Die Kolumne von Marion Lohoff-Börger | Hinterfragen wir die Münster-Liebe

Müns­ter, 16. Juli 2023

Guten Tag,

ich sit­ze am Küchen­tisch eines fei­nen, klei­nen Feri­en­hau­ses im Sau­er­land und schaue aus dem boden­tie­fen Küchen­fens­ter auf die sanf­ten, grü­nen Hügel. Die sei­en nach Kyrill vor zwölf Jah­ren mit Lär­chen wie­der auf­ge­fors­tet wor­den, erklär­te uns ges­tern die Vermieterin.

Nach­dem es in mei­ner letz­ten RUMS-Kolum­ne um Mase­mat­te und ihre spen­da­ble Groß­tan­te, das Jid­di­sche, ging, will ich mir dies­mal die zwei­te gro­ße Spen­der­spra­che der Mase­mat­te vor­neh­men – das Roma­nes oder auch Roma­ni, wie man­che sagen. 

20 Pro­zent der Wör­ter aus der Mase­mat­te stam­men aus dem Roma­nes der Spra­che der Sinti:zze und Rom:nja. Soll­te ich das ver­wandt­schaft­li­che Ver­hält­nis zur Mase­mat­te par­al­lel zum Jid­di­schen beschrei­ben, so wür­de ich sagen, ist sie eher die klei­ne Schwes­ter, die gelernt hat, still zu hal­ten und nicht auf­zu­be­geh­ren, um fried­lich exis­tie­ren zu können. 

Ein gemein­sa­mes Merk­mal mit der Mase­mat­te ist, dass bei­de Spra­chen grund­sätz­lich nur münd­lich gespro­chen wur­den und es dem­nach kei­ne Ver­schrift­li­chung und damit auch kei­ne im übli­chen Sin­ne über­prüf­ba­ren Zeug­nis­se und Quel­len gibt. 

Das Roma­nes hat eine wech­sel­vol­le Geschich­te, genau­so wie die Men­schen, die es spre­chen. Sie stamm­ten ursprüng­lich aus Indi­en und wan­der­ten ab dem 8. bis 10. Jahr­hun­dert über Per­si­en nach Klein­asi­en und den Kau­ka­sus (Arme­ni­en).

Eine Meltingpot-Sprache

Ab dem 13. und 14. Jahr­hun­dert zogen sie über Grie­chen­land und dem Bal­kan nach Mit­tel-, West- und Nord­eu­ro­pa. Ihre ers­te und ursprüng­li­che Spra­che, das Alt­in­di­sche, nah­men sie mit und rei­cher­ten die­se mit Wor­ten aus den orts­üb­li­chen Spra­chen an. Das sind unter ande­rem Far­si, Kur­disch und Tür­kisch bis hin zu Pol­nisch und Rumä­nisch. Roma­nes ist dem­nach ähn­lich wie die Mase­mat­te eine Meltingpot-Sprache. 

In reli­giö­ser Hin­sicht haben sich die Rom:nja dem Glau­ben der Bevöl­ke­rung ange­passt, mit der sie leb­ten. Also ganz anders als beim Jid­di­schen, deren Wör­ter am häu­figs­ten in der Mase­mat­te Ver­wen­dung gefun­den haben, ist das Roma­nes nicht durch die Spi­ri­tua­li­tät einer ein­zi­gen Welt­re­li­gi­on geprägt.

Aber jetzt mal kon­kret: Wie hört sich das denn an? Oder bes­ser, wie liest es sich? Neh­men wir den von mir kon­stru­ier­ten Satz auf Mase­mat­te. Alle vier kur­siv gedruck­ten Wör­ter kom­men aus dem Romanes:

„Pichel lie­ber ‘nen Pani statt ‘ner Lowi­ne, wenn du mit dem Wud­di fährst, sonst bis­te tacko dei­ne Flep­pe los und dein Lowi bleibt bei der Husche.“ 

Auf Hoch­deutsch bedeu­tet das: Trin­ke lie­ber ein Was­ser statt eines Biers, wenn du mit dem Wagen fährst, sonst bist du schnell dei­nen Füh­rer­schein los und dein Geld bleibt bei der Polizei.

Das Wort „pani“ für Was­ser ist mein Lieb­lings­bei­spiel für Roma­nes bei mei­nen Vor­trä­gen und Lesun­gen. Es stammt aus dem Sans­krit, einer alt­in­di­schen Spra­che und wur­de durch Migra­ti­on von den Sinti:zze und Rom:nja nach Müns­ter in die klei­nen Vier­tel Plug­gen­dorf, Klein Muf­fi, dem Sonn­stra­ßen- und dem Kuh­vier­tel gebracht. Eben­so das bekann­te Wort „Lowi­ne“. Es kommt aus dem Rumä­ni­schen und bezeich­net dort wie in Müns­ter das Bier. 

„Grü­ne Inseln für Kin­der­haus“ sucht Verstärkung

Seit zehn Jah­ren pfle­gen wir die Bee­te auf den Kreis­ver­keh­ren in unse­rem Stadt­teil und bekom­men dafür viel Lob und Dank von unse­ren Mit­men­schen. Dabei freu­en wir uns über tat­kräf­ti­ge Mit­ar­beit. Wir tref­fen uns don­ners­tags von 10 bis 11 Uhr zur Arbeit an den Bee­ten und sind an den gel­ben Wes­ten gut zu erkennen.

Inter­es­se? Schrei­ben Sie uns gerne!

„Wud­di“ ist vie­len bekannt, bei­spiels­wei­se heißt ein Jugend­zen­trum in Kin­der­haus im Kap 8 so und hat sei­ne Her­kunft aus dem Osse­ti­schen, einer Spra­che, die im Iran gespro­chen wur­de. Das „Lowi“, also das Geld, ist wie­der­um alt­in­di­schen Ursprungs und bedeu­te­te dort Gold, rotes Metall, Kup­fer oder Eisen. 

Die­se Infor­ma­tio­nen fin­de ich in dem Wör­ter­buch von Sieg­mund Wolf. Der Bus­ke-Ver­lag hat es 1993 neu auf­ge­legt (nach mei­nem Ein­druck wäre es zu der Zeit durch­aus schon mög­lich und ange­bracht gewe­sen, in der Über­schrift auf das Z-Wort zu ver­zich­ten). Sehr inter­es­sant und viel weit­rei­chen­der und dif­fe­ren­zier­ter ist die Daten­bank Rom­lex der Uni Graz, wo detail­liert euro­pa­weit gesam­mel­te Roma­nes­wör­ter erforscht werden. 

Als ich mich frag­te, wie das Leben der Sinti:zze und Rom:nja in Müns­ter seit der Mit­te des 19. Jahr­hun­derts, also mit dem Beginn der Mase­mat­te war, habe ich wenig gefun­den. Es war nie­der­schmet­ternd: Gab ich „Sin­ti und Roma“ in ver­schie­de­nen Such­por­ta­len ein (die gegen­der­te Form ging gar nicht), war der Infor­ma­ti­ons­fluss spär­lich. Gab ich das Z-Wort ein, war der Ertrag größer. 

Eine Quel­le, die tat­säch­lich sehr hilf­reich war, war eine Auf­ar­bei­tung der Gesamt­schu­le Müns­ter-Mit­te, die über die Fami­lie Wag­ner im Kuh­vier­tel recher­chiert hat. Fami­lie Wag­ner wohn­te auf der Brink­stra­ße, also im heu­ti­gen Kuh­vier­tel und muss mit Sicher­heit zu den Masemattesprecher:innen gehört haben. Die Auf­ar­bei­tung der Oberstufenschüler:innen aus dem Jahr 2021 ist lesens­wert und gut gemacht.

Die zwei­te Quel­le, die einen Blick auf die Masemattesprecher:innen im Kuh­vier­tel wäh­rend der NS-Zeit wirft, ist der Bericht „Mar­got Krau­se muss gemel­det wer­den“ aus dem Buch: Z***verfolgung im Rhein­land und West­fa­len 1933 – 1945. Geschich­te, Auf­ar­bei­tung und Erin­ne­rung“ her­aus­ge­ge­ben von Karo­la Frings und Ulrich Opfer­mann aus dem Jahr 2012 (sic!).

Hier wird das Kuh­vier­tel erwähnt, so wie wir es aus dem all­seits bekann­ten Spruch ken­nen, der eine gan­ze Men­schen­grup­pe kri­mi­na­li­siert: „Tasche, Brink und Rib­ber­gas­se – Mes­ser­ste­cher ers­ter Klas­se“. Mar­got Krau­se leb­te in Gre­ven, wur­de von den Behör­den ihrer Pfle­ge­mut­ter weg­ge­nom­men und nach Hamm in das katho­li­sche Kin­der­heim Vorst­erhau­sen gebraucht. Sie wur­de am 24. Febru­ar 1944 in Ausch­witz ermor­det. In Gre­ven gibt es heu­te einen Margot-Krause-Weg.

Gedenktag für den Völkermord

Schau­te ich auf die Sei­ten der Stadt Müns­ter, so las ich dort das, was all­ge­mein über das Leben der Sinti:zze und Rom:nja in Deutsch­land bekannt ist, aber nichts Spe­zi­fi­sches über ihr Leben in Müns­ter. Über­schrie­ben ist die Sei­te mit „For­schungs- und Gedenk­pro­jekt“. Die Schick­sa­le der Men­schen jüdi­schen Glau­bens sind wesent­lich bes­ser auf­ge­ar­bei­tet. Mit einer App des WDR kann man übri­gens seit kur­zem in jeder Stadt nach Stol­per­stei­nen suchen, so eben auch in Münster. 

Wuss­ten Sie, dass es par­al­lel zum Holo­caust­ge­denk­tag am 27. Janu­ar auch einen eige­nen Gedenk­tag für den Völ­ker­mord an den Sinti:zze und Rom:nja gibt? Das ist der 2. August eines jeden Jah­res.

„Am 2. August geden­ken wir der letz­ten 4.300 Sin­ti und Roma des Deut­schen NS-Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers Ausch­witz-Bir­ken­au, die in die­ser Nacht des Jah­res 1944 trotz erbit­ter­tem Wider­stand von der SS ermor­det wurden. 

In Erin­ne­rung an die ins­ge­samt 500.000 Sin­ti und Roma, die im natio­nal­so­zia­lis­tisch besetz­ten Euro­pa ermor­det wur­den, erklär­te das Euro­päi­sche Par­la­ment 2015 die­sen Tag zum Euro­päi­schen Holo­caust-Gedenk­tag für Sin­ti und Roma.“ So liest man auf der Seite. 

Sie möchten dieses Thema mit anderen Leser:innen diskutieren oder uns Hinweise geben?

Nut­zen Sie ein­fach unse­re Kom­men­tar­funk­ti­on unter­halb die­ses Textes.
Wenn Sie die Kolum­ne gera­de als E-Mail lesen, kli­cken Sie auf den fol­gen­den Link, um den Text auf unse­rer Web­site aufzurufen:

› die­se Kolum­ne kommentieren

Erst Anfang der Acht­zi­ger­jah­re wur­den Sinti:zze und Rom:nja als Holo­caust­op­fer aner­kannt und auch der Begriff Anti­zi­ga­nis­mus ist nur weni­gen Men­schen in der heu­ti­gen Ras­sis­mus­de­bat­te bekannt. 

Und wuss­ten Sie, dass ein ande­rer Aus­druck für den Geno­zid an Sinti:zze und Rom:nja als „Holo­caust“ exis­tiert? Er lau­tet „Poraj­mos“ und bedeu­tet auf Deutsch „das Ver­schlin­gen“. Holo­caust bedeu­tet „voll­stän­dig ver­brannt“ und kommt aus dem Eng­li­schen bezie­hungs­wei­se dem Griechischen. 

Men­schen jüdi­schen Glau­bens bezeich­nen den Völ­ker­mord der Nazis mit dem Hebräi­schen Wort „Shoa“, was „gro­ße Kata­stro­phe“ bedeu­tet. Das sind kei­ne sprach­li­chen Spitz­fin­dig­kei­ten, son­dern die Begrif­fe zei­gen, wie der Sprach­ge­brauch unser Den­ken und unse­re Wahr­neh­mung widerspiegelt. 

An die­ser Stel­le beto­ne ich erneut, dass die Beschäf­ti­gung mit Müns­ters Kul­tur­form Mase­mat­te, dazu führt, sich kri­tisch mit Müns­ters Stadt­ge­schich­te aus­ein­an­der­zu­set­zen. Mase­mat­te for­dert uns her­aus, die gro­ße Müns­ter-Lie­be – und den kom­mer­zi­el­len Hype dar­um schon zwei­mal – zu hinterfragen. 

Mich macht der Umgang mit der Geschich­te der Sinti:zze und Rom:nja trau­rig und nach­denk­lich. Und wenn ich jetzt mei­nen Blick hebe und auf die sanf­te Hügel­land­schaft des Sau­er­lands bli­cke, so glau­be ich, dass wir in Müns­ter nach dem zer­stö­re­ri­schen Sturm des Völ­ker­mords durch die Natio­nal­so­zia­lis­ten auch noch sym­bo­lisch eine Men­ge Bäu­me auf­zu­fors­ten haben. Aber Lär­chen rei­chen da sicher nicht. Es soll­ten Blut­bu­chen sein. Ja, genau, jede Men­ge Blutbuchen. 

Herz­li­che Grüße

Ihre Mari­on Lohoff-Börger

Kor­rek­tur­hin­weis:

In einer frü­he­ren Ver­si­on hat­ten wir geschrie­ben, Mar­got Krau­se sei nach dem Krieg wie­der nach Gre­ven zurück­ge­kehrt. Das stimm­te nicht. Sie wur­de im Febru­ar 1944 in Ausch­witz ermor­det. Wir haben das korrigiert. 

Diesen Brief teilen und RUMS weiterempfehlen:

Über die Autorin

Mari­on Lohoff-Bör­ger ist die Frau mit der Mase­mat­te und den alten Schreib­ma­schi­nen. Auf letz­te­ren schreibt sie Gedich­te und ver­kauft die­se in ihrem Ate­lier an der Wol­be­cker Stra­ße 105 als Post­kar­ten. Die Mase­mat­te möch­te die freie Autorin in Müns­ter zu einem leben­di­gen Sprach­denk­mal machen und ver­sucht die­ses mit Kur­sen, Vor­trä­gen, Lesun­gen, Büchern und Arti­keln für Zei­tun­gen und Online­ma­ga­zi­ne umzu­set­zen. 2021 stell­te sie beim Land Nord­rhein-West­fa­len den Antrag „Mase­mat­te als Imma­te­ri­el­les Kul­tur­er­be“, der abge­lehnt wur­de mit dem Hin­weis, die Stadt­ge­sell­schaft Müns­ter müs­se sich noch mehr für die­ses Kul­tur­gut engagieren. 

Über RUMS

Immer sonn­tags schi­cken wir Ihnen eine Kolum­ne. Das sind Tex­te, in denen unse­re acht Kolum­nis­tin­nen und Kolum­nis­ten The­men ana­ly­sie­ren, bewer­ten und kom­men­tie­ren. Die Tex­te geben ihre eige­ne Mei­nung wie­der, nicht die der Redak­ti­on. Mit­glied­schaf­ten in poli­ti­schen Par­tei­en oder Orga­ni­sa­tio­nen machen wir trans­pa­rent. Wenn Sie zu den The­men der Kolum­nen ande­re Mei­nun­gen haben, schrei­ben Sie uns gern. Wenn Sie möch­ten, ver­öf­fent­li­chen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unse­ren Tex­ten Feh­ler fin­den, freu­en wir uns über Hin­wei­se. Die Kor­rek­tu­ren ver­öf­fent­li­chen wir eben­falls im RUMS-Brief.