Die Kolumne von Christoph Hein | Gute Stube in Bhaktapur

Porträt von Christoph Hein
Mit Christoph Hein

Guten Tag,

Kathmandu, 19. Februar 2023

von dem Erdbeben, das 30 Stunden später Kurdistan, den Osten der Türkei und Teile Syriens verwüsten würde, konnte Rabindra Puri noch nichts wissen. Gleichwohl kamen wir sofort auf Beben zu sprechen. Denn das Leben des Nepalesen ist zu weiten Teilen von dem fürchterlichen Erdstoß bestimmt, der im Herbst 2015 seine Heimatstadt Bhaktapur, ihr Gegenüber Patan und die angrenzende Metropole Kathmandu traf.

Puri überlebte. Und seine Häuser blieben stehen. Anders als die minderwertigen Betontürme in deren Nachbarschaft, oder die Stahlbetonbauten, bei denen die Korruption den Einbau von Stahl erübrigte. „Bei uns brach vieles zusammen, was neu war. Die Holzhäuser blieben fast unberührt“, sagt Puri. „Deren Bauherren haben über Jahrhunderte immer besser gelernt, sich auf Erdbeben einzustellen. Viele der Holzpfosten stehen seit dem frühen 19. Jahrhundert auf einem Kiessockel. So können sie bei Erschütterungen schwingen“, sagt der 53-Jährige.

Er weiß es so genau, weil er ein Baumeister ist. Er selbst spricht von sich als „conservator“, und meint damit einen Erhalter, einen, der zu schätzen weiß, was frühere Generationen hinterlassen haben. Dabei hat er selbst immer in die Zukunft geblickt. Und manchen Schritt gewagt, der seinen Landsleuten als mindestens ungewöhnlich, oft als verrückt galt.

Auf Wunsch seiner Eltern, die im Kastensystem der unterrichtenden Gruppe der Mahanta angehören und selbst Brahmanen lehrten, schloss Puri ein Jurastudium in Kathmandu ab. Seine Liebe aber gehörte der Kunst. Und so besuchte er während des Studiums heimlich auch eine Schule für Steinmetze. „Das wollte ich wirklich machen. Aber ich gebe zu, dass mir Jura mein ganzes Leben geholfen hat.“ Als er fertig war, begannen ausländische Förderer gerade, das Jahrhunderte alte Zentrum von Bhaktapur aufzubauen, zu schützen und schonend mit einer Kanalisation zu versorgen. Die Aufgabe übernahmen Planer der damaligen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). Puri bekam seinen ersten Job als Steinschneider. Bald schon kletterte er die Hierarchieleiter hinauf. Als der deutsche Leiter der Stadtplaner seine Talente erkannte, verschaffte er dem jungen Mann aus dem Himalaja ein Stipendium für die Uni Bremen. Puri paukte Deutsch am Goethe-Institut, packte seinen Koffer, und siedelte über.

Türen, die nur 1,55 Meter hoch sind

„Das war verdammt schwer. Ich konnte kaum Deutsch, kannte keine Straßenbahnen und war total einsam.“ Wieder biss er sich durch, brachte ein paar Semester des Kunststudiums hinter sich. „Als ich nichts mehr lernen konnte, sattelte ich auf den ersten Studiengang Entwicklungspolitik um. Ich wusste, dass mein Land diese Fähigkeiten mehr brauchte“, erzählt er in fehlerfreiem Deutsch, das er auch 30 Jahre später pflegt.

Nach ein paar Jahren zurück in Bhaktapur, reichten seine Ersparnisse, um einen „Hühnerstall“ zu kaufen. Für umgerechnet 7.000 Euro erwarb er ein Jahrhunderte altes Holzhaus im Zentrum der Königsstadt – Türen, die nur 1,55 Meter hoch sind, niedrige Decken, rohe Backsteinwände. Für das Kathmandu-Tal ist sein Haus in etwa das, was für die Münsteraner ein Sandsteinkotten in den Baumbergen ist – nur, dass Puris Haus am Marktplatz liegt. Mit all seinen Kenntnissen restaurierte er es zurück zum Originalzustand. „Für mich änderte sich alles, als ich dafür eine Anerkennung der UNESCO erhielt“, berichtet er im Wohnzimmer im zweiten Stock seines Hauses. Hier hat er eine höhere Decke eingezogen, damit seine angereisten deutschen Freunde aufrecht stehen können.

„Nach der Auszeichnung wurde ich überhäuft von Anfragen“, erzählt Puri. Nun führt er mich zu seinem Wohnhaus, im alten Stil nachgebaut, Backstein, geschnitzte Fensterläden, ein Schlangenrelief über dem Portal. Hier wohnt er mit seiner Frau, einer Malerin, und ihren zwei Kindern. Dann geht es durch ein paar enge Gassen zu einem riesigen Gewerbehaus, gebaut rund um einen Innenhof. In ihm hocken Steinmetze auf dem Boden und meißeln an Hindu-Gottheiten, von der anderen Seite klingt das Hämmern der Holzschneider, die an Fenstern und Pfosten arbeiten. „Kommen Sie“, sagt Puri. „Jetzt zeige ich Ihnen, wo meine deutschen Zeiten auf meine nepalesischen treffen.“

In einem Schulraum arbeiten junge Installateure und Elektriker an Holzwänden. Links ein Leitungsschema, wie es in ihrem Heimatland Nepal üblich ist. Rechts das deutsche, einschließlich rotem Schutzschalter für den Strom. „Wir bilden hier jährlich 65 Handwerker aus. Viele kommen aus niederen Kasten, wir zahlen ihnen die Ausbildung“, erzählt Puri. In der Handwerksschule in der Altstadt von Bhaktapur schlägt sein Herz. „Wenn sie fertig sind, können sie so viel wie ein deutscher Handwerker. Das liegt auch daran, dass unter meinen Freunden deutsche Meister sind, die in ihrem Urlaub immer wieder für Lehrgänge einfliegen.“

„Wir übernehmen sie mit Handkuss“

Ganz nebenbei hat Puri mithilfe der jungen Arbeiter ein Museum der „Stolen Art“ aufgebaut: Nepalesische Statuen, die über die Jahrhunderte ins Ausland gebracht wurden, versucht Puri zurück in die Museen seiner Heimat zu bekommen. Manchmal hilft dabei eine grüne Bundestagsabgeordnete. Bis es aber gelingt, das Diebesgut zu repatriieren, üben sich die Azubis darin, die Figuren entlang historischer Fotos nachzuempfinden. So entsteht eine Hilfssammlung der entführten Kunst, deren Herstellung die Jugendlichen unterstützt.

Sind sie ausgebildet, finden sie in Nepal sofort einen Job. Und wenn nicht? „Wir übernehmen sie mit Handkuss. Unsere Arbeit hört nie auf.“ Puri besitzt schon jetzt „mehr als 30 Häuser“ im Kathmandu-Tal. Unumwunden sagt er: „Ich habe so unendlich viel Glück in meinem Leben gehabt. Deutschland hat mich reich gemacht.“ Er will aber mehr: Nicht nur für die zahlungskräftigen Touristen, die vielen Menschen in Nepal Arbeit und Einkommen verschaffen, will er die alte Newari-Kultur erhalten. „Wir bauen jetzt eine Kleinstadt mit ungefähr 70 Häusern um. Die alten Gebäude renovieren wir vollständig. Die neueren bauen wir so um, dass sie ins Bild passen werden. Der Stadtrat hat zugestimmt“, erzählt er.

Was ein bisschen an das Modell Bockwindmühle im fernen Westfalen erinnert, könnte für Nepal mehr bedeuten. Denn Puris Plan könnte ein ganzes Tal, das Anlaufpunkt für Millionen von Touristen jährlich ist, lebenswerter machen. In den vergangenen Jahren haben die rasche Entwicklung und das ungeordnete Wachstum auch in Nepal zu fast unerträglichen Lebensbedingungen geführt. „Wir müssen umdenken, uns besinnen, langsamer werden“, mahnt der Entwickler Puri. „Eine alte Stadt ist doch so viel schöner. Die Menschen können da wieder atmen.“

Ein heimeliges Lummerland

Nepals Nachbarland Bhutan knöpft wohlhabenden Touristen inzwischen pro Tag 200 Dollar ab, nur für den Aufenthalt. Dafür hat der König des pieksauberen Kleinstaates – mit einem Besitz von rund 32 Milliarden Dollar wohl der reichste Monarch der Welt – erlassen, dass seine Bürgerinnen und Bürger so traditionell wie möglich daherkommen: Sie sollen sich in ihrer Tracht kleiden, sie müssen Neubauten im alten Stil errichten. So wird aus Bhutan ein heimeliges Lummerland, in dem der Erfolg der Politik immer noch am Glücksindex gemessen wird und sich jene Gäste, die sich die Reise leisten können, verzaubert fühlen. Natürlich haben das auch die Stadtplaner Nepals wahrgenommen. So weit wird es hier nie kommen. Aber könnte man nicht auch am Alten gewinnen?

Es ist Anfang Februar, in den Gassen Bhaktapurs riecht es nach Holzfeuern, am Horizont schimmern die weißen Kuppen der Himalaja-Riesen durch den Dunst. Aber natürlich kommt mir der Prinzipalmarkt in den Sinn. So echt ist ja auch der nicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die zerstörte Altstadt Münsters einem „Neuordnungsplan“ folgend in den traditionellen Maßstäben und einem den alten Vorbildern nachempfundenen Stil wieder aufgebaut. Damals fand das noch lange nicht jeder gut. Heute genießen nicht nur die holländische Gäste in der Vorweihnachtszeit Münsters gute Stube. Vielleicht haben Münster und das Kathmandu-Tal mehr miteinander zu tun, als es aussieht.

Herzliche Grüße

Ihr Christoph Hein

Porträt von Christoph Hein

Christoph Hein

… ist in Köln geboren und in Münster aufgewachsen. Er hat an der Uni Münster studiert, hier promoviert und während seines Studiums für die Westfälischen Nachrichten und den WDR gearbeitet. Im Jahr 1998 fing er bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an, zunächst als Korrespondent in Stuttgart. Ein Jahr später ging er als Korrespondent zunächst für Südostasien und China, ab 2008 für den Süden Asiens einschließlich des Pazifikraums nach Singapur. Dort wurde auch seine Tochter geboren, die inzwischen in Münster studiert. Nach einem Vierteljahrhundert im indo-pazifischen Raum gerade zurückgekehrt, lebt er nun wieder in Münster und baut für die F.A.Z. einen Newsletter zur Weltwirtschaft auf. Christoph Hein hat zahlreiche Bücher publiziert, zuletzt mit „Australien 1872“ einen Bildband über einen deutschen Goldsucher auf dem fünften Kontinent.

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