Die Kolumne von Carla Reemtsma | Das Problem mit dem Auto


Münster, 20. Februar 2022
Guten Tag,
erst vor wenigen Tagen veröffentlichte die Stadt einen Zwischenbericht zum Masterplan Mobilität 2035+. Während die Gutachter:innen regelrecht ins Schwärmen gerieten, als sie über den Auftrag „die Fahrradstadt Deutschlands“ zu untersuchen schreiben, attestieren sie der Stadt trotzdem einige Risiken im Hinblick auf die Entwicklung im Verkehrsbereich. Der Verkehr – er bleibt neben bezahlbarem Wohnraum ein Sorgenkind der Politiker:innen von Kommunal- bis Bundesebene.
Während landauf, landab von Verkehrswende und nachhaltiger Mobilität gesprochen wird, fallen die konkreten Veränderungen häufig eher geringfügig aus. Beispiele finden sich dabei nicht nur in Berliner Bezirken, in denen der Kampf um einen lediglich farblich auf der Straße gekennzeichneten Fahrradweg auf einer mehrspurigen, potenziell lebensgefährlichen Straße auch mal mehrere Jahre dauert, sondern genauso in Münster, wo die neue Ratskoalition zwar viele Anträge schreibt, aber konkret kaum vorankommt.
Auch ein anderer Negativtrend geht am sonst verkehrspolitisch hochgelobten Münster nicht vorbei: Während 2021 der Autobestand in Deutschland trotz Pandemie auf einen historischen Höchststand geklettert ist, hat auch Münster in den vergangenen Jahren einen deutlichen Zuwachs an Privatautos erlebt.
Infrastruktur erreicht Leistungsgrenzen
Das ist doppelt bemerkenswert. Zum einen, weil die Pendelverkehre zum Arbeitsplatz zunehmen, diese Autobesitzer:innen aber zumeist im Münsterland und nicht in der Stadt selbst wohnen. Zum anderen, weil die Stadt vermehrt Versuche unternimmt, Menschen anzuregen Autos abzuschaffen oder zumindest keine neuen anzuschaffen.
Gleichzeitig kommt die Autoinfrastruktur schon jetzt in den Spitzenzeiten ihre Leistungsgrenzen, was jede:r im morgendlichen und nachmittäglichen Stau auf der Weseler, Wolbecker, Grevener, Steinfurter und Hammer Straße miterleben kann. Die Entwicklung der Verkehrssituation in Münster zeigt somit unter dem Brennglas die Tendenzen und Probleme auf, die sich auch in anderen Städten beobachten lassen.
Die allein schon aufgrund der Klimaziele dringend notwendige Verkehrswende kann nicht alleine durch eine Antriebswende und Elektrifizierung gelingen, denn die Straßen haben schlicht nicht genug Platz für alle Menschen, wenn diese einzeln oder zu zweit in immer größer werdende Blechbüchsen verpackt werden. Die Verkehrswende muss immer eine Mobilitätswende mit Ausbau von Bus, Bahn und Fahrradwegen sowie einer klaren finanziellen Anreizstruktur für den Umstieg weg vom Auto sein.
Von einer Debatte mit anschließender Umsetzung einer so grundsätzlichen Verkehrswende sind wir allerdings noch meilenweit entfernt. Das beste Beispiel dafür ist der FDP-Verkehrsminister Volker Wissing. Als Minister des Ressorts, das seit mehr als zwei Jahrzehnten dabei versagt, seine Emissionen zu senken, kommt Wissing in dieser selbsternannten „Klimaregierung“ eine gigantische Aufgabe zu.
Papierkrieg über Flottengrenzwerte
Nachdem viele den Verkehrssektor mit Verkündung der Ressortverteilung direkt wieder für die nächsten vier Jahre abgeschrieben hatten, weil sie einem FDP-Minister jegliche ökologisch orientierte Handlungsbereitschaft absprachen, überraschte er mit Aussagen zum innerstädtischen Tempolimit und einem klaren Bekenntnis zur E-Mobilität. Dass der Verkehrsminister diese Aussagen nur wenige Wochen später wieder revidiert hat, wäre ein Grund für einen Aufschrei – Widerstand kommt jedoch primär in Form eines Papierkriegs mit der grünen Umweltministerin Steffi Lemke.
Papierkrieg über Flottengrenzwerte hin oder her; das Grundproblem bleibt ein anderes. Während der politische Diskurs noch irgendwo zwischen Tempolimit und synthetischen Kraftstoffen hängengeblieben ist, sind die gesellschaftlichen Fragestellungen längst andere. Jedes fünfte Werk der Automobil- und Zuliefererindustrie ist von der Schließung bedroht, wahlweise aufgrund von Auslagerung in Länder mit billigeren Produktionsbedingungen oder aufgrund der Umstellung die Herstellung von E-Autos.
Die Bus- und U-Bahn-Fahrer:innen sind vielerorts sozialhilfeberechtigt. Es ist offensichtlich: Die Frage nach einer praktikablen und gerechten Ausgestaltung unseres Verkehrssystems geht weit über die technischen Aspekte verschiedener Antriebsarten hinaus. Eine ernstgemeinte Verkehrswende wird Grundfesten unseres individuellen wie kollektiven Verständnisses von Mobilität umwerfen.
Mobilität ist ein menschliches Bedürfnis wie eine Voraussetzung für die Fortführung der individuelles Existenz in einer immer schneller werdenden, fragmentierten spätkapitalistischen Gesellschaft. Jetzt haben die Entwicklungen und Errungenschaften der Nachkriegsgesellschaft allerdings dazu geführt, dass wir dieses zutiefst menschliche Bedürfnis vielfach auf eine klimaschädliche und ungerechte Art erfüllen.
Erster Schritt zu echter Veränderung
Damit haben wir Abhängigkeiten vom Auto, von Subventionen, von Infrastruktur und und und geschaffen, die sich nicht so einfach von heute auf morgen auflösen lassen. Das gilt für die Frage nach individueller Mobilität genauso wie für Hunderttausende Arbeitsplätze, die in der deutschen Automobilindustrie für den Lebensunterhalt Hunderttausender sorgen. Zusammen mit einer finanzstarken und stimmgewaltigen Lobby sorgt das für den Fortbestand des Exportmodells des deutschen Autokapitalismus.
Doch davon werden wir uns nicht aufhalten lassen können. Wer von Verkehrswende spricht, meint keine lebensfernden Utopien aus dem Skizzenblock übermotivierter Stadtplaner:innen. Wenn Klimaaktivist:innen von Verkehrswende sprechen, dann geht es ebenso um die autofreie Innenstadt wie um bessere Löhne für die Angestellten im ÖPNV wie bei den gemeinsamen Streiks mit Fridays-for-Future-Aktivist:innen und Bus- und Bahnfahrer:innen im vergangenen Jahr klargemacht wurde.
Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass es natürlich zu Interessenskonflikten und Uneinigkeiten kommen wird. Dies auszusprechen und nicht – wie manche:r Verkehrspolitiker:in – darüber mit Geld und schönen Worten hinwegtäuschen zu wollen, ist ein erster wichtiger Schritt auf dem Weg zu echter Veränderung. Diese Veränderung muss logischerweise die Profiteur:innen des Status Quo zur Verantwortung ziehen und Alternativen eröffnen.
Statt das Bild der Krankenschwester mit Nachtschichten und 15 Jahre altem Diesel zur Verhinderung jeder Veränderung zu instrumentalisieren, sollten wir weniger unkreativ-beschränkt über den Ausbau von Bus und Bahn sprechen. Statt über Preissteigerungen als Anreiz zum Umstieg zu diskutieren, sollten wir lieber die Arbeitsplätze aufwerten, die das Fundament unserer klimagerechten Zukunft darstellen.
Von solchen Fragen ist unser Verkehrsminister noch weit entfernt. Aber selbst die Fahrradstadt Münster ist eher mit Trippelschritten unterwegs. Es bleibt viel zu tun.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag.
Viele Grüße
Carla Reemtsma
Diesen Beitrag teilen und RUMS weiterempfehlen:
Über die Autorin
Im Januar 2019 hat Carla Reemtsma den ersten Klimastreik in Münster organisiert. Es war eine kleine Kundgebung im Nieselregeln vor dem historischen Rathaus am Prinzipalmarkt. Wenige Wochen später sprach das ganze Land über die Klima-Proteste der „Fridays For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Münster beschloss das Ziel Klimaneutralität 2030. Inzwischen ist Carla Reemtsma eine der bekanntesten deutschen Klimaaktivistinnen. Geboren wurde sie in Berlin.
Die RUMS-Kolumnen
Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere sechs Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.
HINWEIS: RUMS steht für kritischen, aber auch konstruktiven und wertschätzenden Journalismus. Genauso wünschen wir uns auch die Diskussion unter unseren Beiträgen und Briefen. Streiten Sie sich, schreiben Sie Ihre Meinung — aber bleiben Sie bitte sachlich und höflich. Wir vertrauen darauf, dass Sie sich daran halten. Daher prüfen wir Ihre Kommentare nicht, bevor sie hier veröffentlicht werden. Wir behalten uns jedoch vor, alle Äußerungen zu entfernen, die beispielsweise beleidigend, diffamierend, sexistisch oder rassistisch sind.
Es ist so frustrierend, wenn man sich ansieht, was für eine Rolle Münster eigentlich spielen müsste und wie sehr die Stadt dabei unterm Strich versagt: Wo, wenn nicht in der sogenannten Fahrradstadt, sollte die Zukunft der Mobilität sonst veranschaulicht werden? Dafür reicht die halbgare Mischung aus Willensbekundungen und Marketing aber wirklich nicht aus. Zum Marketing gehört übrigens auch, dass Münster als „Fahrradstadt“ bezeichnet wird, wenngleich die gebotene Infrastruktur verglichen mit etlichen Beispielen aus dem Ausland dann doch eher peinlich ist.
Vielen Dank für diesen Brief, Frau Reemtsma!
Angesichts des verheerenden Krieges in der Ukraine zögere ich hier zum Thema „Autokapitalismus“ zu posten, aber wie so oft hängt alles mit, nun ja, zumindest Vielem zusammen. Nehmen wir den Weltzustandsbericht (IPCC, Teil II), veröffentlicht am heutigen Tage. Prof. Dr. Quaschning hat die passenden Worte zu den Verbindungen von der Abhängigkeit von Gas und Öl, unserem eigenen Handeln und den geopolitischen Fragen und den Bedarfen der (Um)Welt aktuell hinreichend beschrieben. Mir bleibt nur eine winzige Anmerkung zum Aspekt der „echten Veränderungen“ in Ihrem Brief:
Wenn ich mich nicht täusche, fehlt dem etablierten Statussymbol „teures Auto“ zunehmend der Applaus. Auch wenn die Autobauer nun in Absurditätsspitzen z. B. auf mehr als 600-PS-starke E-Mobile setzen und die Flotte der Kleinwagen, mangels Rendite, vernachlässigen sollten, treten echte Veränderungen m. E. dadurch ein, dass man auch als überdimensionierter (Hybrid- und auch E-Mobil-)SUV-Fahrer von einer breiten Öffentlichkeit nur noch als „egoistisch“ und „rückständig“ wahrgenommen wird und diesem Eindruck entgehen möchte – also auf den Kauf verzichtet. Ähnlich der in skandinavischen Ländern bekannten Flugscham kann eine „Angeber-Protzer-Autobesitzer“ Scham echte Veränderungen bewirken. Frage (auch an das RUMS Team): gibt es zur Veränderung der Wahrnehmung des Statussymbols „Auto“ Untersuchungen? Mir geht es zumindest so: dicke Karren wirken auf mich unsympathisch, angeberisch und, wie soll ich sagen, wenig „durchdacht“. Mit den Fahrer:innen möchte ich auch eher keine Geschäfte machen – sie vermitteln mir, dass sie sich in erster Linie von ihrem eigenen (egoistischen) Interesse und vom „Schein“ leiten lassen. Was das mit der Ukraine zu tun? Wenig. Eher mit Russland, seinen Milliardären und der Macht des Geldes. Bei den bisherigen (Friedens-)Verhandlungen fehlen übrigens Frauen. Ich freue mich auf den nächsten Brief, Frau Reemtsma!
Neu bei RUMS? Hier können Sie sich registrieren.