Die Kolumne von Michael Jung | In der Sackgasse in Roxel

Porträt von Michael Jung
Mit Michael Jung

Guten Tag,

jedes Jahr, wenn der Winter kalt ist und das Wetter trüb, gibt es im Rat in Münster ein schönes Ritual. Aus allen Fraktionen hagelt es Stellungnahmen, die inhaltlich dasselbe sagen: Zwar können 350 Kinder nicht an der Schule ihrer Wahl lernen, sondern müssen woanders zur Schule gehen, aber sei ist Hoffnung da, bald komme eine neue Gesamtschule in Roxel.

Seit Kurzem wissen wir: Das wird noch länger dauern, wenn es denn überhaupt so kommt. Münsters Kommunalpolitik und die Stadtverwaltung haben sich in eine ziemliche Sackgasse manövriert, denn die Bezirksregierung will nicht mitspielen. Lassen Sie uns das Drama, seine Ursachen und mögliche Szenarien für die Zukunft einmal ansehen.

I. Das Scheitern der Roxeler Schulen

Ende der 2000er-Jahre gab es in Roxel ein gut ausgebautes Schulzentrum für die Haupt- und Realschule, aber die Schüler:innen blieben weg. Das hatte mehrere Ursachen: Zum einen stecken die Hauptschulen insgesamt in einer Krise, da mit dem Schulabschluss auf dem Arbeitsmarkt, gerade in Münster, nichts anzufangen ist. Diese Entwicklung ging an Roxel nicht vorbei.

Die Probleme der Roxeler Realschule waren eher hausgemacht und hatten viel mit personellen Konstellationen zu tun, die aber Anmeldezahlen erheblich beeinflussen können, wie jedes Jahr wieder zu beobachten ist. Darüber hinaus zeigte sich in Roxel natürlich auch, dass das gerade zuvor nach Gievenbeck verlagerte Stein-Gymnasium natürlich für all diejenigen eine attraktive Alternative darstellte, deren Schullaufbahn die Wahl zwischen Realschule und Gymnasium offenließ.

Im Ergebnis hatten beide Schulen keine Perspektive mehr und der Gedanke eines Neuanfangs lag nahe. Der Düsseldorfer Schulkonsens, der damals gerade im Landtag ausgehandelt worden war, schuf eine neue Schulform: Die Sekundarschule, die bis zur Klasse 10 nach Gesamtschullehrgang unterrichten sollte.

So entstand Münsters erste und einzige Sekundarschule in Roxel – und scheiterte krachend. Schon nach kurzer Zeit zeigte sich: Diese Schulform war nicht gefragt in Münster, denn wer sollte sein Kind an einer Sekundarschule anmelden, wenn eine Gesamtschule mit Abiturmöglichkeit die Alternative ist?

Und so kam es auch: Nach langem Siechtum wurde das Auslaufen der Sekundarschule und deren Auflösung beschlossen. In der Zwischenzeit waren nämlich mit der Gesamtschule in Mitte und im Osten gleich zwei neue Gesamtschulen an den Start gegangen. Das war ein voller Erfolg, und jedes Jahr haben sich seither hunderte von Kindern mehr an den beiden Gesamtschulen angemeldet als Plätze zur Verfügung stehen.

Da lag es nahe, eine dritte zu schaffen, und wo könnte das besser gelingen als an einem Standort in dem Stadtbezirk Münsters, der am stärksten wächst und wo es noch dazu eben ein ausgebautes Schulzentrum gibt, aber keine Schule mehr? So ließen sich Investitionskosten sparen und gleichzeitig ein schneller Start ermöglichen. Schnell ist in Münster natürlich immer relativ und so geschah erstmal nicht viel nach den grundlegenden Ideen 2016.

II. Es hat noch immer gut gegangen

Denn es war klar, dass Roxel zwar aus Münsteraner Sicht der am besten geeignete Standort war: Im Westen gelegen in deutlicher Distanz zu den beiden anderen Gesamtschulen, mit einem vorhandenen Gebäude und mit vorhandener Entwicklungsfläche. Das konnte man aber auch anders sehen, gab es doch im benachbarten Havixbeck bereits eine vollausgebaute Gesamtschule, zu der auch aus Münsters Westen Kinder gingen.

Insofern musste die Stadt – wie bei allen Schulgründungen – den Konsens mit den Nachbarkommunen suchen. Das aber würde, und das wurde sehr schnell klar, nicht im Einvernehmen funktionieren, was wiederum die Bezirksregierung ins Spiel bringen würde.

Dann lief es so, wie immer: Münsters Verwaltung tat erstmal nichts, und da die Stadt ja sowieso Oberzentrum ist und das Umland sich freuen darf, in der Nachbarschaft einer so großartigen Stadt zu liegen, fällt es in Münster selten jemandem ein, gegenläufig gelagerte Interessen ernst zu nehmen.

Der Blick des Umlands auf Münster sieht deswegen auch etwas anders aus: Eine Stadt, die stark auf sich und ihre Binnendiskurse schaut, und die außerdem – wenn man aus dem nördlichen Ruhrgebiet schaut – eher als dickes verwöhntes Kind mit dem goldenen Löffel im Mund durch die Gegend läuft.

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Das Vertrauen auf die eigene Relevanz und die Berechtigung des Anliegens einer dritten Gesamtschule führte dementsprechend dazu, dass Münsters Verwaltung keine Schritte unternahm, Havixbeck oder den Kreis Coesfeld mitzunehmen oder in die Debatte einzubeziehen. Das blieb lange so – während man dort bereits die intensive Lobbyarbeit bei der Bezirksregierung begonnen hatte.

Der ländliche Raum mobilisierte gegen die rücksichtslos planende Großstadt in großer Einigkeit: Gemeinden und Kreis standen einig, während in Münster die Dinge wie immer gemächlich angingen.

Das Argument wegbrechender Anmeldezahlen war dabei an sich wenig überzeugend – hatte man doch gerade erst eine Dependance in Billerbeck eröffnet und angesichts von 350 Abweisungen an Münsters Gesamtschulen spricht wenig dafür, dass die Havixbecker Gesamtschule in ihrer Existenz bedroht wäre. Aber es ging plötzlich auch mehr um David gegen Goliath aus Sicht der Umlandgemeinden, auch wenn die Wirklichkeit mehr nach schnarchendem Gulliver aussah.

Während anderswo erfolgreich die Lobbyarbeit geleistet wurde, hatte Münsters Verwaltung nicht einmal die Hausaufgaben fertig. Und, überflüssig zu erwähnen, der Chef der Verwaltung hat sich bis heute für das Thema nirgends engagiert.

An der Spitze der Verwaltung gibt es schließlich wichtigere Probleme als 350 Kinder, die jedes Jahr an ihrer Wunschschule abgewiesen werden müssen. Zum Beispiel das Thema, dass man den Markt in Münster jetzt endlich nicht mehr nüchtern verlassen muss. Alles eine Frage von Prioritäten.

Die Gesamtschule in Roxel gehörte in Münster anders als in Coesfeld und Havixbeck nicht dazu und als dann mehrere Jahre nach Beginn der Debatte die Voranfrage an die Bezirksregierung rausging, war man ganz erstaunt, 2021 dann ein Veto zu erhalten.

Jetzt wurde nochmal argumentativ nachgelegt und eine Prognose zu den Schülerzahlen erarbeitet, und die offizielle Anfrage mit eigenen Prognosedaten zu Anmeldungen folgte. Wenig überraschend gab es dann jetzt die endgültige Absage: Die Bezirksregierung bleibt bei ihrem Nein zurGesamtschule in Roxel.

III. In der Sackgasse

Da war die Empörung im Schulausschuss natürlich groß und man heizte der Bezirksregierung verbal ein, ohne damit allerdings die dortigen Beamten ins Schwitzen bringen zu können. Eine Sitzung, bei der man die eigenen Argumente vor der Entscheidung der Bezirksregierung vortragen konnte, hatte nicht stattgefunden, umso größer aber war jetzt die Empörung über die Erkenntnis, in der Sackgasse zu stecken. Denn klar ist: Seit 2017 sind jedes Jahr hunderte Kinder nicht an der Schulform ihrer Wahl angekommen, und so wird das in Münster auch erstmal bleiben, zumindest in den nächsten Jahren. Eine schnelle Lösung ist nämlich nicht in Sicht.

Die scheinbar so schnell realisierbare Lösung in Roxel rückt in die Ferne eines möglicherweise über zwei Instanzen auszutragenden Rechtsstreits mit ungewissem Ausgang, ein Plan B existiert offenbar weder bei der Politik noch bei der Verwaltung. Das sind die idealen Zutaten für eine münstertypische Debatte: jahrelanges Palaver, aber keine Ergebnisse.

Das Erstaunliche daran ist eigentlich nur, wie klaglos die betroffenen Familien das jedes Jahr hinnehmen. Man muss sich die Dimensionen klarmachen: 350 Abweisungen an den Gesamtschulen, das sind mehr als zwölf Prozent aller Kinder eines Geburtsjahrgangs in unserer Stadt, die nicht an der Schulform ihrer Wahl lernen können. Nicht ein einziges Mal, sondern mit schöner Regelmäßigkeit jedes Jahr.

Und das bedeutet noch etwas anderes: Selbst, wenn eine sechszügige Gesamtschule käme, wären die Zahlen der Abweisungen immer noch so hoch, dass man noch eine vierte Gesamtschule davon gründen könnte.

Das macht auch klar, wie absurd die Argumentation der Bezirksregierung ist. Natürlich gehen diese Kinder jetzt auf andere Schulen, aber eine Stadt, die sich so viel auf ihre Bildung zugutehält, liefert hier einen bemerkenswerten Kontrast zwischen Elternwillen und Realität. Nachdem nun aber offensichtlich ist, dass man in der Sackgasse steckt, ist guter Rat teuer. Das Einzige, was schon klar ist: Teuer wird es allerdings.

IV. Keine Lösung ist gut – dann lieber erstmal auf Zeit spielen

Die beste Lösung in Münster ist immer: erstmal auf Zeit spielen. So wird es kommen, wenn der Rat jetzt beschlossen hat, den Klageweg gegen die Bezirksregierung einzuschlagen. Das dauert dann erstmal – Verwaltungsgericht, Oberverwaltungsgericht, da fließt einiges Wasser die Aa runter, bis es ein Ergebnis gibt, und solange können Politik und Verwaltung weiter an Roxel festhalten.

Dafür gibt es gute Gründe, neben den sachlichen auch noch einen anderen wichtigen: Es ist für alle am bequemsten. Denn bei nüchterner Betrachtung ist jetzt schon klar: Die seit Jahren konstant hohe Zahl der Abweisungen an den Gesamtschulen spricht nicht für eine neue Gesamtschule, sondern für zwei. Nach Roxel ist also sowieso vor der Debatte über Nummer vier. Wenn Roxel aber scheitert, wird es richtig heikel.

Wie sehr, möchte ich Ihnen kurz demonstrieren. Eine neue Gesamtschule zieht mindestens vier, vielleicht sechs Züge aus dem dreigliedrigen Schulsystem ab. Das wird in Münster den Untergang mindestens einer Haupt- und einer Realschule bedeuten und auch bei den Gymnasien Spuren hinterlassen und eines in Bedrängnis bringen. Und es gibt, wenn Roxel scheitert, nur Alternativen, die alle viel Ärger und wenig Ruhm bringen werden.

Grundsätzlich kann man bestehende Schulen umwandeln: Auch die beiden bisherigen Gesamtschulen sind bei ihrer Gründung an die Stelle einer Realschule (Mitte) beziehungsweise einer Realschule und einer Hauptschule getreten (Ost). Wenn man nun schaut, wo eine solche Lösung jetzt auch realisierbar wäre, muss der Blick in die Stadtteile gehen, wobei der Westen bei einem Scheitern in Roxel ausfällt.

Ein Schulzentrum mit Haupt-,Realschule und Gymnasium gibt es in Wolbeck. Allerdings ist das schon jetzt so gut ausgelastet, dass eine Umwandlung in eine Gesamtschule ausscheidet, weil es damit sogleich denselben Bau- und Erweiterungsbedarf auf einer grünen Wiese auslösen würde, den man mit einer Umwandlung vermeiden möchte.

Der Südosten wächst stark, und für zusätzliche vier oder sechs Züge müsste hier in jedem Fall neu gebaut werden. Anders gelagert sind die Dinge in Kinderhaus: Hier gibt es ebenfalls ein Schulzentrum, und es ist nicht so stark ausgelastet wie das in Wolbeck. Allerdings kann man mit sehr guten Gründen der Meinung sein, dass gerade hier das Angebot eines Gymnasiums unverzichtbar für die Stabilisierung des Stadtteils ist.

Oder härter formuliert: Bisher hat Münster die Kopplung sozialräumlicher Problemlagen mit dem Schultyp Gesamtschule anders als mancherorts im Ruhrgebiet vermieden. Das könnte sich an einem Standort in Kinderhaus ändern, mit Folgen für die ganze Schullandschaft.

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Es bliebe unter den Stadtteilen dann noch Hiltrup, aber bei den hier tätigen Schulen liegen die Dinge ähnlich wie in Wolbeck mit der zusätzlichen Komplikation eines Gymnasiums in kirchlicher Trägerschaft in unmittelbarer Nähe. Und das waren die Optionen dann auch schon, es bleibt die Möglichkeit eines kompletten Neubaus einer Gesamtschule.

Das wäre die teuerste Variante, aber es wäre zugleich auch die naheliegendste. Der Standort läge auch auf der Hand: In Gremmendorf liegt das größte Konversionsgebiet mit der York-Kaserne. Dorthin hat der Rat aber gerade die Verlagerung des Schlaun-Gymnasiums beschlossen, allerdings ohne Zeitplan und ohne Finanzierung.

Zum Vergleich: An dieser Schule haben sich aktuell noch 28 Kinder angemeldet. Auch wenn es mit Ummeldungen von anderen Schulen in diesem Jahr doch noch zwei Klassen werden, dürfte es ein wagemutiger Schritt sein, für diese Schule neu zu planen.

Hier wird klar, wie brisant das Scheitern von Roxel werden kann: Kann Münster gleichzeitig eine vier- oder sechszügige neue Gesamtschule realisieren,noch ein neues Gymnasium bauen und parallel die bestehenden Gymnasien für zig Millionen Euro für die G9-Umstellung ausbauen?

Die Kämmerin wies diese Woche bei der Vorlage des Jahresabschlusses in schönen Formulierungen auf die Begrenztheit der Finanzkraft der Stadt hin. Und so wird rasch klar, dass der Gesamtschulausbau bei einem Scheitern der bequemen Roxel-Option bald vor der Entscheidung steht, die für Münster bisher undenkbar war: Sind es weiterhin nur Haupt- und Realschulen, zu deren Lasten die Gesamtschulexpansion geht, oder erreichen die Folgewirkungen auch das Heiligtum gymnasialer Bildung? Muss am Ende ein Gymnasium weichen?

Sie sehen, die Debatte wird unbequem, wenn man sie zu Ende denkt. Da ist es besser, wir klagen erstmal gegen die Bezirksregierung. Das eint die Reihen nochmal und bringt ein bisschen Ruhe und vielleicht – mit Glück vor Gericht – doch noch die bequeme Lösung. Die wünschen wir uns nämlich in Münster noch mehr als eine neue Gesamtschule.

Herzliche Grüße

Ihr Michael Jung

Porträt von Michael Jung

Michael Jung

… lebt schon immer in Münster. Er wurde 1976 hier geboren. Er hat an der Uni Münster Latein und Geschichte studiert und in Geschichte promoviert. Heute ist er Lehrer am Annette-Gymnasium in Münster. Michael Jung war viele Jahre in der Politik: Von 2013 bis 2020 war er Fraktionschef der SPD im Rat der Stadt. Im Jahr 2020 trat er für die SPD bei den Kommunalwahlen als Oberbürgermeisterkandidat an.

Die Kolumne

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