berg­spit­zen auf­ge­taucht in den ver­gan­ge­nen Jah­ren. Dass sie mit den Namen von Städ­ten ver­bun­den wer­den, macht die unvor­stell­ba­ren Taten etwas greif­ba­rer. Doch es erweckt auch einen Ein­druck, der so nicht ganz stimmt. 

In Lüg­de stieß die Poli­zei auf 13.000 kin­der­por­no­gra­fi­sche Datei­en mit einer unglaub­li­chen Gesamt­grö­ße von 14 Tera­byte. Ein Tera­byte bie­tet Platz für 500 Stun­den Video in HD-Qua­li­tät. 14 Tera­byte, das sind über 4.660 andert­halb­stün­di­ge Hol­ly­wood-Fil­me. Woll­te man sich all die­se Fil­me am Stück anse­hen, müss­te man über 290 Tage vor dem Bild­schirm sit­zen, Tag und Nacht, fast zehn Mona­te lang. 

In Ber­gisch Glad­bach stie­ßen die Ermit­teln­den auf zehn Tera­byte Daten; über das ent­tarn­te Netz aus Chat­part­nern fass­ten sie Men­schen in Deutsch­land, Öster­reich und der Schweiz, die auf ihren Com­pu­tern, Tablets oder Smart­phones 85 Tera­byte an Daten­ma­te­ri­al aufbewahrten. 

In Müns­ter waren es 500 Tera­byte. Auf einen Schlag. Video­ma­te­ri­al in einer Län­ge von 250.000 Stun­den. Umge­rech­net fast 29 Jahre. 

Und auch das ist nur ein klei­ner Aus­schnitt. Allein die Poli­zei in NRW hat im Jahr 2018 zwi­schen 2.000 und 3.000 Tera­byte an Kin­der­por­nos sicher­ge­stellt (€). Und dann sind da noch die 15 übri­gen Bun­des­län­der, die ande­ren Län­der in Euro­pa, in der Welt – und all die Kin­der­por­nos, die bis­lang noch nicht ent­deckt wurden.

Im Mit­tel­punkt des Fal­les in Müns­ter steht nun die­ser eine Ort im Nor­den der Stadt, die Lau­be in der Klein­gar­ten­sied­lung „Am Berg­busch“. Dort soll der 27-jäh­ri­ge Haupt­ver­däch­ti­ge immer wie­der Kin­der miss­braucht und die Taten gefilmt haben. Unter ande­rem in der Nacht vom 25. auf den 26. April, dies­mal zusam­men mit drei ande­ren Män­nern, wie die Süd­deut­sche Zei­tung berich­tet. An die­sem Tag hat­ten der 27-Jäh­ri­ge und ein wei­te­rer der drei Män­ner Geburts­tag. Sie sol­len sich den Abend geschenkt haben, so heißt es. 

Eine weltweite Währung

Schon die Vor­stel­lung ist schwer zu ertra­gen: Vier erwach­se­ne Män­ner, dar­un­ter zwei Väter, tref­fen sich, um zu ihrem Ver­gnü­gen Kin­der sexu­ell zu miss­han­deln. Einer hat dazu sei­nen fünf­jäh­ri­gen Sohn mit­ge­bracht, der Haupt­ver­däch­ti­ge aus Müns­ter den zehn­jäh­ri­gen Sohn sei­ner Lebens­ge­fähr­tin. Für die Kin­der sind es hun­der­te Minu­ten vol­ler Angst, Scham und Schmerz. Aber es ist nur einer von vie­len Aben­den vol­ler Angst, Scham und Schmerz.

Der 27-jäh­ri­ge Mann soll den zehn­jäh­ri­gen Jun­gen mehr­fach in ande­re Städ­te gefah­ren haben, um ihn dort von ande­ren Män­nern miss­brau­chen zu las­sen. Und auch das alles zusam­men­ge­nom­men ist nur ein schmut­zi­ges Kris­tall auf der Spit­ze des Eis­bergs, denn die Tat endet nicht, wenn die Män­ner von den Kin­dern ablas­sen und die Nacht end­lich vor­bei ist. Dann beginnt nur eine Trans­for­ma­ti­on des Miss­brauchs. Die Vide­os wer­den im Dark­net zum Treib­stoff für die Sucht nach neu­en Vide­os. Wer nach Kin­der­por­no­gra­fie sucht, muss etwas zum Tau­schen bie­ten. So funk­tio­niert das Geschäft. Kin­der­por­nos sind eine welt­wei­te Währung. 

Die Welt am Sonn­tag zitiert Ende Mai in einer Titel­ge­schich­te zum Han­del mit Kin­der­por­no­gra­fie im Netz den Sexu­al­wis­sen­schaft­ler Klaus M. Bei­er, der aus­ge­rech­net hat, dass etwa 250.000 Men­schen in Deutsch­land pädo­phil sein dürf­ten; welt­weit wären es dann etwa 25 Mil­lio­nen. Nicht jeder Mensch mit die­ser Nei­gung ist auto­ma­tisch kri­mi­nell. Pädo­phi­lie ist eine sexu­el­le Prä­fe­renz. Men­schen füh­len sich von kind­li­chen Kör­pern erregt. Das muss nicht bedeu­ten, dass sie das auch aus­le­ben. Doch es braucht ein gefes­tig­tes Moral­emp­fin­den, viel Dis­zi­plin und gute Stra­te­gien, um die­sem Trieb dau­er­haft zu widerstehen.

Hin­zu kommt, dass pädo­phi­le Men­schen nur für einen Teil der Miss­brauchs­fäl­le an Kin­dern ver­ant­wort­lich sind. Laut der MiKA­DO-Miss­brauchs­stu­die haben sie mit sechs von zehn Taten gar nichts zu tun. 

Symptome einer globalen Krankheit

Das alles zeigt die Dimen­sio­nen. Es ist ein gigan­ti­sches welt­wei­tes Pro­blem. Stau­fen, Lüg­de, Ber­gisch Glad­bach und Müns­ter sind nur Sym­pto­me einer glo­ba­len Krank­heit, einer Pan­de­mie. So hat Johan­nes-Wil­helm Rörig es genannt (€), der Miss­brauchs­be­auf­trag­te der Bundesregierung.

Eine Pan­de­mie ist unsicht­bar und schwer ein­zu­schät­zen. Das haben wir in den ver­gan­ge­nen Mona­ten gelernt. Wochen­lang haben wir uns die Hän­de gewa­schen, weil wir die Vor­stel­lung hat­ten, die Gefahr laue­re an unse­ren Fin­gern. Dann lern­ten wir das Wort „Aero­so­le“ ken­nen und began­nen, Mas­ken zu tra­gen. Im Fall von Miss­brauch sind fal­sche Vor­stel­lun­gen weit ver­brei­tet. Dazu tra­gen auch Medi­en bei. 

Der Mecha­nis­mus ist meis­tens recht ähn­lich: Sobald die Mel­dung vom Miss­brauch in der Welt ist, beginnt der rast­lo­se Wett­lauf um Neu­ig­kei­ten. Dann muss alles ganz schnell gehen – nicht, um wei­te­re Taten zu ver­hin­dern, son­dern um Exklu­siv­nach­rich­ten zu pro­du­zie­ren, die das Publi­kum mit ganz außer­or­dent­li­chen Klick­zah­len belohnt. Jedes ver­meint­lich wich­ti­ge Detail wird des­halb zu einer Mel­dung aufgepumpt. 

Kaum ein Arti­kel über einen Miss­brauchs­fall kommt ohne den Hin­weis aus, dass der Tat­ort über­haupt nicht so aus­sieht, wie man sich einen Tat­ort vor­stellt. Idyl­li­sche Bäu­me. Akku­ra­te Bee­te. Gestutz­ter Rasen. Und dann ein sol­ches Ver­bre­chen. Als ob Ver­ge­wal­ti­ger per se nicht in der Lage wären, ihren Gar­ten in Ord­nung zu halten. 

Die Men­schen in der Nach­bar­schaft sind so gut wie immer geschockt. Das ist natür­lich zu ver­ste­hen. Doch so gut wie jedes Mal wun­dern sie sich dar­über, dass die Täter so hilfs­be­reit waren, so nett, zuvor­kom­mend – und dass sie immer so freund­lich gegrüßt haben. Häu­fig schwin­gen die Wor­te mit: Aus­ge­rech­net hier. 

Aus­ge­rech­net in Staufen.

Aus­ge­rech­net in Lügde.

Aus­ge­rech­net in Ber­gisch Gladbach. 

Aus­ge­rech­net in Münster. 

Dabei ist die ange­pass­te Unauf­fäl­lig­keit gera­de die Vor­aus­set­zung dafür, dass die Täter so lan­ge im Ver­bor­ge­nen wir­ken kön­nen. Die hei­le Welt ist das Bio­top von Miss­brauchs­tä­tern. Sie brau­chen eine Fas­sa­de, die mög­lichst bei nie­man­dem Zwei­fel weckt. Sie müs­sen nor­mal wir­ken. Sie sind sogar gezwun­gen, freund­lich zu grü­ßen. Andern­falls machen sie sich verdächtig. 

Die­se Men­schen kön­nen lachen, sym­pa­thisch wir­ken und einen ver­trau­ens­wür­di­gen Ein­druck machen. Aber war­um soll­ten sie das auch nicht kön­nen? Miss­brauchs­tä­ter kom­men aus allen Schich­ten der Gesell­schaft. Unter ihnen sind Leh­rer, Sozi­al­ar­bei­ter, Ärz­te, Anwäl­te und Pries­ter. Die Täter sind meis­tens männ­lich, doch oft sind auch Frau­en betei­ligt, nur in ande­ren Rollen.

Auch Wegschauen ist Handeln

In Müns­ter sol­len zwei Frau­en in die Taten ein­ge­weiht gewe­sen sein. Die Mut­ter des Haupt­ver­däch­ti­gen soll ihrem Sohn den Schlüs­sel zur Gar­ten­lau­be gege­ben haben – im Wis­sen um das, was dort pas­sier­te. Die Leben­ge­fähr­tin des Man­nes soll eben­falls gewusst haben, dass ihr Sohn in der Lau­be miss­braucht wird. Bei­des erscheint voll­kom­men undenk­bar. Aber wenn man es mit frü­he­ren Fäl­len ver­gleicht, erkennt man durch­aus Muster. 

In Stau­fen etwa hin­ter­ließ die Mut­ter bei den Behör­den den Ein­druck, sie lie­be und schüt­ze ihr Kind. In Wirk­lich­keit bot sie es frem­den Män­nern gegen Geld zum Miss­brauch an.

Das Maga­zin der Süd­deut­schen Zei­tung hat vor fünf Jah­ren in einem Inter­view mit der Psych­ia­te­rin und Gerichts­gut­ach­te­rin Hei­di Kast­ner dar­über gespro­chen, dass vie­le Frau­en sich „bemü­hen, das Offen­sicht­li­che nicht zu sehen“. Hei­di Kast­ner sag­te: „Es gibt Kin­der, die erzäh­len, wie die Mut­ter die Tür auf­macht, hin­ein­schaut und sagt: ‚Oh, Ent­schul­di­gung, ich woll­te nicht stö­ren‘ – und wie­der geht. Für mich ist das auch eine Form des akti­ven Han­delns.“ Und sie sag­te: „Natür­lich ist die­sen Müt­tern klar, dass Miss­brauch nach unse­ren gesell­schaft­li­chen Nor­men nicht akzep­ta­bel ist. Des­halb deu­ten sie die Situa­ti­on um, indem sie sagen: Das, was ich sehe, ist kein Miss­brauch, son­dern etwas ganz anderes.“ 

Die Stadt Münster sieht keine Fehler

Das Wis­sen über Rol­len, Ver­hal­ten und Umstän­de ist wich­tig, um die Vor­stel­lun­gen an die Rea­li­tät anzu­glei­chen. Aber auch das hilft oft nicht weiter. 

Im Fall Lüg­de gab ein Vater schon im August 2016 Hin­wei­se an die Poli­zei, das Jugend­amt und den Kin­der­schutz­bund – zwei Jah­re, bevor alles öffent­lich wur­de. Drei Mona­te nach dem Vater wand­te sich eine Job­cen­ter-Mit­ar­bei­te­rin an die Poli­zei. Eine Psy­cho­lo­gin äußer­te in einer Kita eine Ver­mu­tung. Eine Mit­ar­bei­te­rin des Kin­der­schutz­bunds gab dem Jugend­amt einen Hin­weis. Immer wie­der äußer­ten Men­schen ihren Ver­dacht. Doch nichts passierte. 

In einer Doku­men­ta­ti­on der Lip­pi­schen Lan­des-Zei­tung sagt der Opfer­an­walt Roman Alvens­le­ben: „Die­ser gan­ze Fall zeigt doch im Grun­de, dass alle betei­lig­ten Behör­den über­haupt nicht wis­sen, wie die mit Kin­des­miss­brauch umge­hen sollen.“

Ist das in Müns­ter auch so? Auch hier gibt es vie­le offe­ne Fra­gen. Wie konn­te es zum Bei­spiel pas­sie­ren, dass der 27-jäh­ri­ge Haupt­ver­däch­ti­ge über all die Jah­re Kin­der miss­brau­chen und quä­len konn­te, obwohl die Behör­den von sei­ner Ver­an­la­gung wuss­ten. Er hat­te nicht nur Kin­der­por­no­gra­fie beses­sen, son­dern sogar mit ihr gehan­delt. Er war mehr­fach damit auf­ge­fal­len. In den Jah­ren 2016 und 2017 wur­de er zwei Mal auf Bewäh­rung ver­ur­teilt. Wäre all das nicht ein Grund gewe­sen, etwas genau­er hinzuschauen?

Die West­fä­li­schen Nach­rich­ten haben den städ­ti­schen Jugend­de­zer­nen­ten Tho­mas Paal gefragt (€), ob man dort einen Feh­ler gemacht habe. Paal sagt, er kön­ne kei­nen erken­nen. Wobei er das anders aus­drückt: „Nach der­zei­ti­gem Kennt­nis­stand ist die Fall­be­ar­bei­tung gemäß den Stan­dards der Stadt Müns­ter nach­voll­zieh­bar und mit der not­wen­di­gen Sorg­falt erfolgt.“ 

Die Stadt habe den Fall schon vor fünf Jah­ren mit dem Fami­li­en­ge­richt bespro­chen. Doch das Gericht habe kei­nen Anlass gese­hen, etwas zu unter­neh­men. Auch die Fach­leu­te, die sich spä­ter mit dem Fall befass­ten, sahen so einen Anlass nicht. Es habe bis zuletzt kei­ne Hin­wei­se dar­auf gege­ben, dass das Kind in Gefahr sei.

Das ist die Dar­stel­lung der Stadt. Es gibt kei­nen Grund, an ihr zu zwei­feln. Bis auf die Tat­sa­che, dass am Ende ein zehn­jäh­ri­ger Jun­ge immer wie­der vom Lebens­part­ner sei­ner Mut­ter und ande­ren Män­nern miss­braucht wur­de. Es ist eine kom­pli­zier­te Situation. 

Ansatzpunkte für Kritik

Hin­ter­her lässt sich vie­les gut erklä­ren. Aber Men­schen ver­ges­sen schnell, dass sie die rele­van­ten Infor­ma­tio­nen vor­her nicht hat­ten. Das ist eine typi­sche mensch­li­che Wahr­neh­mungs­ver­zer­rung: der Rück­schau­feh­ler. Viel­leicht konn­te wirk­lich nie­mand erken­nen, dass das Kind in Gefahr ist. Viel­leicht wäre es aber doch mög­lich gewe­sen. Nur wür­den die Behör­den es dann zugeben? 

In Düs­sel­dorf ver­sucht seit neun Mona­ten ein Unter­su­chungs­aus­schuss, die Hin­ter­grün­de des Miss­brauchs von Lüg­de auf­zu­klä­ren. Als der Aus­schuss Ende Mai Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter des zustän­di­gen Jugend­amts lud, ver­wei­ger­ten die­se ihre Aus­sa­ge. Auch im Stau­fe­ner Miss­brauchs­fall ging es hin­ter­her um die Fra­ge, wie das alles pas­sie­ren konn­te, obwohl der Täter unter Auf­sicht des Jugend­amts stand und man immer wie­der mit Mut­ter und Kind in Kon­takt stand. Hier lau­te­te die Ant­wort: Behör­den­ver­sa­gen.

Frei­wil­lig und ohne Not wird nie­mand Feh­ler zuge­ben, zumal Feh­ler mit sol­chen Fol­gen. Daher wird es wich­tig sein, dass unab­hän­gi­ge Fach­leu­te sich mit der Fra­ge beschäf­ti­gen, was in Müns­ter schief­ge­lau­fen ist. 

Ansatz­punk­te für Kri­tik gibt es durch­aus. Ursu­la Enders, die Lei­te­rin der Köl­ner Infor­ma­ti­ons­stel­le gegen sexu­el­len Miss­brauch Zart­bit­ter, etwa bezwei­felt, dass Fami­li­en­ge­rich­te sich gut genug mit sexu­el­ler Gewalt gegen Kin­der aus­ken­nen, um die Situa­tio­nen rich­tig ein­zu­schät­zen. Oft müss­ten die Kin­der in den Fami­li­en blei­ben, weil die Gerich­te fal­sche Ent­schei­dun­gen trä­fen, sagt sie. War das viel­leicht auch in Müns­ter so? 

Wir wis­sen es nicht. Und viel­leicht gibt es auch kei­ne ein­deu­ti­ge Ant­wort. Das ist ein wei­te­res Pro­blem. Die Ungewissheit.

Wut ist kein guter Ratgeber

Beim Kra­wall­sen­der „Bild TV“ hielt am Mon­tag der Mode­ra­tor Kai Wei­se mit brü­chi­ger Stim­me ein wüten­des Plä­doy­er, in dem alles ganz ein­fach klang. Er warf Beam­tin­nen und Beam­ten in Behör­den, Leh­re­rin­nen und Leh­rern sowie den Men­schen in der benach­bar­ten Klein­gar­ten-Par­zel­le vor, weg­zu­schau­en. Wir sei­en eine „Weg­schau­ge­sell­schaft“, aber wir müss­ten eine „Hin­schau­ge­sell­schaft“ wer­den. „Mel­den Sie Ihren Ver­dacht. Gehen Sie hin und gehen das Risi­ko ein, dass ein­mal die Mel­dung viel­leicht auch zu Unrecht pas­siert“, sag­te er. Der abschlie­ßen­de Satz klang etwas kuri­os. Er sag­te: „Es gibt bei die­sem The­ma kei­ne ein­zi­ge Tole­ranz.“ Man konn­te es nicht genau erken­nen, aber es sah ein biss­chen aus, als hät­te er Trä­nen in den Augen. Es ging ihm jeden­falls alles sehr nah. Im Jour­na­lis­mus ist das nicht unbe­dingt von Vorteil. 

Wut hilft sehr, wenn es dar­um geht, schnell ein­fa­che Lösun­gen zu fin­den. Daher ist Wut meis­tens kein guter Rat­ge­ber. Sie lässt die Welt schwarz und weiß erschei­nen. Sie ver­deckt vie­les, zum Bei­spiel, dass ein Miss­brauchs­ver­dacht einen Men­schen ein Leben lang als Schat­ten ver­fol­gen kann. Vor fast 25 Jah­ren geriet in Bor­ken und Coes­feld ein 35-jäh­ri­ger Erzie­her unter Ver­dacht, 55 Kin­der sexu­ell miss­braucht zu haben. Der Pro­zess dau­er­te zwei Jah­re. Dabei stell­te sich her­aus, er war zu Unrecht ver­däch­tigt wor­den. Man hat­te die Kin­der sehr sug­ges­tiv befragt. 

Aber was kön­nen wir dann tun?

Wir kön­nen uns um eine Atmo­sphä­re bemü­hen, in der es nicht dar­um geht, Sün­den­bö­cke zu fin­den, son­dern in der das Ziel ist, die Alarm­sys­te­me zu ver­bes­sern. Das kann nur gelin­gen, wenn Men­schen Feh­ler und Fehl­ein­schät­zun­gen ein­ge­ste­hen kön­nen, ohne mit schlim­men Kon­se­quen­zen zu rech­nen. Nur dann ver­lie­ren sie den Anreiz, ihre Feh­ler zu ver­tu­schen. Ich gebe zu, in der Öffent­lich­keit wird das schwer, aber im Klei­nen kann es durch­aus funk­tio­nie­ren. In der Luft­fahrt, wo Feh­ler sehr schnell töd­lich enden, prak­ti­ziert man das schon seit Lan­gem.

Viel­leicht wird man auf die­sem Weg Mög­lich­kei­ten fin­den, Miss­brauchs­fäl­le frü­her zu ent­de­cken. Viel­leicht aber auch nicht. Wie gesagt, es ist alles nicht so einfach. 

Am Frei­tag schreibt Ihnen wie­der mei­ne Kol­le­gin Kat­rin Jäger. Genie­ßen Sie den Feiertag. 

Herz­li­che Grüße

Ralf Heimann

PS

Wir haben es am Wochen­en­de lei­der ver­säumt, dar­auf hin­zu­wei­sen, dass wir nicht aktu­ell über die ein­zel­nen Ent­wick­lun­gen zum Miss­brauchs­fall berich­ten, son­dern zunächst abwar­ten und dann eine Ana­ly­se lie­fern. Wie es in dem Fall wei­ter­geht, wer­den wir hier im RUMS-Brief ver­fol­gen. Für sehr gute aktu­el­le Recher­chen dazu möch­te ich Ihnen die Arti­kel mei­ner lie­ben Kol­le­gin Jana Ste­ge­mann emp­feh­len, mit der ich vor ein paar Jah­ren hier in Müns­ter zusam­men bei der Müns­ter­schen Zei­tung gear­bei­tet habe, und die jetzt NRW-Lan­des­kor­re­spon­den­tin der Süd­deut­schen Zei­tung in Düs­sel­dorf ist.