Carla Reemtsmas Kolumne | Die Europäische Union als Krisenlöserin?

Lie­be Lese­rin, lie­ber Leser,

eine Etap­pe ist geschafft: Die Gro­ße Koali­ti­on in Ber­lin hat sich ver­gan­ge­ne Woche auf ein Kon­junk­tur­pa­ket geei­nigt, das grö­ßer als gedacht aus­fällt. Dank des Ver­zichts auf eine Kauf­prä­mie für Ben­zin- und Die­sel-Pkw über­rascht es inhalt­lich sogar. Auch wenn die Mil­li­ar­den wohl nicht immer dort ankom­men wer­den, wo sie am nötigs­ten sind, und wir mit dem Paket der Lösung der Kli­ma­kri­se kei­nen Schritt näher kom­men, rich­tet sich der Blick damit erst ein­mal auf Brüs­sel. Dort stel­len sich längst alle wei­te­ren Fra­gen des – meist öko­no­mi­schen – „Wie geht es wei­ter?“ Seit Wochen wird in den Büros der natio­na­len Regie­rungs­chefin­nen und Minis­ter­prä­si­den­ten über ein mög­li­ches euro­päi­sches Kon­junk­tur­pa­ket diskutiert.

Dabei ste­hen sich Inter­es­sen gegen­über, die sich nicht nur bei der Fra­ge nach dem Volu­men des Pakets unter­schei­den. Schließ­lich hat sich die EU längst von einem gemein­sa­men Wirt­schafts­raum zur dif­fu­sen Idee einer „Euro­päi­schen Wer­te­ge­mein­schaft“ ent­wi­ckelt. Statt ‚nur‘ Wachs­tum zu stei­gern und Kon­flik­ten vor­zu­beu­gen, wer­den inzwi­schen auch eine gemein­sa­me Öffent­lich­keit, Iden­ti­tät und Poli­tik ver­han­delt. Aller­dings wird mit jedem im Mit­tel­meer ertrun­ke­nen Geflüch­te­ten und jedem Bild aus dem Camp auf Les­bos erneut klar, dass das vor­erst Wunsch­den­ken bleibt.

Die Europäische Union als Krisenlöserin

Kaum ein Tag ver­geht, an dem nicht die Wich­tig­keit inter­na­tio­na­ler Insti­tu­tio­nen im Zeit­al­ter glo­ba­ler, grenz­über­schrei­ten­der Kon­flik­te in Talk­shows oder Feuil­le­ton-Arti­keln betont wird. Schließ­lich rei­chen natio­nal­staat­li­che Ant­wor­ten kaum aus, um kom­ple­xe Kri­sen zu bewäl­ti­gen, die per se Län­der­gren­zen über­schrei­ten. Allem Natio­na­lis­mus zum Trotz war bei den meis­ten poli­ti­schen Ver­wer­fun­gen der ver­gan­ge­nen Jah­re irgend­wann immer die EU als Kri­sen­lö­se­rin gefragt. Ein Bei­spiel: Wenn ihre Mit­glieds­staa­ten nicht in der Lage sind, pariskon­for­me Kli­ma­po­li­ti­ken zu gestal­ten, soll der Green Deal der EU eben dafür sor­gen, dass Kli­ma­zie­le ein­ge­hal­ten wer­den. Nach­dem zu Beginn der Coro­na-Pan­de­mie zunächst jedes Land für sich Aus­fuhr­be­schrän­kun­gen für Medi­zin­pro­duk­te und Grenz­schlie­ßun­gen ange­ord­net hat, ver­sucht die EU-Kom­mis­si­on jetzt ein­heit­li­che Bestim­mun­gen auszuhandeln. 

Um das Vaku­um an poli­ti­schen Kräf­ten im inter­na­tio­na­len Raum zu fül­len, müss­te es der Anspruch der EU genau­so wie der ihrer Mit­glied­staa­ten sein, in Kri­sen­si­tua­tio­nen Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men und gemein­sa­me, schlag­kräf­ti­ge Poli­tik zu orga­ni­sie­ren. In der Rea­li­tät kommt davon aller­dings oft wenig an. Von der welt­po­li­ti­schen Kri­sen­lö­se­rin bleibt dann häu­fig nur ein Pro­fil­bild­rah­men auf Insta­gram oder ein EU-geför­der­tes Schul­pro­jekt übrig.

Politische Antworten statt Selbstzweck

Als jun­ge Stu­den­tin in einer mit­tel­gro­ßen Stadt wie Müns­ter gehö­re ich eigent­lich genau zu den Men­schen, denen eine beson­de­re Ver­bun­den­heit mit der EU nach­ge­sagt wird. Die in einem Euro­pa mit Frie­den und ohne Gren­zen auf­ge­wach­sen sind. Die 2017 mit „Pul­se Of Euro­pe“ die Innen­städ­te mit blau-gel­ben Fah­nen­mee­ren geflu­tet haben. Die unter dem vira­len Hash­tag #europa22 Bil­der ihres fik­ti­ven Euro­pa-Pas­ses gepos­tet haben. Die sich, wenn man Feuil­le­ton-Jour­na­lis­tin­nen und Gene­ra­tio­nen-For­schern glaubt, zuerst als „Euro­päe­rin­nen“ und dann erst als „Deut­sche“ identifizieren.

Obwohl ich mit­ten­drin ste­cken soll­te in die­ser vagen euro­päi­schen Idee, die­sem polit-öko­no­mi­schen Wahn­sinns­pro­jekt, ist mei­ne Lis­te an tat­säch­li­chen Berüh­rungs­punk­ten mit der EU erstaun­lich kurz. Wenn ich in Müns­ter an Euro­pa den­ke, fal­len mir zuerst Weih­nachts­markt­be­su­cher, Tul­pen und Lakritz aus den Nie­der­lan­den ein. An der WWU gibt es 48 von der EU geför­der­te Pro­jek­te und drei Euro­pa-Stu­di­en­gän­ge, außer­dem führt der Euro­pa­rad­weg 1 von Lon­don über Müns­ter nach Hel­sin­ki. Gefah­ren bin ich dar­auf noch nie. Ansons­ten scheint vor allem die sich mit dem Müns­te­ra­ner Weiß-Rot-Gelb abwech­seln­de Euro­pa­be­flag­gung der Kauf­leu­te am Prin­zi­pal­markt ein anlass­un­ab­hän­gi­ges Patent­re­zept zu sein: Egal ob als Bekennt­nis zur euro­päi­schen Idee am Euro­pa­tag oder als Abgren­zung von der AfD wäh­rend deren Neu­jahrs­emp­fangs – zumin­dest sym­bo­lisch ist mit Euro­pa fast alles möglich.

Wenn aber – wie jetzt in der Coro­na­kri­se – mehr als die lose Iden­ti­fi­ka­ti­ons­ge­mein­schaft, son­dern Mache­rin­nen gefragt sind, dann wird die gro­ße euro­päi­sche Idee, der Anspruch, gemein­sam Poli­tik zu machen, schnell ver­ges­sen. In der Coro­na-Kri­se erle­ben wir vor allem Natio­nal­staa­ten, die sich nicht mit­ein­an­der abspre­chen. Wäh­rend in Grenz­re­gio­nen die euro­päi­sche Soli­da­ri­tät gera­de so weit reicht, dass Covid-Pati­en­tin­nen aus über­las­te­ten Kran­ken­häu­sern im weni­ger betrof­fe­nen Nach­bar­staat behan­delt wer­den, kenn­zeich­net sich die all­ge­mei­ne Poli­tik vor allem durch ein wenig koor­di­nier­tes Wirr-Warr von Grenz­schlie­ßun­gen, Qua­ran­tä­ne-Rege­lun­gen und Rei­se­war­nun­gen. Als nie­der­län­di­sches Dan­ke­schön für die Koor­di­nie­rung der NRW-Kran­ken­haus­ak­ti­on gibt es für das Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum Müns­ter 4.000 fang­fri­sche Mat­jes, immerhin.

Um ihrem Anspruch als Kri­sen­lö­se­rin des 21. Jahr­hun­derts gerecht zu wer­den, muss die EU mehr sein als eine Schön-Wet­ter-Idee, die sich hin­ter Ster­nen­kranz-Hoo­dies ver­steckt. Statt Selbst­zweck braucht die EU poli­ti­sche Ant­wor­ten, die mehr leis­ten, als Geld von Nor­den nach Süden und Wes­ten nach Osten umzu­ver­tei­len. Mehr Euro­pa­schu­len und Euro­pa­rad­we­ge wer­den gegen den in fast allen EU-Staa­ten wach­sen­den Zuspruch zu natio­na­lis­ti­scher und reak­tio­nä­rer Poli­tik eher nicht helfen.

Europa ist mehr als Flaggen und blaue Hoodies

Zum ers­ten Juli über­nimmt Deutsch­land die EU-Rats­prä­si­dent­schaft. Damit spie­len Ange­la Mer­kel, Peter Alt­mai­er und Co. zen­tra­le Rol­len bei der Aus­hand­lung des euro­päi­schen Äqui­va­lents für das deut­sche Kon­junk­tur­pa­ket. Das EU-Paket soll die auf die Coro­na-Kri­se fol­gen­de wirt­schaft­li­che Rezes­si­on ein­däm­men, Mas­sen­ar­beits­lo­sig­keit ver­hin­dern, die euro­päi­sche Wirt­schaft inter­na­tio­nal wett­be­werbs­fä­hig hal­ten und Ver­wer­fun­gen auf dem Bin­nen­markt abmil­dern. Gleich­zei­tig soll es die EU grü­ner, digi­ta­ler, kri­sen­fes­ter und ins­ge­samt zukunfts­fä­hi­ger machen. Wenn das mal kein Erwar­tungs­druck ist! Und wenigs­tens der Name „Next Gene­ra­ti­on EU“ hat die­se Zie­le schon mal verinnerlicht.

Auf dem Tisch liegt ein womög­lich 750 Mil­li­ar­den Euro schwe­res Maß­nah­men­pa­ket. Was fehlt, ist ein tat­säch­li­cher Plan, der Insti­tu­tio­nen und Mit­glieds­staa­ten zusam­men­bringt und den selbst for­mu­lier­ten Zie­len gerecht wird. Die Kon­junk­tur­maß­nah­men allei­ne wer­den die­se omi­nö­se nächs­te Gene­ra­ti­on der EU aber nicht ein­läu­ten. Kri­sen­po­li­tik heu­te kann nicht die Ver­feh­lun­gen der letz­ten Jah­re unge­sche­hen machen. Sie könn­ten aber den Grund­stein legen für eine euro­päi­sche Poli­tik, die mehr ist als Euro­pa­rad­we­ge, Flag­gen und blaue Hoodies.


Über Carla Reemtsma

Im Janu­ar 2019 hat Car­la Reemts­ma den ers­ten Kli­ma­streik in Müns­ter orga­ni­siert. Es war eine klei­ne Kund­ge­bung im Nie­sel­re­geln vor dem his­to­ri­schen Rat­haus am Prin­zi­pal­markt. Weni­ge Wochen spä­ter sprach das gan­ze Land über die Kli­ma-Pro­tes­te der „Fri­days For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Müns­ter beschloss das Ziel Kli­ma­neu­tra­li­tät 2030. Inzwi­schen ist Car­la Reemts­ma eine der bekann­tes­ten deut­schen Kli­ma­ak­ti­vis­tin­nen. Gebo­ren wur­de sie in Ber­lin. In Müns­ter lebt sie seit 2016. Sie stu­diert Poli­tik und Wirt­schaft. Und wenn sie kei­ne Kli­ma­streiks orga­ni­siert, trai­niert sie den Ver­eins­nach­wuchs im Geräteturnen.