Marina Weisbands Kolumne | Helfen wir den Schulen

Müns­ter, 1. Novem­ber 2020

Lie­be Leser:innen,

ich will nicht sagen, dass der Schul­be­trieb zu ande­ren Zei­ten nicht frus­trie­rend ist. Schu­le, ihre Orga­ni­sa­ti­on, ihre Ver­wal­tung – das alles ist immer büro­kra­tisch und chao­tisch und frus­trie­rend. Schüler:innen hören nicht, Lehrer:innen sind über­las­tet, Digi­ta­li­sie­rung hinkt hin­ter­her und die Toi­let­ten sind meis­tens grot­tig. Es ist aller­dings eine beson­de­re Her­aus­for­de­rung, Schu­le wäh­rend Coro­na zu machen. 

Den gan­zen Tag erzählt man uns, was die Regeln für den siche­ren Umgang mit der Pan­de­mie sind, nur um Lehrer:innen und Schüler:innen in eine Situa­ti­on zu schi­cken, in der sie die­se Regeln nicht befol­gen kön­nen. Sie tref­fen sich zu vie­len Haus­hal­ten regel­mä­ßig in geschlos­se­nen Räu­men, wo Abstand unmög­lich ist. 

Die Ein­füh­rung der Mas­ken­pflicht hat bei Gesund­heits­äm­tern zu einer Ände­rung der Stra­te­gie geführt: Soll­te ein Kind im Klas­sen­ver­band posi­tiv auf Coro­na getes­tet wer­den, muss nicht mehr die gan­ze Klas­se in Qua­ran­tä­ne, son­dern nur noch die unmit­tel­ba­ren Sitznachbar:innen. Dabei ist hin­läng­lich bekannt, dass Aero­so­le bei der Über­tra­gung eine Rol­le spie­len, gern auch mal eine Rei­he über­sprin­gen und dass Mas­ken zwar schüt­zen, aber natür­lich kei­ne abso­lu­te Sicher­heit geben können. 

Das Ziel ist weiter Präsenzunterricht

Die Sicher­heits­maß­nah­men kon­zen­trie­ren sich der­zeit aufs Lüf­ten. Abge­se­hen davon, dass vie­le Schu­len Fens­ter nur kip­pen kön­nen oder nicht aus­rei­chend Fens­ter haben, ist Lüf­ten bei Stark­re­gen oder Käl­te auch ein­fach dem Unter­richt und der Gesund­heit abträg­lich. Luft­fil­ter­an­la­gen könn­ten hier hel­fen. Da der Win­ter aber, wie jedes Jahr, als gro­ße Über­ra­schung kommt, hat das Land Nord­rhein-West­fa­len erst nach den Herbst­fe­ri­en eine För­de­rung von 50 Mil­lio­nen für sol­che Anla­gen in Aus­sicht gestellt. Wann die Gel­der ver­füg­bar sein wer­den, ist der­zeit unklar. Wann davon tat­säch­lich Gerä­te ange­schafft wer­den kön­nen, noch unkla­rer. Bis wann alle die­se Gerä­te dann ver­teilt, abge­nom­men und instal­liert sind… 

Ich hof­fe sehr, dass wir bis dahin alle längst geimpft sind. 

Auch im ach­ten Monat der Pan­de­mie liegt das erklär­te Ziel der Schul­po­li­tik im Prä­senz­un­ter­richt. Die­ser gilt näm­lich, laut Bil­dungs­mi­nis­te­rin Yvonne Gebau­er, als „die bes­te Form des Ler­nens“. Das mag viel­leicht sogar stim­men (auch wenn ich sehr vie­le For­men des Ler­nens zu ergän­zen wüss­te). Es über­sieht nur zwei wich­ti­ge Details. 

Ers­tens, dass das unbe­ding­te Drän­gen auf abso­lu­ten Prä­senz­un­ter­richt um jeden Preis dem Erhalt des Prä­senz­un­ter­richts tat­säch­lich abträg­lich ist. Wenn das Infek­ti­ons­ge­sche­hen wei­ter explo­diert, wer­den Schul­schlie­ßun­gen unwei­ger­lich not­wen­dig. Und dann für alle Kin­der – selbst die Bedürftigsten. 

Zwei­tens hört man immer wie­der von Fäl­len, in denen Kin­der mit Vor­er­kran­kun­gen, oder sol­che, die mit Risi­ko­grup­pen zusam­men­le­ben, Pro­ble­me haben, sich vom Unter­richt frei­stel­len zu las­sen.

Tagesbetreuung für Kinder

Nicht prä­sent zu sein, bedeu­tet im Jahr 2020: nicht beschult wer­den. Ob das wirk­lich dem Ziel dient, allen Kin­dern die bes­te Bil­dung zukom­men zu las­sen, ist nicht immer klar. Immer häu­fi­ger regt sich bei mir der Ein­druck, dass Schu­le von der Poli­tik viel­fach als Tages­be­treu­ung für Kin­der ver­stan­den wird, die haupt­säch­lich Arbeitnehmer:innen die Prä­senz am Arbeits­platz erlau­ben soll. Die Qua­ran­tä­ne­maß­nah­men sind ja ten­den­zi­ell sehr freizeitzentriert.

Dabei gin­ge es in jeder Hin­sicht bes­ser. Man stel­le sich vor, wir wür­den die Klas­sen auf­tei­len. Schu­len könn­ten bei­spiels­wei­se im Wochen­wech­sel jeweils die hal­be Klas­se in Prä­senz und die ande­re Hälf­te in der Fer­ne unter­rich­ten. Kon­zep­te für „hybri­den Unter­richt“ gibt es vie­le (Ich emp­feh­le drin­gend die­ses Video des Leh­rers Phil­ip­pe Wampf­ler dazu). Die Schüler:innen, die zuhau­se nicht die not­wen­di­ge Betreu­ung, För­de­rung, Gerä­te oder Räum­lich­kei­ten haben, könn­ten in ande­re Räu­me aus­wei­chen, die der­zeit auch nicht inten­siv genutzt wer­den – bei­spiels­wei­se Biblio­the­ken, Gemein­de­sä­le oder Universitätsräume. 

Von dort aus könn­ten sie in die Stun­de schal­ten, die zur Ver­fü­gung gestell­ten Mate­ria­li­en durch­fors­ten, an ihren Pro­jek­ten arbei­ten und betreu­en­de außer­schu­li­sche Erwach­se­ne um Hil­fe fra­gen. In den Klas­sen hät­te man dann dop­pelt so viel Platz für Distanz, man hät­te weni­ger vol­le Schul­bus­se, das Hän­de­wa­schen dau­ert kei­ne hal­be Stun­de. Außer­dem hät­te jeder Raum Fil­ter­an­la­gen und könn­te dar­um halb­wegs lebens­freund­li­che Tem­pe­ra­tu­ren selbst im tiefs­ten Win­ter hal­ten – auch wenn natür­lich wei­ter­hin regel­mä­ßig gelüf­tet wer­den müsste. 

Der zweitbeste Zeitpunkt ist jetzt

Auf die­se Wei­se könn­te es gelin­gen, tat­säch­lich sinn­vol­len und guten Unter­richt auch wäh­rend der Pan­de­mie leis­ten zu kön­nen. Die erfor­der­li­che Wei­ter­bil­dung und Wei­ter­ent­wick­lung der Didak­tik sind dabei weit über Pan­de­mie­zei­ten hin­aus sinn­voll: Das selbst­stän­di­ge­re, pro­jekt­ori­en­tier­te­re Ler­nen, das Auf­su­chen kom­mu­na­ler Räu­me außer­halb der Schu­le, das höhe­re Ver­trau­en in die Neu­gier der Schüler:innen sind Merk­ma­le zeit­ge­mä­ßer Bil­dung in einer digi­ta­li­sier­ten Welt. Coro­na könn­te ein Anstoß dafür sein. 

Der bes­te Zeit­punkt, das alles zu pla­nen und vor­zu­be­rei­ten wäre natür­lich spä­tes­tens im Mai gewe­sen, als die jet­zi­ge Situa­ti­on bereits erwar­tet wur­de. Der zweit­bes­te Zeit­punkt ist jetzt. Denn das ist die frü­hes­te Zeit, die wir aktiv beein­flus­sen kön­nen. Und die Zivil­ge­sell­schaft kann tat­säch­lich eine Men­ge tun, wenn die Ver­wal­tung durch ihre eige­nen Rege­lun­gen etwas trä­ge ist. 

Ich habe mich in der letz­ten Woche in ver­schie­de­nen Schu­len in Müns­ter erkun­digt, ob es mög­lich ist, Luft­fil­ter­an­la­gen zu spen­den. Auf­grund des Gleich­stel­lungs­ge­bo­tes ist die Spen­de von tech­ni­schen Gerä­ten an Schu­len schwie­rig. Von der Stadt selbst habe ich bis­her lei­der kei­ne Ant­wort erhal­ten, aber vie­le Schu­len haben gesagt, dass Spen­den von Luft­fil­ter­an­la­gen ihnen will­kom­men wären. 

Eine Spen­de darf an kei­ne Gegen­leis­tung oder Wer­bung geknüpft wer­den. Ein Unter­neh­men könn­te sich aber durch­aus auf die Web­site schrei­ben, dass es gehol­fen hat, im Win­ter den Schul­un­ter­richt auf­recht zu erhal­ten. Sie kön­nen sich also bei Ihrer loka­len Schu­le erkun­di­gen, ob es einen Bedarf gibt und was zu beach­ten ist, wenn man ein Gerät spen­den möch­te. Da der Bedarf gera­de hoch ist, soll­te die Anschaf­fung sehr schnell erfolgen.

Die Zivilgesellschaft kann helfen

Wenn die Prä­senz­pflicht auf­ge­ho­ben wer­den soll­te, ist es wich­tig, dass Kin­der nicht wie­der ganz auf sich allein gestellt sind, wenn sie auf Distanz ler­nen müs­sen. Nicht alle haben ein eige­nes Zim­mer, nicht alle kön­nen tags­über betreut wer­den. Auch hier kön­nen kom­mu­na­le Pro­jek­te Fami­li­en auf­fan­gen und Kin­dern Räu­me öff­nen, in denen sie aus der Distanz ler­nen kön­nen. Jede Bemü­hung, sowas von Regie­rungs­sei­te zu orga­ni­sie­ren, wird von tau­send Ver­si­che­rungs­fra­gen zer­mürbt. Aber pri­va­te Ver­ab­re­dun­gen sind etwas Ande­res. Eine gute Gele­gen­heit, Müns­ter noch­mal neu zu erkun­den. Wo sind Räum­lich­kei­ten, in denen sich gut und sicher ler­nen lässt? Und wel­che mei­ner Nachbar:innen brau­chen Hilfe? 

Eine Schul­ver­wal­tung ist qua­si per Defi­ni­ti­on nicht auf Kri­se aus­ge­legt. Eine Kri­se erfor­dert Krea­ti­vi­tät und Schnel­lig­keit und Aus­pro­bie­ren. Wir, die Zivil­ge­sell­schaft, haben die­se Fähig­kei­ten. Und es ist unse­re Pflicht, denen unter die Arme zu grei­fen, die Tag um Tag der nächs­ten Gene­ra­ti­on beim Wach­sen und Ler­nen hel­fen. Es ist unser aller nächs­te Generation. 

Ich freue mich auf Ihre Ideen und Vor­schlä­ge, wie wir zusam­men Schu­len unter­stüt­zen können. 

Herz­lichst

Ihre Mari­na Weisband


Über Marina Weisband

Mari­na Weis­band ist Diplom-Psy­cho­lo­gin und in der poli­ti­schen Bil­dung aktiv. Beim Ver­ein „poli­tik-digi­tal“ lei­tet sie ein Pro­jekt zur poli­ti­schen Bil­dung und zur Betei­li­gung von Schü­lern und Schü­le­rin­nen an den Regeln und Ange­le­gen­hei­ten ihrer Schu­len („aula“). Von Mai 2011 bis April 2012 war sie poli­ti­sche Geschäfts­füh­re­rin der Pira­ten­par­tei Deutsch­land. Heu­te ist sie Mit­glied der Grü­nen. Sie lebt in Münster.