Die Kolumne von Michael Jung | Willkommen zurück im Schützengraben


Münster, 14. November 2021
Guten Tag,
seitdem die Ratsmehrheit im Herbst konkrete Beschlüsse zur Verkehrswende gefasst hat und es nicht bei Verkehrsversuchen bleiben soll, ist was los in der Stadt. Die Meinungen gehen naturgemäß auseinander – ganz vorne dabei im Chor des Protests: Die Wirtschaft, oder besser gesagt: die, die für sie zu sprechen meinen. So ließ sich der Vorsitzende des Regionalausschusses Münster der Industrie- und Handelskammer Nord Westfalen öfter mit scharfen Worten vernehmen. Von „Unverständnis und Sorge“ um den Wirtschaftsstandort war da die Rede, wenn es um die Grundsatzbeschlüsse ging. Als die Stadt vor dem Hauptbahnhof eine durchgängige Busspur als Verkehrsversuch einrichtete, tönte es lautstark aus derselben Ecke: Sofort abbrechen!
Solche Statements sind bemerkenswert, gerade weil sie von der IHK kommen. Der Unternehmer Thomas Siepelmeyer aus Münster hatte vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig ein Grundsatzurteil erkämpft, das den großzügigen allgemeinpolitischen Stellungnahmen der Kammern enge Grenzen setzte. Es verpflichtete die IHK Nord Westfalen sogar zum Austritt aus dem Dachverband.
Die Unternehmen sind nicht freiwillig Mitglieder der Kammern, sie sind gesetzlich dazu verpflichtet. Deutschlands höchste Verwaltungsrichter sahen daher durchaus Anlass, Zurückhaltung im politischen Meinungsstreit einzufordern. Die Änderung der bundesgesetzlichen Grundlage erlaubt den Kammern seit Kurzem wieder mehr Politik. Die lokalen Akteure ficht daher die Mahnung zur Zurückhaltung offenbar derzeit nicht mehr an. Mit großem Geschrei und freundlicher publizistischer Begleitung durch die Westfälischen Nachrichten geht man kommunalpolitisch ins Kampfgetümmel.
Kritik an der fehlenden Konstanz
Die freiwilligen Zusammenschlüsse der Wirtschaft, so zum Beispiel die Wirtschaftsinitiative Münster, wollten da nicht zurückstehen und legten nach: So beließ es der stellvertretende Vorsitzende der Vereinigung nicht bei einer Kritik an den Verkehrsbeschlüssen, sondern wurde grundsätzlich: Man müsse „fehlender Konstanz und Kompetenz der Politik entgegenwirken“, verkündete er, die Westfälischen Nachrichten setzten den neuen Vorstand der Initiative gleich groß mit ins Bild.
Auch das war bemerkenswert, stand da doch neben dem Stellvertreter mit den markigen Worten auch der Vorsitzende der Initiative. Das ist der Ratsherr Mathias Kersting, der es im Rathaus in den letzten zehn Monaten vom SPD-Fraktionsvorsitz nach einem Parteiwechsel bis in den CDU-Fraktionsvorstand geschafft hat. Die Kritik an der fehlenden Konstanz in der Rathauspolitik kommt also aus berufenem Kreis.
Diese beiden Beispiele mögen zeigen: Die Wirtschaftsverbände sind derzeit um den groben Keil nicht verlegen, wenn es um Veränderungen in der Verkehrspolitik in Münster geht. So war das schon einmal, nämlich in den 1990er-Jahren unter der SPD-Oberbürgermeisterin Marion Tüns.
Auch damals wurde die Verkehrspolitik zum politischen Hauptkampfplatz, und die Vertreter der Wirtschaft waren vorneweg dabei. In den Jahren danach aber hatte sich ein bemerkenswerter Wandel hin zu mehr Nachdenklichkeit und Dialogbereitschaft angebahnt.
Ein Generationswechsel mit neuen Akteuren sorgte auch für einen neuen Stil. So hatte insbesondere der langjährige Sprecher der Initiative Starke Innenstadt (ISI) und zeitweilige Vorsitzende des Vereins der Kaufmannschaft, Matthias Lückertz, sich bemüht, die Türen der Wirtschaft und der Kaufmannschaft auch für den Dialog mit der Stadt weiter zu öffnen. Dabei war man mit allen demokratischen Parteien im Gespräch und versuchte, den rapiden Wandel der Stadt programmatisch auch aus Wirtschaftssicht zu erfassen.
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Hinzu kamen neue Initiativen der Wirtschaft in den einzelnen Stadtquartieren, die einen überaus konstruktiven und engagierten Beitrag zur Entwicklung der Stadtteile leisten – und das durchaus auch mit erheblichem Mitteleinsatz. Ein Beispiel dafür ist die Immobilien- und Standortgemeinschaft (ISG) Bahnhofsviertel, die sich Verdienste um neue Konzepte für das Bahnhofsviertel erworben hat. Dazu gehören aber auch viele Straßen- und Stadtteilinitiativen der Wirtschaft. Die Zeichen standen also in den letzten Jahren auf Dialog und konstruktive Debatte.
Diesem Trend folgte auch die IHK. Unter der Präsidentschaft von Benedikt Hüffer, Verleger der Westfälischen Nachrichten, traf sie eine der interessantesten Personalentscheidungen der letzten Jahre in Münster. Sie berief Fritz Jaeckel zum Hauptgeschäftsführer.
Der brachte eine bemerkenswerte Vita mit – kam er doch aus einempolitischen Umfeld, das an interessante Zeiten der jüngeren Stadtgeschichte erinnerte. In seinem Werdegang ist er eng mit Georg Milbradt verbunden, dem späteren sächsischen Ministerpräsidenten, der in den 1980er-Jahren als Kämmerer zusammen mit dem damaligen Oberbürgermeister Jörg Twenhöven, dem CDU-Fraktionsvorsitzenden Ruprecht Polenz und dem Dezernenten Berthold Tillmann ein schwarzes Innovationsteam im Rathaus geführt hatte, das nicht nur intellektuelles Format, sondern auch Ideen für die Stadt hatte.
Danach war Jaeckel mit seinem Mentor Milbradt nach Sachsen gegangen, und stieg dort (nach einer gescheiterten Bewerbung als Dezernent in Münsters Verwaltung 2004) bis zum Chef der Staatskanzlei und zum Koordinator der sächsischen Regierungspolitik auf. Nach dem Amtsantritt des jetzigen Ministerpräsidenten Kretschmer in Dresden aufs Abstellgleis geschoben, vollzog Jaeckel dann den Wechsel zurück nach Münster.
Ein Nachfolgekandidat für Lewe?
Ein IHK-Hauptgeschäftsführer kam da also, der nicht nur gut vernetzt ist, sondern auch das politische Geschäft versteht. Ein Mann, mit dem sogleich die Frage verbunden war, ob mehr dahintersteht. Der eine oder andere in der CDU, der sich noch an die Köpfe der 1980er-Jahre erinnert und mit denen der eher tristen CDU-Gegenwart vergleicht, mochte schon die leise Hoffnung haben, hier sei ein potenzieller Lewe-Nachfolgekandidat erschienen.
Es zeigte sich rasch, dass Jaeckel politische Professionalität mit einem komplett anderen Stil verband, als ihn sein Vorgänger in der IHK an den Tag gelegt hatte. Dazu gehörte das Netzwerken mit allen Akteuren und die Dialogbereitschaft mit einem weiteren Spektrum der Stadtgesellschaft – es war also Zeit für Gespräche und Meinungsaustausch, nicht für Konfrontation.
Es kam zu einer Professionalisierung. Anders als zuvor lud man die Kommunalpolitik jetzt nicht mehr vor und verteilte hinterher Noten (FDP sehr gut, CDU gut plus), sondern man suchte den inhaltlichen Dialog, übrigens auch zur Verkehrspolitik. Und die klügeren Köpfe in der Wirtschaft und insbesondere in der Kaufmannschaft gaben zu erkennen, dass die Zeit der alten Bleifußpolitik im Verkehr vorbei sein könnte.
In diesem Herbst aber erlebt Münster wieder Wirtschaftsverbände, die gegen die Verkehrspolitik schießen, als hätte es Zeiten des Dialogs nie gegeben. Das liegt auch daran, dass der frühere NRW-Ministerpräsident Laschet Jaeckel im Sommer zum Beauftragten für den Wiederaufbau nach der Flutkatastrophe ernannte und andere Akteure aus der Dialogzeit in die zweite Reihe getreten sind. Jetzt ist offenbar keine Zeit mehr für das Florett, sondern für den groben Klotz. Jetzt wird missliebige Politik wieder abgekanzelt – willkommen zurück im Schützengraben.
Auto-Shopping-Konzept
Doch mit diesem Ansatz könnten sich die Lautsprecher der Wirtschaftsorganisationen letztlich selbst mehr schaden als nützen. Die Stadt hat sich in den letzten dreißig Jahren massiv verändert, und die 1990er-Jahre werden nicht zurückkehren.
Der stationäre Einzelhandel in der Innenstadt steht vor existentiellen Herausforderungen – und die City muss stadtplanerisch und strategisch neu konzipiert werden. Es braucht neue Anlaufpunkte und zukunftsfähige Handelskonzepte, neue Warendistributionsideen und mehr Aufenthaltsqualität, wenn die City auch morgen noch belebt sein soll.
Mit dem reinen Auto-Shopping-Konzept kommt man nicht mehr weiter – und das wissen die Kaufleute in der Innenstadt auch selbst besser als alle anderen. Längst haben sich etablierte Traditionsunternehmen mit neuen und spannenden Konzepten auf den Weg gemacht. Es ist ein Rätsel, wie man vor diesem Hintergrund auf die Idee kommen kann, zu pauschalen Verrissen aller Verkehrswendeansätze zu kommen, ohne selbst erkennbare und konstruktive Vorschläge in die Debatte einzubringen.
Man kann nicht die Schließung von Innenstadtstraßen für den Autoverkehr mit dem Argument der Erreichbarkeit der Innenstadt verurteilen und gleichzeitig die Beschleunigung des innerstädtischen Busverkehrs ablehnen. Die Wirtschaftsverbände laufen mit ihrem aktuellen Konfrontationskurs Gefahr, dass selbst berechtigte Anliegen nicht mehr gehört und wahrgenommen werden, weil sie im Konfliktgeschrei untergehen. Dass Wähler:innen nicht mehr ohne Weiteres bereit sind, jedem Wirtschaftsargument zu folgen, sollte spätestens der Bürgerentscheid zum verkaufsoffenen Adventssonntag vor wenigen Jahren gelehrt haben.
Am Ende ist es vor allem die Frage an diejenigen, die wirklich die Wirtschaft sind und jeden Tag in ihren Unternehmen arbeiten, ob sie den derzeitigen Akteur:innen im Konflikt zutrauen, in dieser Tonlage Gehör für die echten Anliegen zu finden. Es wird Zeit für die Debatte um Konzepte. Dazu gehört, dass man welche vorlegt, wenn einem andere nicht gefallen. Das ist die Voraussetzung für eine Debatte.
Herzliche Grüße
Ihr Michael Jung
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Über den Autor
Michael Jung lebt schon immer in Münster. Er wurde 1976 hier geboren. Er hat an der Uni Münster Latein und Geschichte studiert und in Geschichte promoviert. Heute ist er Lehrer am Annette-Gymnasium in Münster. Michael Jung war viele Jahre in der Politik: Von 2013 bis 2020 war er Fraktionschef der SPD im Rat der Stadt, im Jahr 2020 trat er für die SPD bei den Kommunalwahlen als Oberbürgermeisterkandidat an.
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Die fehlende Konstanz sehe ich auch, allerdings bei einer anderen politischen Entscheidung. Das Baugebiet südlich Markweg wurde bebaut, obwohl laut Flächennutzungsplan es als Frischluftschneise ausgewiesen war.
Jetzt ist das Baugebiet an der Vogelstange abgelehnt worden, obwohl wir Wohnungen in dieser Stadt benötigen.
Ist die Innenstadt weniger wichtig als Hiltrup, oder gilt jetzt das St. Florians Prinzip?
Kolumnen drücken aus, was der Verfasser seinen Lesern sagen möchte. Insofern muss man weder mit Herrn Jung noch mit Herrn Polenz immer übereinstimmen. Hier hat Michael Jung den Nagel aber passgenau aufg den Kopf getroffen. Die Schützengräben waren ja nie beseitigt - so lange nicht wirklich an den Grundfesten der qutogerechten Stadt gerüttelt wurde. Wer sich noch an den Kommunalwahlkampf 1999 erinnert, weiß, mit welchen Mitteln und Methoden seinerzeit die Kumpanei aus CDU/FDP, Lokalzeitungen und ihren Unterstüzerorganisationen funktioniert hat. Nachdem besagte Parteien derzeit und bis auf Weiteres in MS nicht mehr am Ruder sind, werden alle Mittel und Möglichkeiten genutzt, den politischen Gegner mit Dreck zu bewerfen - frei nach dem Motto: es bleibt schon was hängen. In diesen Kontext passt auch die publizistische Orchestrierung der Vorgänge um den Volkstrauertag - erinnert fatal an die Kampagnen gegen die SPD im Kaiserreich und danach als ‚vaterlandslose Gesellen‘. Allerdings trifft’s diesmal die Grünen.
Wir dürfen uns sicher in Zukunft auf viele weitere Kampagnen ähnlicxhen Zuschnitts ‚freuen‘.
Die Kolumne hat mir gute Hinweise gegeben, wie ich meine Störgefühle einordnen kann, was die Äußerungen von diesen Verbänden betrifft. Leider fehlt ein gesellschaftliches Gegengewicht mit einer vergleichbaren Reichweite (oder Lautstärke?) und einer sachlichen Kompetenz. Immerhin sind die Überlegungen der Mobilitätsveränderungen das Ergebnis eines demokratischen Prozesses. Die Stadt besteht ja nicht nur aus Nein-Sagern.
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