Klaus Brinkbäumers Kolumne | Was passiert nach der US-Wahl? | Fünf Szenarien

Müns­ter, 11. Okto­ber 2020

Guten Tag, lie­be Heimatstadt, 

seit knap­pen zwei Wochen bin ich nun in Deutsch­land, und ich wun­de­re mich über die­se Bun­des­re­pu­blik, die aus der Nähe näm­lich nicht mehr so kri­sen­fest aus­sieht wie aus der Distanz. Von New York aus betrach­tet schien es ja ganz und gar ein­deu­tig: Die USA waren das dys­funk­tio­na­le, weil rich­tungs­lo­se Land, das sich nicht ein­mal mehr auf eine Wirk­lich­keit ver­stän­di­gen und dar­um auch kei­ne Plä­ne ent­wi­ckeln kann. 

Deutsch­land hin­ge­gen schien, über den Atlan­ti­schen Oze­an hin­weg und aus der Distanz beob­ach­tet, zu wis­sen, was es will: Die­se Bun­des­re­pu­blik war eine erwach­se­ne, rei­fe Demo­kra­tie, die ihre Rich­tung kann­te, dem eige­nen Wis­sen, also den eige­nen Fach­kräf­ten ver­trau­te, und die des­halb fähig war, aus Gemein­sinn Schlag­kraft wer­den zu lassen. 

Schon wahr, auch Deutsch­land muss­te früh die The­sen eini­ger altern­der Her­ren ertra­gen, die gern wie­der wich­tig wären und das Tra­gen einer Mas­ke zur Pose der Unter­wer­fung unter eine Dik­ta­to­rin Mer­kel erklär­ten. Sich selbst ernann­ten die­se altern­den Her­ren zu den letz­ten frei den­ken­den und dar­um ein­zig intel­li­gen­ten Men­schen­we­sen und natür­lich zu Hel­den des Wider­stands – weil sie so tap­fer waren, Klug­heit und Soli­da­ri­tät zu ver­wei­gern, mehr war’s ja nicht. 

Was ich eigent­lich sagen woll­te: Das Land schien so viel wei­ter zu sein als die­se Weni­gen. Es schien eine Stra­te­gie zu haben, die­se umzu­set­zen und immer dort, wo es nötig war, zu jus­tie­ren – wer in New York oder Washing­ton frag­te, wel­che Natio­nen in der Covid-Kri­se Vor­bil­der für die USA sein könn­ten, hör­te im April, Mai, Juni: Neu­see­land natür­lich – und Deutschland. 

Nun, zurück in der Hei­mat, sieht die­se Hei­mat anders aus. 

Fra­gi­ler.

Die Coro­na-Zah­len stei­gen wie­der. Die Regie­rung dringt mit Appel­len nicht durch. Die Län­der kri­ti­sie­ren und beschimp­fen ein­an­der, kom­men längst zu unter­schied­li­chen Regeln. Wer darf wohin rei­sen? Nach wel­chen Kri­te­ri­en? Vie­le Men­schen schei­nen das The­ma leid zu sein, erschöpft zu sein, obwohl die Lage ja unver­än­dert ist, sie schei­nen Covid fort­zu­wün­schen. Wer noch vor drei Wochen in den ver­meint­lich chao­ti­schen Ver­ei­ni­gen Staa­ten Bahn gefah­ren ist und nun in deut­sche Züge steigt, bemerkt den Unter­schied sofort: Dort, in den USA, funk­tio­nie­ren Sitz­platz-Reser­vie­run­gen so, dass alle Fahr­gäs­te Abstand zuein­an­der hal­ten kön­nen. Hier nicht. Hier wird aus einer Reser­vie­rung für einen Gang­platz im Groß­raum ohne Benach­rich­ti­gung ein Fens­ter­platz in einem Abteil mit fünf ande­ren Fahr­gäs­ten, von denen zwei kei­ne Mas­ke tra­gen, da sie die gesam­te Fahrt (zwei Stun­den lang) zum Früh­stück erklären. 

Das stär­ke­re, das robus­te­re Land… wirklich? 

Wie stolz wir Deut­schen auf unse­re Regeln sind, wie eisern wir die­sen Regeln fol­gen, auch wenn die Regel selbst kei­nen Sinn ergibt. Mas­ke auf, wenn wir in der Elb­phil­har­mo­nie her­um­ge­hen, Mas­ke run­ter, sobald wir sit­zen – wieso? 

Ob ich gehe oder sit­ze, inter­es­siert die Aero­so­le gewiss außerordentlich. 

Sie lächelten über Mund-Nasen-Bedeckungen

In den USA sind es nun 213.000 Covid-Tote. Das Wei­ße Haus ist zu einem Epi­zen­trum der spe­zi­el­len Art gewor­den, beson­ders der West Wing, das wah­re Zen­trum der Weltmacht. 

Prä­si­dent Donald Trump ist erkrankt. Sei­ne Ehe­frau, Mela­nia Trump, ist erkrankt. Die treue Bera­te­rin des Prä­si­den­ten, Hope Hicks, ist erkrankt, ihr Fall wur­de als ers­ter bekannt, was aber nicht heißt, dass Frau Hicks alle ande­ren ange­steckt haben muss. Ste­phen Mil­ler ist erkrankt, Reden­schrei­ber und wich­tigs­ter Stra­te­ge des Prä­si­den­ten, Erfin­der all der xeno­pho­ben und ras­sis­ti­schen Trump-Reden. 

Auch Nicho­las Luna, Assis­tent des Prä­si­den­ten, auch Kay­leigh McEn­any, Pres­se­che­fin, auch Karo­li­ne Lea­vitt, stell­ver­tre­ten­de Spre­che­rin, auch Chad Gilm­ar­tin, Jalen Drum­mond und Har­ri­son W. Fields, alle­samt stell­ver­tre­ten­de Spre­cher, sind erkrankt. Denn es ist kei­ne Fra­ge, so sagt es der Epi­de­mio­lo­ge Antho­ny Fau­ci, dass es einen „super-sprea­der event“ im Wei­ßen Haus gab, ohne Regeln, ohne Abstand, ohne Mas­ken: Am 26. Sep­tem­ber stell­te Donald Trump dort die mut­maß­li­che neue Supre­me-Court-Rich­te­rin Amy Coney Bar­rett vor, und nun sind über ein Dut­zend Teil­neh­mer krank.

In die­sem Wei­ßen Haus läuft nicht mehr viel rund. Einer der Mit­ar­bei­ter, mit denen ich in den ver­gan­ge­nen Mona­ten regel­mä­ßig spre­chen durf­te, sagt, dass seit Beginn der Pan­de­mie alle, die eine Mund-Nasen-Bede­ckung tra­gen, belä­chelt und ver­spöt­telt wür­den. Die Mas­ke ist zum ulti­ma­ti­ven Sym­bol des ame­ri­ka­ni­schen Kul­tur­kriegs gewor­den: Wer sie trägt, gilt den einen, den Demo­kra­ten, als klug, sorg­sam und soli­da­risch – und den ande­ren, den Repu­bli­ka­nern als fei­ge, unter­wür­fig, schwach. 

Gelo­gen wird auch, stän­dig. War­um infor­mier­te die Trump-Kam­pa­gne die Kam­pa­gne des Riva­len Joe Biden nicht, obwohl sich bei­de Teams zur ers­ten Fern­seh­de­bat­te tra­fen? Wann erfuhr der Prä­si­dent von der eige­nen Erkran­kung? Wie vie­le Tests gab es? Bekam der Prä­si­dent Sau­er­stoff? Wel­che Medi­ka­men­te bekam er außer­dem? Die Öffent­lich­keit muss nicht alles wis­sen, aber wenn Män­ner, die weit über 70 Jah­re alt sind, für höchs­te Ämter kan­di­die­ren, wird der Gesund­heits­zu­stand relevant. 

Vie­le Geschich­ten, vie­le Wahr­hei­ten schwir­ren durch­ein­an­der, wider­le­gen ein­an­der; Trump will stär­ker als Coro­na sein, viril, unbeug­sam – ist es eigent­lich Zufall, dass es immer wie­der älte­re Her­ren sind, die aus­ge­rech­net durch ihren Kampf gegen die Rea­li­tät den Hel­den­sta­tus errei­chen wollen? 

In der Limou­si­ne ließ Trump sich vor dem Kran­ken­haus auf und ab fah­ren, sei­ne Anhän­ger jubi­lier­ten; und nur Demo­kra­ten stell­ten die Fra­ge, war­um eigent­lich die Leib­wäch­ter, Agen­ten, Fah­rer für sol­che PR-Auf­trit­te in Gefahr gebracht wur­den. Dann flog Trump auch schon zurück zum Wei­ßen Haus, im Hub­schrau­ber, und auf dem Bal­kon riss er sich in dra­ma­ti­scher Ges­te die Mas­ke vom Gesicht – es war eine jener Posen der Trump-Jah­re, die blei­ben werden. 

Die USA schaf­fen es selbst in die­sen Kri­sen­ta­gen nicht, Einig­keit oder zumin­dest eine gedämpf­te Ton­la­ge zu fin­den. Ein Deu­tungs­krieg ist ent­brannt. Ist die Erkran­kung Trumps der fina­le Beweis für Inkom­pe­tenz und Rück­sichts­lo­sig­keit? Das sagt der demo­kra­ti­sche Kan­di­dat Joe Biden. Ist die Krank­heit der Beweis für Kampf­geist, für den Mut, hin­aus ins Land zu tre­ten? Das sagen Trumps Leute. 

Und Trump sagt: „Fürch­tet euch nicht vor Covid.“

Was passiert, wenn…? 

Spie­len wir eini­ge Sze­na­ri­en durch: 

1. „Donald Trump ist zu krank, um am 3. Novem­ber bei der Wahl anzutreten.“ 

Dann tritt er den­noch an. Die Wahl näm­lich läuft bereits, das soge­nann­te „ear­ly voting“ und die Brief­wahl haben in diver­sen Bun­des­staa­ten schon begon­nen, und die Namen Trump und Biden ste­hen auf den Stimm­zet­teln. Den­ken wir die­ses Sze­na­rio folg­lich wei­ter: Soll­te Trump die Wahl gewin­nen und zu krank sein, die zwei­te Amts­zeit anzu­tre­ten, wür­de Mike Pence Prä­si­dent wer­den, denn die­ser kan­di­diert als Vize­prä­si­dent an Trumps Seite. 

2. „Donald Trump ver­liert nach abso­lu­ter Stim­men­zahl und gewinnt trotzdem.“ 

Das ist trotz aller auf einen Biden-Sieg hin­deu­ten­den Umfra­gen mög­lich, der Grund liegt im Wahl­recht: Die abso­lu­te Stim­men­zahl spielt am 3.11. kei­ne Rol­le. Es geht in den USA dar­um, in genü­gend Bun­des­staa­ten jeweils die Mehr­heit zu errin­gen und dadurch auf die Mehr­heit von 538 Wahl­leu­ten zu kom­men (also 270 Wahl­leu­te). Wer in einem Bun­des­staat 50,1 Pro­zent der Stim­men hat, erhält dort 100 Pro­zent der Wahl­leu­te: „the win­ner takes all“. So konn­te es gesche­hen, dass Hil­la­ry Clin­ton 2016 lan­des­weit rund drei Mil­lio­nen Stim­men Vor­sprung vor Trump hat­te und trotz­dem die Wahl ver­lor. Der­zeit liegt Biden in den umkämpf­ten Bun­des­staa­ten (Flo­ri­da, Penn­syl­va­nia, Michi­gan, Wis­con­sin, Ohio) vorn, pro­gnos­ti­ziert wird lan­des­weit sogar ein Biden-Vor­sprung von bis zu sechs Mil­lio­nen Stim­men. Soll­te Trump der­art hoch ver­lie­ren und auf­grund des wind­schie­fen Wahl­rechts trotz­dem gewin­nen, könn­te dies­mal die Ein­heit der Nati­on gefähr­det sein: Kali­for­ni­en könn­te die Unab­hän­gig­keit anstre­ben. Wahr­schein­lich ist ein radi­ka­ler Voll­zug sol­cher bis­lang zag­haft dis­ku­tier­ten Plä­ne nicht, eine Moder­ni­sie­rung des Wahl­rechts aller­dings auch nicht, da die Repu­bli­ka­ner, die von den heu­ti­gen Ver­zer­run­gen pro­fi­tie­ren, zustim­men müssten.

3. „Biden gewinnt, doch Trump räumt das Wei­ße Haus nicht.“ 

Es hängt davon ab, wie ein­deu­tig ein Biden-Sieg aus­fällt. Drei Unter­sze­na­ri­en: Wenn Biden in den meis­ten der soge­nann­ten Swing Sta­tes gewinnt und dadurch sein Wahl­sieg hoch aus­fällt, wer­den die Repu­bli­ka­ner Trump zu Sei­te räu­men und so tun, als hät­ten sie des­sen Lügen, Miso­gy­nie, Ras­sis­mus und Nepo­tis­mus nie mit­ge­tra­gen. Wenn Biden knapp gewinnt, wer­den Trumps Söh­ne, vor allem Don Jr., und Leu­te wie der Fox-Mode­ra­tor Tucker Carlson ver­su­chen, 2024 die Nomi­nie­rung der Repu­bli­ka­ner zu errin­gen. Wenn Bidens Sieg an nur einem Bun­des­staat hängt, wird Trump über Kla­gen oder auch durch schie­re Wort­macht – indem er im Ver­bund mit Fox News in der Wahl­nacht den eige­nen Sieg ver­kün­det und die Ergeb­nis­se der Brief­wahl nicht abwar­tet – ver­su­chen, Fak­ten zu schaffen. 

4. „Ganz unab­hän­gig vom Ergeb­nis, die Wahl wird ins Cha­os füh­ren, Ame­ri­ka steht vor einem Bürgerkrieg.“ 

Nein. Es gibt zwar Mili­zen, und es gibt jede Men­ge Waf­fen in den USA; und Trump erzählt sei­nen Anhän­gern seit Wochen, dass sei­ne Nie­der­la­ge nur mög­lich sei, wenn die Demo­kra­ten mit Wahl­be­trug durch­kä­men. Wahr­schein­lich sind dar­um Pro­tes­te, gewiss Feind­se­lig­kei­ten, nicht aber ein Bürgerkrieg. 

5. „Biden gewinnt, und die USA sind geheilt.“ 

Eben­falls nein. Pola­ri­sie­rung und Hass rei­chen tief. Biden, 77, ist kein kraft­vol­ler Kan­di­dat. Und wirk­lich regie­ren kann eine Par­tei in den USA nur in jenen knap­pen Pha­sen, in denen sie zugleich das Wei­ße Haus, den Senat und das Reprä­sen­tan­ten­haus hält. Dass die Demo­kra­ten am 3. Novem­ber auch den Senat gewin­nen, ist mög­lich, aber nicht wahr­schein­lich: 47:53 steht es aus ihrer Sicht dort im Moment, und nur 33 Sit­ze ste­hen zur Wahl. 

Ich wün­sche Ihnen einen schö­nen Sonn­tag im schö­nen Münster. 

Herz­li­che Grüße

Ihr Klaus Brinkbäumer

Schrei­ben Sie mir gern; Sie errei­chen mich unter klaus.brinkbaeumer@rums.ms oder via Twit­ter: @Brinkbaeumer.


In eigener Sache

Das Buch „Im Wahn – Die ame­ri­ka­ni­sche Kata­stro­phe“ (zusam­men mit Ste­phan Lam­by) ist soeben bei C.H.Beck erschie­nen. Unser Doku­men­tar­film „Im Wahn“ läuft am 26. Okto­ber um 22.50 Uhr in der ARD. 


Über den Autor

Klaus Brink­bäu­mer ist in Hil­trup auf­ge­wach­sen. Er ist Jour­na­list, Autor und Fil­me­ma­cher. Von 2015 bis 2018 war er Spie­gel-Chef­re­dak­teur, 2016 wur­de er Chef­re­dak­teur des Jah­res. Brink­bäu­mer gewann unter ande­rem den Egon-Erwin-Kisch- und den Hen­ri-Nan­nen-Preis. Im Zeit-Pod­cast „Okay, Ame­ri­ca?“ spricht er ein­mal wöchent­lich mit US-Kor­re­spon­den­tin Rie­ke Havertz über die poli­ti­sche Lage in den USA. Klaus Brink­bäu­mer lebt in Hamburg.