Die Kolumne von Ruprecht Polenz | Straßennamen sind Stadtgeschichte

Müns­ter, 12. März 2023

Guten Tag,

einen schö­nen Sonn­tag wün­sche ich Ihnen.

Ich freue mich, dass ich Sie dank eines Com­pu­ter­pro­gramms, das Ihren Namen auto­ma­tisch mit die­sem Brief ver­knüpft, per­sön­lich anspre­chen kann. Denn Namen sind etwas ganz Beson­de­res. Des­halb soll es heu­te mal um Namen gehen. Sie mer­ken schon, wir wer­den bei der Dis­kus­si­on über Stra­ßen-Umbe­nen­nun­gen landen.

Für jeden Men­schen sei der eige­ne (Vor)name das aller­schöns­te Wort, hat vor vie­len Jah­ren Dale Car­ne­gie gesagt. In sei­nem Best­sel­ler „Wie man Freun­de gewinnt“ hat er des­halb emp­foh­len, den Namen sei­nes Gegen­übers mög­lichst oft zu erwähnen.

Noch ehe ein Baby selbst spre­chen kann, ist es mit dem eige­nen Namen ver­bun­den und weiß: Jetzt bin ich gemeint. Der Name wird zum Bestand­teil der eige­nen Identität.

Sehr früh bekommt man auch sei­ne Adres­se bei­gebracht. Für den Fall, dass ein klei­nes Kind ver­lo­ren geht, soll es nicht nur sei­nen Namen sagen kön­nen, son­dern auch, wo es wohnt, damit es nach Hau­se gebracht wer­den kann.

Stra­ßen­na­men wer­den damit zwar nicht gleich zum Iden­ti­täts­be­stand­teil, aber sie gehö­ren zur eige­nen Woh­nung dazu – gewis­ser­ma­ßen als Außen­an­la­gen. Auf jedem Brief oder Päck­chen, das man bekommt, steht gleich unter dem eige­nen Namen der Name der Stra­ße, in der man wohnt. Wenn jemand zu Besuch kom­men soll, braucht er Stra­ßen­na­men und Haus­num­mer, um uns zu fin­den. Man hat sich an die­se enge Ver­bin­dung mit dem eige­nen Namen gewöhnt.

Des­halb braucht es gute und über­zeu­gen­de Grün­de dafür, wenn Stra­ßen umbe­nannt wer­den sol­len. Auch weil Stra­ßen­na­men der Ori­en­tie­rung die­nen sol­len, liegt es nahe, sie nicht alle nase­lang zu ändern. Vie­le Stra­ßen tra­gen seit Jahr­hun­der­ten den­sel­ben Namen. Der Alte Stein­weg oder die Salz­stra­ße hie­ßen schon im Mit­tel­al­ter so.

Tausende Unterschriften gegen die Umbenennung

Ande­ren Stra­ßen­na­men war ein kür­ze­res Leben beschie­den, obwohl die Namens­ge­ber mit min­des­tens tau­send Jah­ren gerech­net hat­ten: Aber nach 1945 wur­de die Adolf-Hit­ler-Stra­ße in Müns­ter wie­der zur Bahn­hof­stra­ße, die Horst-Wes­sel-Stra­ße wie­der zur Hafen­stra­ße und die Her­mann-Göring-Stra­ße hieß wie­der Nordstraße.

Ohne es mit­er­lebt zu haben, gehe ich davon aus, dass die­se Rück­be­nen­nun­gen nicht umstrit­ten waren und ohne gro­ßes Auf­se­hen voll­zo­gen wurden.

Das war mit dem Hin­den­burg­platz anders. Über vie­le Jah­re wur­de eine Umbe­nen­nung gefor­dert, schließ­lich auch vom Rat beschlos­sen. Gegen die Umbe­nen­nung in Schloss­platz wur­den tau­sen­de Unter­schrif­ten gesam­melt. Schließ­lich muss­te ein Bür­ger­ent­scheid bestä­ti­gen: Es bleibt beim Schloss­platz. Die erbit­tert und sehr emo­tio­nal geführ­te Dis­kus­si­on damals zeigt, wie eng auch Stra­ßen­na­men mit Iden­ti­täts­ge­füh­len ver­bun­den sind.

Ande­re Län­der haben eher kei­ne Pro­ble­me mit dem Umbe­nen­nen von Stra­ßen, denn die Stra­ßen haben gar kei­ne Namen. So ver­wen­det man in vie­len Städ­ten der USA Buch­sta­ben und Zif­fern, um die Adres­se anzu­ge­ben: 200 East 45th Street in New York oder 633 A Street SE in Washing­ton. Aller­dings setzt die­ses Sys­tem eher recht­wink­lig zuein­an­der ver­lau­fen­de Stra­ßen vor­aus. Und nimmt so ein num­me­rier­tes Stra­ßen­sys­tem einer Gemein­schaft nicht die Indi­vi­dua­li­tät, die benann­te Stra­ßen bieten?

Streit um Namen kann eine Stadt auch mit einem Zei­sig­weg oder einer Waren­dor­fer Stra­ße ver­mei­den. Die eine zeigt an, wohin sie führt. Und Fau­na und Flo­ra sind geschicht­lich neutral.

Mit Per­so­nen ist das eine ande­re Sache. Da ändert sich die his­to­ri­sche Bewer­tung öfter. Wenn es zur Zeit der Benen­nung dem all­ge­mei­nen Emp­fin­den ent­sprach, die­ser oder jener Per­son durch einen Stra­ßen­na­men ehrend zu geden­ken, muss das Jahr­zehn­te oder Jahr­hun­der­te spä­ter nicht mehr so gese­hen wer­den. Des­halb müs­sen Umbe­nen­nun­gen grund­sätz­lich mög­lich sein. Eine Stadt­ge­sell­schaft ist bei der Namens­ge­bung frei. Das gilt nicht nur für neu­ge­bau­te Stra­ßen und Plät­ze, son­dern auch für Umbenennungen.

Der öffentliche Gebrauch von Geschichte

In Müns­ter sind die Bezirks­ver­tre­tun­gen für die Stra­ßen­na­men zustän­dig. Im Dezem­ber 2020 hat­te die BV Mit­te ein Gut­ach­ten in Auf­trag gege­ben, die zwi­schen 1933 und 1945 im Bezirk Mit­te ver­ge­be­nen Stra­ßen­na­men zu über­prü­fen, „ob und inwie­weit die­se Namen die Funk­ti­on hat­ten, die NS-Ideo­lo­gie, natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Erin­ne­rungs­ab­sich­ten oder die Zie­le der NS-Poli­tik zu veröffentlichen“.

Dr. Alex­an­der J. Schwi­tan­ski hat dar­auf­hin mit Han­na K. Ruff 66 Stra­ßen­na­men unter­sucht und „auf die Dich­te ihrer Bezü­ge zur NS-Ideo­lo­gie“ geprüft.

In Stra­ßen­na­men drü­cke sich „der öffent­li­che Gebrauch von Geschich­te durch die hand­lungs­mäch­ti­gen Deu­tungs­eli­ten aus.“ Des­halb sei­en „alle zwi­schen 1933 und 1945 ver­ge­be­nen Stra­ßen­na­men in ’nationalsozialistische(n) Erin­ne­rungs­ab­sich­ten‘ ver­ge­ben wor­den“, so sein Gutachten.

Außer­dem habe der Natio­nal­so­zia­lis­mus „älte­re, beson­ders inner­halb eines natio­na­lis­ti­schen und kon­ser­va­ti­ven Milieus vor­han­de­ne Erin­ne­rungs­be­stän­de genutzt und zu eige­nen Geschichts­deu­tun­gen wei­ter­ent­wi­ckelt.“ Das habe eine Ver­bin­dung zu brei­te­ren Tei­len der deut­schen Gesell­schaft her­ge­stellt und „konn­te zu deren Inte­gra­ti­on in den neu­en NS-Staat beitragen.“

Mit ande­ren Wor­ten: Auch eine Bar­ba­ros­sa-Stra­ße wäre bis heu­te kon­ta­mi­niert, wenn die Nazis einer Stra­ße in Müns­ter die­sen Namen gege­ben hätten.

Vor allem die­ser zwei­te Teil der Unter­su­chungs­prä­mis­se hat sei­ne Pro­ble­me, wie wir gleich sehen werden.

Auf Antrag von Grü­nen, SPD und Volt hat die Bezirks­ver­tre­tung Müns­ter-Mit­te im Janu­ar mehr­heit­lich beschlos­sen, eine gan­ze Rei­he von Stra­ßen umzu­be­nen­nen, unter ande­rem die Prinz-Eugen-Stra­ße. Zur Begrün­dung wird auch auf die Kon­ta­mi­nie­rungs­the­se hin­ge­wie­sen:

„Prinz Eugen erhielt 1697 den Ober­be­fehl über die öster­rei­chi­schen Trup­pen im Kampf gegen das Osma­ni­sche Reich. Die­se Krie­ge wur­den spä­ter als sog. ‚Tür­ken­krie­ge‘ und Prinz Eugen als ‚Tür­ken­krie­ger/-sie­ger‘ bezeich­net. Damit soll­te an den Kriegs­geg­ner nur als ‚den Ande­ren‘ gedacht wer­den, der aus dem Kreis der zivi­li­sier­ten Völ­ker aus­ge­grenzt ist.

Was folgt aus den Motiven von damals?

Das NS-Regime nutz­te die­se Ver­ein­nah­mung Eugens, um Hit­ler mit Prinz Eugen gleich­zu­set­zen und die Ver­bin­dung von Ras­sen­ideo­lo­gie und Geo­po­li­tik zu ver­bin­den. Hit­lers Anschluss­re­de Öster­reichs fand auf der Wie­ner Hof­burg direkt über dem Rei­ter­stand­bild Eugens statt.“

Aus letz­te­rem lässt sich sicher­lich kei­ne beson­de­re Nähe zu Hit­ler kon­stru­ie­ren. Die Anschluss­re­de hielt Hit­ler in der Hof­burg, weil dort die Resi­denz der Habs­bur­ger gewe­sen war. Das Rei­ter­stand­bild stand seit lan­gem davor, weil die öster­rei­chi­schen Trup­pen unter Prinz Eugen die Tür­ken vor Wien zurück­ge­schla­gen haben. Aber sei’s drum.

Die Prinz-Eugen-Stra­ße erhielt ihren Namen 1936. Heut­zu­ta­ge wür­de man wahr­schein­lich kei­ne Stra­ße mehr nach Prinz Eugen benen­nen. Aber folgt aus den Moti­ven, die 1936 zu der Namens­ge­bung geführt haben, dass man sie fast 90 Jah­re spä­ter umbe­nen­nen muss?

Wer wür­de heu­te Prinz Eugen mit Hit­ler gleich­set­zen? Wer käme beim Blick auf das Schild Prinz-Eugen-Stra­ße über­haupt auf die Idee, an Hit­ler oder die Nazis zu denken?

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Grü­ne, SPD und Volt schei­nen ihren Argu­men­ten für eine Umbe­nen­nung selbst nicht zu trau­en. In Bür­ger­ver­samm­lun­gen soll ledig­lich über die Ent­schei­dung, die Stra­ße umzu­be­nen­nen, infor­miert wer­den. Das „Ob-über­haupt-Umbe­nen­nen“ wird nicht mehr in Fra­ge gestellt.

Sehr apo­dik­tisch behaup­ten die drei Par­tei­en, der Name Prinz-Eugen-Stra­ße „ste­he im Wider­spruch zu den Wer­ten unse­rer frei­heit­li­chen Demo­kra­tie, die sich gegen natio­nal­so­zia­lis­ti­sche, anti­se­mi­ti­sche, mili­ta­ris­ti­sche, miso­gy­ne, ras­sis­ti­sche und impe­ria­lis­ti­sche Ansich­ten zur Wehr setzt, sowie den Schutz ihrer Min­der­hei­ten anstrebt. Ein Erklä­rungs­schild unter den Stra­ßen­na­men ist daher kei­ne aus­rei­chen­de Maßnahme“.

Die Bür­ger sind des­halb nur dazu ein­ge­la­den, Vor­schlä­ge für einen neu­en Stra­ßen­na­men zu machen. Die­se Vor­ge­hens­wei­se ist unnö­tig konfrontativ.

Straßennamen dokumentieren Stadtgeschichte

Zu hin­ter­fra­gen wäre näm­lich auch die Aus­gangs­prä­mis­se des Gut­ach­tens, wonach die Bedeu­tung, die die Nazis einem Stra­ßen­na­men bei­gemes­sen haben, die­sen auf Dau­er kon­ta­mi­niert. Als hät­te der Natio­nal­so­zia­lis­mus grö­ße­re Deu­tungs­macht als unse­re Demo­kra­tie. Und das bis heute.

Das Geist­vier­tel wur­de nach dem Ers­ten Welt­krieg zwi­schen 1921 und 1931 bebaut. Deutsch­land hat­te 1919 Elsaß-Loth­rin­gen (wie­der) an Frank­reich ver­lo­ren. Was mögen die Moti­ve für die gewähl­ten Stra­ßen­na­men im Geist­vier­tel gewe­sen sein: Met­zer Stra­ße, Kol­mar­stra­ße, Straß­bur­ger Weg, Wei­ßen­burg­stra­ße, Wörth­stras­se, Elsäs­ser Stra­ße? Weh­mü­ti­ge Erin­ne­rung oder Hoff­nung auf Revanche?

Text wird aus Kon­text ver­stan­den. Was auch immer in den Zwan­zi­ger­jah­ren die Beweg­grün­de für die Stra­ßen­be­nen­nun­gen gewe­sen sein mögen: Heu­te stellt nie­mand in Fra­ge, dass Elsaß-Loth­rin­gen zu Frank­reich gehört. Die Stra­ßen­na­men erin­nern an deutsch-fran­zö­si­sche Geschich­te. Die dama­li­ge „Erb­feind­schaft“ ist zu enger nach­bar­schaft­li­cher Freund­schaft gewor­den. Nie­mand fühlt sich beim Besuch des Geist­vier­tels dazu auf­ge­for­dert, das anders zu sehen.

Das Bei­spiel zeigt, dass auch geschicht­li­che Klit­te­run­gen und Deu­tun­gen durch die Natio­nal­so­zia­lis­ten durch den heu­ti­gen demo­kra­ti­schen Kon­text eine ande­re Bedeu­tung erhal­ten kön­nen. Die­ser Gedan­ke spielt weder in dem Schwi­tan­ski-Gut­ach­ten eine Rol­le, noch in den Beschlüs­sen von Grü­nen, SPD und Volt.

Stra­ßen­na­men doku­men­tie­ren Stadt­ge­schich­te. Dazu soll­te eine Stadt­ge­sell­schaft ste­hen und nicht nach­träg­lich dar­an her­um­ra­die­ren – es sei denn, es spre­chen wirk­lich zwin­gen­de Grün­de dafür.

Ich grü­ße Sie aus dem Geist­vier­tel und wün­sche Ihnen eine gute Woche.

Ihr
Ruprecht Polenz

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Über den Autor

Vie­le Jah­re lang war Ruprecht Polenz Mit­glied des Rats der Stadt Müns­ter, zuletzt als CDU-Frak­ti­ons­vor­sit­zen­der. Im Jahr 1994 ging er als Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter nach Ber­lin. Er war unter ande­rem CDU-Gene­ral­se­kre­tär, zwi­schen 2005 und 2013 Vor­sit­zen­der des Aus­wär­ti­gen Aus­schus­ses des Bun­des­tags. Von 2000 bis 2016 war Ruprecht Polenz Mit­glied des ZDF-Fern­seh­rats, ab 2002 hat­te er den Vor­sitz. Der gebür­ti­ge Bautz­e­ner lebt seit sei­nem Jura-Stu­di­um in Müns­ter. 2020 erhielt Polenz die Aus­zeich­nung „Gol­de­ner Blogger“.

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