Klaus Brinkbäumers Kolumne | Hysterisch oder unaufgeregt | Vor der Wahl

Müns­ter, 2. August 2020

Lie­be Lese­rin und lie­ber Leser,

wenn ich aus der Fer­ne nach Müns­ter bli­cke, wirkt die Hei­mat robust. Gelas­sen. Schon klar, dass der Blick aus der Distanz das Erken­nen von Details ver­hin­dert. Und es könn­te durch­aus so etwas wie roman­ti­sche Ver­klä­rung im Spiel sein: Beim ver­gan­ge­nen Besuch, der wegen Coro­na viel zu lan­ge her ist, war die real exis­tie­ren­de Hil­tru­per Markt­allee gar mehr nicht so mon­dän wie jene in der Erinnerung.

Aber ich ver­glei­che Müns­ter an die­ser Stel­le ja ger­ne mit New York. Und New York zwei­felt, hadert, lei­det an sich selbst und am Rest des Lan­des und bewegt sich dar­um mit einer Kom­bi­na­ti­on aus Hys­te­rie und Göt­ter­däm­me­rungs­ge­wiss­heit Rich­tung Wahl­tag am 3. Novem­ber. Müns­ter hin­ge­gen wird am 13. Sep­tem­ber sei­nen Stadt­rat wäh­len: unauf­ge­regt und skan­dal­frei, so wirkt es aus der Distanz. Die Demo­kra­tie ist hier bedroht, aber nicht in Westfalen.

Heimlich zum Preußenstadion

Klei­ne Ein­schrän­kung am Ran­de: Wenn ich nun also aus der Fer­ne Rich­tung Hei­mat schaue, ist nicht alles rosig, denn dann traue­re ich natür­lich mit dem SC Preu­ßen. Ich bin seit unge­fähr 48 Jah­ren lei­den­der Lieb­ha­ber, und seit unge­fähr 48 Jah­ren den­ke ich, wie so vie­le Mit-Müns­te­ra­ner, dass der SC Preu­ßen eigent­lich in der Bun­des­li­ga spie­len müss­te. Min­des­tens natür­lich in der zwei­ten Liga, wo er damals spiel­te, als die Lie­be begann – und wo er stän­dig auf einem Auf­stiegs­platz stand, doch nie­mals am letz­ten Spiel­tag. Mein Vater nahm mich in jenen Jah­ren mit ins Preu­ßen­sta­di­on, aber er moch­te uner­klär­li­cher­wei­se nicht an jedem Spiel­tag hin­ge­hen, und dar­um muss­te ich mei­nen Eltern bis­wei­len sams­tags um zwei vor­gau­keln, dass ich nun zum Spie­len zu mei­nem Freund Axel radeln wür­de – und statt­des­sen radel­te ich dann am Kanal ent­lang zum Preu­ßen­sta­di­on und gab mein Taschen­geld heim­lich an die­sen schon damals uralten stei­ner­nen Kas­sen­häus­chen aus. Und abends dann, beim Sport­schau­gu­cken mit dem Vater, ver­gaß ich nie­mals über­rascht zu sein, wenn das Preu­ßen-Ergeb­nis kam.

Ach, Erin­ne­run­gen.

6:0 gegen den Bon­ner SC, 4:0 zur Halb­zeit, ich war neun Jah­re alt und stand ganz unten am Zaun. Noch heu­te kann ich die Mann­schafts­auf­stel­lung auf­sa­gen, na ja, fast: Welz im Tor, davor Grün­ther, Kre­ke­l­er und Loos, davor Möhl­mann und Kar­bo­wi­ak, davor Sei­ler, Graul und mein Held Rolf Blau. (Ver­ges­sen habe ich nur Fleer in der Abwehr und Wolf im Mit­tel­feld, der „Kicker“ kennt auch die­se Bei­den noch.)

Und nun also wie­der ein Abstieg und wie­der ein Neu­be­ginn, am 4. Sep­tem­ber star­tet die Regio­nal­li­ga­sai­son, in Röding­hau­sen. Ich bin 53 Jah­re alt. Ob ich es noch erle­ben wer­de, dass der SC Preu­ßen dort spielt, wo er eigent­lich hingehört? 

Apokalyptisches Frühjahr

Bericht aus New York: Das Leben hier nor­ma­li­siert sich, aber da ist eine dunk­le Ahnung.

Wir gehen in die Parks, an die Strän­de, es war ein leuch­ten­der New Yor­ker Früh­som­mer, der nun in den drü­cken­den August über­geht. New York hat die Covid-19-Kri­se erst ein­mal und weit­ge­hend über­stan­den und arbei­tet gera­de die­ses apo­ka­lyp­ti­sche Früh­jahr auf. 155.000 Men­schen sind in den USA bis­lang an dem Virus gestor­ben, 23.000 davon in New York City. Und auch wenn wir alle hier dach­ten, dass kol­lek­ti­ve Dis­zi­plin und geleb­te Soli­da­ri­tät dafür gesorgt hät­ten, dass die grau­sa­men Wochen des März und April schnell hin­ter uns lagen, fällt das Ergeb­nis aller detail­lier­ten Ana­ly­sen trü­ber aus. Grauer.

Wir ler­nen näm­lich nun, dass die schar­fe Tei­lung der Stadt in Reich und Arm fürch­ter­li­che Fol­gen hat­te: Die meis­ten Todes­op­fer gab es in der Bronx und in Brook­lyn, und in den unter­ver­sorg­ten städ­ti­schen Kran­ken­häu­sern star­ben absurd vie­le, unnö­tig vie­le Pati­en­ten, da die­se Kran­ken­häu­ser zu wenig Per­so­nal und sowie­so zu wenig Beatmungs­ge­rä­te hat­ten, um mit der Apo­ka­lyp­se fer­tig zu wer­den. Trotz­dem wur­de die Pati­en­ten nicht an pri­va­te Kran­ken­häu­ser in Man­hat­tan über­wie­sen: Die städ­ti­schen Kli­ni­ken brauch­ten die Ein­nah­men; den pri­va­ten wie­der­um waren die Ein­nah­men durch Pati­en­ten, die nicht pri­vat ver­si­chert waren, nicht hoch genug. Wenn aber das eine Kran­ken­haus Pati­en­ten nicht abge­ben will, die das ande­re nicht auf­neh­men möch­te, dann blei­ben die­se Pati­en­ten natür­lich dort, wo sie sind, und ster­ben eben.

Ame­ri­ka kann gna­den­los sein.

Und Ame­ri­ka wird mit die­ser Kri­se nicht fer­tig, weil es nach sie­ben Mona­ten noch kei­ne Stra­te­gie gefun­den hat, kei­ne Einigkeit.

Die Repu­bli­ka­ner und ihr Prä­si­dent und ihre Wäh­ler hal­ten Atem­schutz­mas­ken noch immer für ein modi­sches Acces­soire für Feig­lin­ge; sie wol­len Schu­len öff­nen, Schlacht­hö­fe geöff­net hal­ten, den Rest der Wirt­schaft wie­der in Gang brin­gen und Strand­ur­laub machen, obwohl in Flo­ri­da, Texas und vie­len, vie­len wei­te­ren Bun­des­staa­ten Fall­zah­len und Todes­ra­ten stei­gen. Die Demo­kra­ten und ihre Wäh­ler sehen das anders, hal­ten Abstands­re­geln ein, tra­gen Mas­ken und glau­ben, dass die Wirt­schaft erst dann wie­der anlau­fen kön­ne, wenn das Virus kon­trol­liert wer­de. Das Pro­blem ist, dass Soli­da­ri­tät nicht funk­tio­niert, wenn die Hälf­te der Gesell­schaft wütend „Nein“ schreit, und dar­um wan­dert das Virus hin und her.

Und das Pro­blem New Yorks ist, dass wir hier sehen, dass die, die vor dem Virus nach Flo­ri­da geflüch­tet waren, nun von dort zurück nach New York flüch­ten … nein, das kann und wird nicht gut gehen, es ist eine Fra­ge der Zeit, bis sich auch die New Yor­ker Lage wie­der verändert.

Ist es nicht erschüt­ternd, wie destruk­tiv Pola­ri­sie­rung wir­ken kann? Wie sie dafür sor­gen kann, dass das mäch­tigs­te Land der Welt ganz klein und schwach und hilf­los wird?

Das Wahrheitsexperiment

Die „ame­ri­ka­ni­schen Par­tei­en“, das schreibt Lil­lia­na Mason, Pro­fes­so­rin an der Uni­ver­si­ty of Mary­land, „wer­den zuneh­mend im sozia­len Sin­ne pola­ri­siert. Reli­gi­on und Ras­se, genau­so Klas­se, Geo­gra­phie und Kul­tur, tren­nen die Par­tei­en auf eine Wei­se, die Par­tei­iden­ti­tät immer wei­ter ver­stärkt. Es ist nicht mehr nur ein Wett­be­werb zwi­schen Demo­kra­ten und Repu­bli­ka­nern, son­dern eine ein­zel­ne Stim­me zeigt neben der Wahl der Par­tei auch an, wel­che Reli­gi­on, Ras­se, Eth­nie, wel­ches Geschlecht, wel­che Nach­bar­schaft und wel­chen Super­markt wir favo­ri­sie­ren.“ Par­tei­iden­ti­tät sei zur Mega-Iden­ti­tät gewor­den, mit allen Fol­gen für Psy­cho­lo­gie und Ver­hal­ten, die wir gegen­wär­tig erleben. 

Ein Bei­spiel, ein Expe­ri­ment. Es waren schar­fe Farb­fo­tos, und man konn­te es zwei­fels­frei sehen: Auf dem einen war eine kar­ge, klei­ne Men­schen­men­ge abge­bil­det, auf dem ande­ren eine gro­ße, gewal­ti­ge. Die bei­den Poli­to­lo­gen Bri­an Schaff­ner und Saman­tha Luks zeig­ten 1.400 Men­schen die­se Bil­der und frag­ten die eine Hälf­te der Test­grup­pe, wel­ches Foto die Amts­ein­füh­rung Barack Oba­mas dar­stel­le und wel­ches die Amts­ein­füh­rung Donald Trumps. 

Das Ergeb­nis: Trump-Anhän­ger sag­ten, dass das Foto mit der grö­ße­ren Men­ge die Amts­ein­füh­rung Trumps zeige. 

Dann ver­än­der­ten Schaff­ner und Luks das Expe­ri­ment. Der zwei­ten Hälf­te der Grup­pe erklär­ten sie, wel­ches Foto bei wel­chem Anlass gemacht wor­den war, und sie frag­ten nun, wel­ches die grö­ße­re Men­schen­men­ge zei­ge. Das Ergeb­nis: 15 Pro­zent der Trump-Anhän­ger deu­te­ten auf das Foto mit den halb­lee­ren Flä­chen vor dem Kapitol. 

„Infor­ma­ti­ons­kas­ka­de“ nen­nen Öko­no­men das Phä­no­men: Ein Glau­be pflanzt sich inner­halb einer Grup­pe fort, obwohl das Gegen­teil zwei­fels­frei bewie­sen ist.

Das Freund-Feind-Prisma

Ame­ri­kas Pola­ri­sie­rung ver­stärkt sich, ist längst eine sich selbst erfül­len­de Pro­phe­zei­ung gewor­den, weil wesent­li­che Tei­le der Medi­en, jeden­falls die Fern­seh­sen­der, die­se Pola­ri­sie­rung bedie­nen. CNN lie­fert Fern­se­hen für Trump-Has­ser, Fox News macht sein Pro­gramm für Trump-Jün­ger. Und dort, auf Fox News, wird in die­sen Tagen die Erzäh­lung des Prä­si­den­ten ver­stärkt, dass lin­ke, maro­die­ren­de Hor­den die hüb­schen Innen­städ­te Ame­ri­kas ver­wüs­ten wür­den. Dazu lau­fen Wer­be­spots, die die Repu­bli­ka­ner geschal­tet haben: Eine zit­tern­de alte Frau sieht die „lin­ken Faschis­ten“ (Trump) vor­rü­cken und ruft ver­zwei­felt die Poli­zei, aber die Poli­zei wur­de gera­de abge­schafft, „in Joe Bidens Amerika“.

Wahr ist das alles nicht: Weder will der demo­kra­ti­sche Kan­di­dat Biden die Poli­zei abschaf­fen (oder ihr auch nur Geld ent­zie­hen), noch sind die Demons­tra­tio­nen der Black-Lives-Mat­ter-Bewe­gung gewalt­tä­tig. Lei­den­schaft­lich sind sie. Krea­tiv. Und ja, punk­tu­ell gab es Über­grif­fe und Ausschreitungen.

Der ame­ri­ka­ni­sche Phi­lo­soph Jason Stan­ley sagt, das wesent­li­che Pro­blem des Jour­na­lis­mus unse­rer Zei­ten sei die­ses: „Es gibt eine Ideo­lo­gie, die die Welt durch das Freund-Feind-Pris­ma sieht – du stehst ent­we­der an der Sei­te des auto­ri­tä­ren Füh­rers, oder du bist sein Geg­ner. Es gibt nur noch die­se zwei Sei­ten, auch wenn die Wirk­lich­keit natür­lich kom­ple­xer ist.“ Wer sich näm­lich, aus der Sicht des auto­ri­tä­ren Füh­rers, gegen eben die­sen stel­le, mache sich dadurch selbst zur Oppo­si­ti­on und zur Ziel­schei­be, und das mache es schwie­ri­ger und teu­rer, heu­te Jour­na­lis­mus zu betrei­ben. Wenn es nur noch „wir“ und „die“ gibt, dann ist nie­mand mehr neu­tral, und nie­mand strebt mehr objek­tiv nach der Wahr­heit, so Jason Stanley.

Die His­to­ri­ke­rin und Pro­fes­so­rin an der New York Uni­ver­si­ty Ruth Ben-Ghi­at sagt mir, dass in Demo­kra­tien meist nur ein­zel­ne Jour­na­lis­ten zu Feind­bil­dern wür­den, wäh­rend es ein Mus­ter auto­kra­ti­scher Gesell­schaf­ten sei, Jour­na­lis­ten als Grup­pe zu bekämp­fen. Der Auf­stieg des Auto­kra­ten bedeu­te dar­um das Ende von Trans­pa­renz und Ver­läss­lich­keit und die Unter­drü­ckung von Infor­ma­tio­nen, die nicht den Auto­kra­ten stär­ken. Wenn sie nicht durch einen Coup an die Macht kämen, sei die Het­ze gegen Jour­na­lis­ten das Mit­tel, mit wel­chem Auto­kra­ten an die Macht kämen. Der Auto­krat wirft den Medi­en vor, zu lügen und zu erfin­den, wäh­rend er allein gro­ße Opfer im Diens­te des Vol­kes auf sich neh­me, um als ein­zi­ger die Wahr­heit aus­zu­spre­chen. Und dar­um, so sagt es Ruth Ben-Ghi­at, „gehen das Ende der Wahr­heit und das Ende der Demo­kra­tie Hand in Hand“.

Jay Rosen, Jour­na­list und Wis­sen­schaft­ler, lehrt Jour­na­lis­mus an der New York Uni­ver­si­ty, und sagt im Gespräch: „Medi­en als Feind­bild erfül­len ein Wahl­ver­spre­chen, das für Trump längst ein Mar­ken­ver­spre­chen gewor­den ist.“ Das Wahl­ver­spre­chen, das Trump gege­ben habe, sei die­ses gewe­sen: „Ich mache die­se Leu­te für euch klein. Ich behand­le sie mit dem Ekel, den ihr für sie fühlt.“ Wir erleb­ten hier die per­fek­te Umset­zung von Groll­po­li­tik – und der Groll rich­te sich gegen die Eli­ten der USA. Und: „Medi­en zu Hass­ob­jek­ten zu machen lehrt die Anhän­ger, pro­phy­lak­tisch alle Bericht­erstat­tung abzu­leh­nen, die da kom­men wird.“ Alles, was die Fake News-Medi­en mel­den wer­den, sei per defi­ni­tio­nem falsch. Je wahn­wit­zi­ger Trump agie­re, des­to mehr glaub­ten sei­ne Anhän­ger, dass ehren­haf­te Jour­na­lis­ten den Prä­si­den­ten zur Stre­cke brin­gen woll­ten. Dadurch erzeu­ge Trump für sich „a free­dom from facts“, eine „Frei­heit von Fak­ten“, letzt­lich eine „post-wahr­haf­ti­ge Poli­tik“.
Und dies ist der Begriff für die Ver­ei­nig­ten Staa­ten von 2020.

Ich wün­sche den Preu­ßen den Wie­der­auf­stieg und aller­dings auch den New York Ran­gers den Stan­ley Cup. Ob das gut gehen kann? Die abge­bro­che­ne Sai­son begann ges­tern wie­der, Eis­ho­ckey im Coro­na-August, aller­dings an zwei kana­di­schen Spiel­or­ten, Toron­to und Edmon­ton, wo die Infek­ti­ons­ra­ten mini­mal sind. 

Und ich schi­cke vie­le herz­li­che Grü­ße in die Heimat

Ihr Klaus Brinkbäumer

Sie errei­chen mich unter klaus.brinkbaeumer@rums.ms oder bei Twit­ter: @Brinkbaeumer.

PS

Hat­ten Sie eine New York-Rei­se geplant? In die­sen Wochen könn­ten Sie – in nor­ma­len Jah­ren – Flei­luft­ki­no im Bryant Park oder Kon­zer­te und Thea­ter, näm­lich „Shake­speare in the Park“, im Cen­tral Park genie­ßen. All das fällt aus, die geplan­te Auf­füh­rung von „Richard II.“ aber gibt es als wun­der­vol­les Hör­spiel.