Gastbeitrag von Uwe Rennspieß | Leben ohne Auto – ein Versuch

Müns­ter, den 11. Juni 2023

Guten Tag,

30 Jah­re lang habe ich, zuletzt als Pro­ku­rist mit statt­li­chem Dienst­wa­gen, bei der kom­mu­na­len Unter­neh­mens­grup­pe der West­fä­li­schen Ver­kehrs­ge­sell­schaft mbH (WVG) gear­bei­tet. Dazu gehö­ren unter ande­rem die Regio­nal­ver­kehr Müns­ter­land GmbH (RVM) und die West­fä­li­sche Lan­des­ei­sen­bahn (WLE).

Mit Beginn mei­ner Ren­te vor gut einem Jahr ent­schie­den mei­ne Frau und ich, den Dienst­wa­gen nicht zu über­neh­men und unse­re Mobi­li­tät ohne eige­nes Auto zu orga­ni­sie­ren. Wir stat­te­ten uns mit einem 60plus-Abo für Müns­ter und mit einer Bahn­card 50 aus. Außer­dem wur­den wir Mit­glied beim Stadt­teil­au­to Müns­ter, um für beson­de­re Fäl­le auf ein Car­sha­ring-Fahr­zeug zurück­grei­fen zu können.

Um es gleich vor­weg zu sagen: Wenn die per­sön­li­chen Lebens­um­stän­de es zulas­sen und gewis­se Ein­schrän­kun­gen akzep­ta­bel sind, ist ein Leben ohne Auto ein­fa­cher mach­bar, als es sich vie­le vor­stel­len. Natür­lich haben Men­schen unter­schied­li­che Mobi­li­täts­be­dürf­nis­se, je nach Alter, Fami­li­en­stand und Wohn­si­tua­ti­on. Den einen reicht das Fahr­rad, ande­re sind auf län­ge­ren Stre­cken unter­wegs. Wir lie­gen irgend­wo dazwi­schen: Wir fah­ren regel­mä­ßig nach Bre­men zu unse­ren Kin­dern, hin und wie­der ins Sau­er­land zur Grab­pfle­ge und wöchent­lich nach Selm im Kreis Unna, wo mei­ne pfle­ge­be­dürf­ti­gen Eltern leben. Unse­re Erfah­run­gen machen aller­dings deut­lich: Wenn zum Errei­chen der Kli­ma­zie­le im Ver­kehr mehr Men­schen das Auto ste­hen las­sen sol­len, dann muss sich bei Bus und Bahn noch man­ches verbessern.

Zu viele Lücken im Angebot

Ein schö­nes Bei­spiel dafür sind die regel­mä­ßi­gen Fahr­ten zu mei­nen Eltern nach Selm; eine Stre­cke von 46 Kilo­me­tern, die man mit dem Auto in rund 50 Minu­ten fährt. Mit dem Schnell­bus S90 von Müns­ter bis Lüding­hau­sen und einem Umstieg in den Regio­bus R19 beträgt die Fahr­zeit fast 80 Minu­ten. Auch wenn ich in Müns­ter und Selm noch jeweils 10 Minu­ten Fuß­weg habe, ist das für einen Rent­ner wie mich akzep­ta­bel. Zumal die RVM für die­se Ver­knüp­fung der Bus­li­ni­en sogar eine Umstiegs­ga­ran­tie anbie­tet. Das heißt, das Fahr­per­so­nal ver­stän­digt sich per Funk und die Bus­se war­ten bei Ver­spä­tun­gen auf­ein­an­der. Soll­te die Ver­spä­tung zu groß wer­den, wird den Fahr­gäs­ten ein Taxi bestellt. 

Pro­ble­me macht die­se Ver­bin­dung mir immer dann, wenn ich abends oder am Wochen­en­de fah­ren möch­te, denn dann ist der Fahr­plan so stark aus­ge­dünnt, dass die­se Anschluss­mög­lich­keit in Lüding­hau­sen nicht besteht, so dass ich auf Car­sha­ring-Fahr­ten ange­wie­sen bin. Hier kos­tet eine Fahrt mit einem Klein­wa­gen über die 46 Kilo­me­ter hin und zurück rund 30 Euro. 

Ins­ge­samt zei­gen unse­re Erfah­run­gen, dass die­ses Bei­spiel typisch für eine länd­li­che Regi­on ist: Wäh­rend der Woche ist das Bus- und Bahn­an­ge­bot bes­ser als sein Ruf. Die meis­ten Zie­le im Müns­ter­land sind durch­aus stünd­lich oder häu­fi­ger gut zu errei­chen. Vie­le Orte, auch abseits der Bahn­li­ni­en, haben inzwi­schen ein Schnell­bus­an­ge­bot und sind in akzep­ta­bler Zeit erreich­bar. Abends, am Wochen­en­de und an Fei­er­ta­gen, wenn die Nach­fra­ge gerin­ger ist, gibt es öfter Ange­bots­lü­cken beim Lini­en­bus, da zu die­sen Zei­ten Schü­ler und Berufs­pend­ler feh­len, wer­den aus­rei­chen­de Bus­fahr­ten von den finan­zie­ren­den Auf­ga­ben­trä­gern, den Müns­ter­land­krei­sen – Ver­kehrs­wen­de hin oder her – nach wie vor als zu kost­spie­lig angesehen. 

Ein einfacher Preisvergleich

Ein Ein­zel­ti­cket von Müns­ter nach Selm kos­tet 11 Euro. Bei Fahr­ten nach 9 Uhr zahlt man für die Hin- und Rück­fahrt mit einem Tages­ti­cket 17,90 Euro. Mit dem Auto kos­tet der Sprit für ins­ge­samt 92 Kilo­me­ter rund 10 Euro. Da die Bus­fahrt auch noch län­ger dau­ert, spricht wenig für einen Anreiz zum Umstieg. 

Für gut infor­mier­te Dau­er­nut­zer gibt es Mög­lich­kei­ten zum Spa­ren: Abon­nen­ten wie ich kön­nen bei­spiels­wei­se für Fahr­ten mit dem Nah­ver­kehr in Nord­rhein-West­fa­len ein „Ein­fach Wei­ter Ticket“ für 7,20 Euro kau­fen. Damit kos­tet die Bus­fahrt nach Selm hin und zurück 14,40 Euro. Preis­wer­ter als ein 9 Uhr Tages­Ti­cket, aber lei­der immer noch teu­rer als die Auto­fahrt. Fah­re ich mit mei­ner Frau zusam­men, dann fällt der Kos­ten­ver­gleich end­gül­tig zuguns­ten des Pkw aus. 

Da laut ADAC die durch­schnitt­li­chen Gesamt­kos­ten eines Autos bei 300 Euro pro Monat lie­gen, sieht der Kos­ten­ver­gleich für mei­ne Frau und mich fol­gen­der­ma­ßen aus: 30,50 Euro pro Monat für das 60plus-Abo (mei­ne Frau zahlt für ihre Part­ner­kar­te die Hälf­te), die Senio­ren-Bahn­card 50 kos­tet uns pro Per­son 122 Euro im Jahr, also zusam­men rund 20 Euro im Monat. Für wei­te­re Bus- und Bahn­ti­ckets und ab und zu eine Taxi­fahrt geben wir etwa 80 Euro im Monats­durch­schnitt aus. 

Beim Car­sha­ring kom­men wir im Durch­schnitt auf 70 Euro pro Monat. Alles in allem zah­len wir also rund 220 Euro im Monat für unse­re Mobi­li­tät. Rund ein Drit­tel weni­ger im Ver­gleich zu den monat­li­chen Auto­kos­ten. Außer­dem spa­ren wir Zeit und Ärger für Repa­ra­tu­ren, Rei­fen­wech­sel, Park­platz­su­che und vie­les mehr. 

Wäh­rend bei immer mehr Poli­ti­kern ein ernst­haf­ter Wil­le zur Ver­kehrs­wen­de spür­bar ist, blei­ben die meis­ten Käm­me­rer bei ihrer kri­ti­schen Sicht auf das aus­zu­glei­chen­de Defi­zit ihrer kom­mu­na­len Ver­kehrs­un­ter­neh­men. Wenn die Ver­ant­wort­li­chen in Müns­ter ein­mal dar­über nach­den­ken, wie viel Geld sie für einen schie­nen­ge­bun­de­nen Nah­ver­kehr auf­brin­gen müss­ten, dann sähe die Sicht­wei­se anders aus. Müns­ter ist bun­des­weit die größ­te Stadt, die kei­ne Stra­ßen- oder gar U-Bah­nen unter­hält und sich im Stadt­ge­biet nur auf die ver­gleichs­wei­se güns­ti­gen Lini­en­bus­se stützt. 

Mangelnde Zuverlässigkeit bei Umstiegen

Ein oft unter­schätz­tes Hin­der­nis für die ver­stärk­te Nut­zung von Bus und Bahn ist die Unsi­cher­heit bei Umstie­gen. Zwar geben mir die wirk­lich gut funk­tio­nie­ren­den Apps der Deut­schen Bahn oder die um regio­na­le Beson­der­hei­ten erwei­ter­te „BuBiM-App“ (steht für Bus und Bahn im Müns­ter­land) gute Fahr­plan­aus­künf­te, zei­gen Ver­spä­tun­gen an, ermög­li­chen digi­ta­le Ticket­käu­fe und bie­ten Alter­na­ti­ven an. In der Rea­li­tät bleibt es jedoch ein Vaban­que­spiel, ob die Umstie­ge klappen. 

Wenn Umstie­ge von unter zehn Minu­ten ange­zeigt wer­den, dann gehört viel Wis­sen und Erfah­rung dazu, um abzu­schät­zen, bei wel­chen Ver­bin­dun­gen das klappt und bei wel­chen nicht. Bei der momen­tan hohen Ver­spä­tungs­an­fäl­lig­keit der Bahn machen mei­ne Frau und ich lei­der zu oft die Erfah­rung, Anschluss­zü­ge zu ver­pas­sen. Um ent­spannt in den Urlaub zu fah­ren, wäh­len wir mitt­ler­wei­le vor­nehm­lich Zie­le, die von Müns­ter aus ohne Umstieg erreich­bar sind. Für Men­schen, die nicht in der Nähe eines grö­ße­ren Bahn­hofs woh­nen, ist das so sicher nicht möglich. 

Beim Bus­ver­kehr wäre es viel ein­fa­cher als bei der Bahn, ohne teu­re Infra­struk­tur­maß­nah­men für mehr Anschluss­si­cher­heit zu sor­gen. Die RVM macht es vor, wie mit einer Umstiegs­ga­ran­tie gear­bei­tet wer­den kann. Lei­der steht die­ses kom­mu­na­le Unter­neh­men damit noch allei­ne dar: Ande­re Lini­en­bus­be­trei­ber wie die Bahn­bus­se und pri­va­te Anbie­ter machen nicht mit, weil sie zu hohe Kos­ten für mög­li­che Taxi­fahr­ten befürch­ten. Wie vie­le Men­schen aus Angst vor unsi­che­ren Umstie­gen erst gar nicht mit dem Nah­ver­kehr fah­ren, wird bei der Kos­ten­be­trach­tung nicht berück­sich­tigt. Ein The­ma, um dass sich die Auf­ga­ben­trä­ger drin­gend Gedan­ken machen sollten.

Hinzu kommen Servicelücken

Die Digi­ta­li­sie­rung macht vie­les mög­lich und ein­fa­cher. Zumin­dest gute kom­mu­na­le Ver­kehrs­un­ter­neh­men arbei­ten mit Hoch­druck dar­an, ihr Daten­ma­nage­ment zu ver­bes­sern, damit Anzei­gen an der Hal­te­stel­le, die Apps, eine Beglei­tung der Fahr­ten durch die Leit­stel­le und die Erreich­bar­keit für Rück­fra­gen zuver­läs­si­ger wer­den. Aber immer noch gibt es vor allem bei den klei­ne­ren Bus­un­ter­neh­men in die­sem Bereich gro­ße Lücken. Sie lie­fern ihre Fahr­p­lan­da­ten nicht schnell genug, so dass Ver­spä­tun­gen oder kurz­fris­ti­ge Fahrt­aus­fäl­le zu spät ange­zeigt werden. 

Dabei wäre es heu­te mög­lich, in den Bus­sen die nächs­ten Umstiegs­mög­lich­kei­ten in Echt­zeit zu zei­gen, beim Ein­stei­gen per EC-Kar­te zu bezah­len, ein frei­es WLAN anzu­bie­ten und den Fahr­gäs­ten damit mehr Sicher­heit für Fahrt­aus­fäl­le, Ver­spä­tun­gen und Umstie­ge zu bie­ten. Dafür aber haben eigen­wirt­schaft­lich fah­ren­de Bus­un­ter­neh­men weder das Know-how noch das Per­so­nal, geschwei­ge denn die finan­zi­el­len Reserven. 

Als Fahr­gast erwar­te ich einen Nah­ver­kehr aus einem Guss und kei­nen Fli­cken­tep­pich aus kom­mu­na­len und pri­va­ten Anbie­tern. Fahr­p­lan­da­ten müs­sen ein­heit­lich zur Ver­fü­gung ste­hen, nur dann kön­nen sie in Apps und Anzei­ge­ta­feln ver­läss­lich dar­ge­stellt wer­den. Abstim­mun­gen bei Ver­spä­tun­gen und Umstiegs­ga­ran­tien dür­fen nicht nur im eige­nen Bus­be­trieb mög­lich sein. Kein Kun­de will lan­ge her­aus­su­chen müs­sen, wel­ches Unter­neh­men zum Bei­spiel für eine Ver­spä­tung zustän­dig war. 

Kom­mu­na­le Ver­kehrs­un­ter­neh­men, die von den Auf­ga­ben­trä­gern finan­ziert und kon­trol­liert wer­den, müs­sen die unter­neh­mens­über­grei­fen­den Auf­ga­ben über­neh­men und Anlauf­stel­le der Kun­den sein – für alle Belan­ge des Nah­ver­kehrs. In Müns­ter ist dies durch die Stadt­wer­ke weit­ge­hend gege­ben. Im Müns­ter­land gibt es aber noch eigen­wirt­schaft­lich fah­ren­de Unter­neh­men, die nicht in der Lage sind, die vie­len not­wen­di­gen Auf­ga­ben zu über­neh­men, ohne dabei ins Defi­zit zu geraten. 

Menschen lieben die Bequemlichkeit

Dabei lie­ße sich viel Geld spa­ren, wenn es zum Bei­spiel eine ein­heit­li­che Leit­stel­le für alle Bus­se im Müns­ter­land gäbe, wenn alle Ticket­ver­käu­fe und Abon­ne­ments von einer Stel­le aus betreut wür­den. Die kom­mu­na­len Ver­kehrs­un­ter­neh­men könn­ten auch die unter­neh­mens­über­grei­fen­de Ver­kehrs­pla­nung und -steue­rung wie auch die gesam­te Fahr­gast­in­for­ma­ti­on über­neh­men. Statt­des­sen hat sich ein Behör­den­über­bau ent­wi­ckelt, der fern­ab von der Pra­xis oft eher für Sand im Getrie­be sorgt und für jede not­wen­di­ge Ver­än­de­rung erst teu­re Gut­ach­ter bestellt. 

Men­schen ver­mei­den Stress und lie­ben die Bequem­lich­keit. Bevor es aber beque­mer wird, den Nah­ver­kehr zu nut­zen, müs­sen noch vie­le Aspek­te ver­bes­sert wer­den. Wäh­rend Auto­be­sit­zer sich schon bekla­gen, wenn sie kei­nen Park­platz vor der eige­nen Haus­tür und am Ziel fin­den, wird den Nah­ver­kehrs­kun­den noch eini­ges zuge­mu­tet. Ohne Car­Sha­ring-Fahr­zeu­ge als Rück­fal­l­e­be­ne in der Nähe sind die Mobi­li­täts­ein­schrän­kun­gen noch so groß, dass sich nur weni­ge Men­schen vom eige­nen Auto verabschieden. 

Neben den beschrie­be­nen Attrak­ti­vi­täts­stei­ge­run­gen des Nah­ver­kehrs wird es bei einer ernst­ge­mein­ten Ver­kehrs­wen­de letzt­lich nur mit gleich­zei­tig erfol­gen­den Ein­schrän­kun­gen für den Pkw gehen. Wer Pro­ble­me hat, einen Park­platz zu fin­den oder dafür mehr als den Preis eines Bus­ti­ckets bezah­len muss, wird schon eher bereit sein, umzu­stei­gen. Vor allem dann, wenn die Men­schen im Bus auf einer sepa­ra­ten Spur am Stau vor­bei­fah­ren und Vor­fahrt an den Ampeln haben. 

Herz­li­che Grü­ße
Ihr Uwe Rennspieß

Diesen Brief teilen und RUMS weiterempfehlen:

Über den Autor

Uwe Renn­spieß wur­de 1955 in Lüding­hau­sen gebo­ren, stu­dier­te Geschich­te, Phi­lo­so­phie und Erzie­hungs­wis­sen­schaf­ten in Müns­ter, absol­vier­te das 1. und 2. Staats­examen für die Sekun­dar­stu­fe 1 und 2, pro­mo­vier­te anschlie­ßend in Geschich­te und ver­öf­fent­lich­te meh­re­re Tex­te zur Berg­ar­bei­ter­ge­schich­te und zum Auf­stieg des Natio­nal­so­zia­lis­mus. 1993 bis 2022 war er im Nah­ver­kehrs­ma­nage­ment beschäf­tigt, zuletzt als Bereichs­lei­ter bei der West­fä­li­schen Ver­kehrs­ge­sell­schaft mbH. Renn­spieß ist Mit­glied der Grünen.