Die Kolumne von Christoph Hein | Asien und Enge


Münster, 23. April 2023
Guten Tag,
ja, morgens am Ludgerikreisel, samstags um halb eins auf dem Markt, auch nachts auf der Tanzfläche der Dille kann es schon mal eng werden in Münster. Doch so groß das Gedränge auch sein mag, ist es kein Vergleich zu dem, was sich tagtäglich in Asien abspielt.
Richtiges Gedränge beginnt da, wo geschoben und gedrückt wird, wo sich Mopeds unter Dauerhupen noch einen Weg durch Horden von Fußgängern erzwingen, wo es mit der Luft eng wird. Wo nur Dank ungeschriebener Gesetze der geordneten Fortbewegung in völliger Unordnung, Gesetze, die jeder hier mit der Muttermilch aufsaugt, die aber Fremde verzweifeln lassen, ein Überleben möglich erscheint.
Asien und Enge, das ist ein Synonym. Trotz der Hochebenen des Himalaja, der Wüste Thar in Pakistan oder fast menschenleerer Inseln im Stillen Ozean. Denn auf der Einkaufsstraße Dong Xuan in Hanoi, der Shibuya Kreuzung in Tokio oder rund um den Khan Market in Delhi geht tagtäglich kaum noch was. Und die Zahl der Asiaten wächst weiter.
Gerade in Südasien, in diesen Tagen einmal mehr stöhnend unter einer Hitzeglocke, ballen sich die Menschen. 170 Millionen in Bangladesch, 240 Millionen in Pakistan, nun mehr als 1,4 Milliarden in Indien. Dazu der nicht abreißende Zug der Habenichtse in Metropolen wie Dhaka, Karachi oder Bombay in der Hoffnung, dort einen Zipfel vom Glück zu ergattern, der zumindest das Überleben sichert. Auch wenn sich das über Jahre unter Plastikplanen entlang einer Bahnlinie abspielen dürfte.
Der Höhepunkt der Bevölkerungsdichte
Einfacher wird es nicht werden. Die fortschreitende Klimakatastrophe treibt immer mehr Menschen in die Städte, wo es Wasser gibt, Unterschlupf, sich Strom aus den Leitungen abzapfen lässt, vielleicht ein Gelegenheitsjob abfällt. Im Süden Asiens sinkt der Grundwasserspiegel immer schneller, Felder in Küstennähe versalzen, der Fischreichtum schwindet und Stürme, Erdrutsche und Waldsterben nehmen zu. Die Völkerwanderung der Armen nimmt an Fahrt auf.
Man kann es einfach sagen: Wir Menschen zerstören unsere eigene Lebensgrundlage. Das Problem wächst mit der wachsenden Bevölkerung. Und da liegt Indien nun ganz vorn. Der Subkontinent gilt als die „größte Demokratie der Erde“ und die „am schnellsten wachsende große Volkswirtschaft“. Nun kam ein weiterer Rekord hinzu: Mit 1,4286 Milliarden Menschen sei Indien an China mit 1,4257 Milliarden Menschen vorbeigezogen, sagen die Vereinten Nationen. Indien ist das bevölkerungsreichste Land der Erde.
Bei dieser Größe wird es nicht bleiben: 2030 dürfte der Subkontinent schon 1,5 Milliarden Menschen zählen, uneinholbar für jedes andere Land der Erde. Der Höhepunkt der Bevölkerungsdichte sollte dann 2064 mit geschätzten 1,7 Milliarden Menschen erreicht werden.
Nicht nur die schiere Zahl der Inder ist überwältigend. Sie sind auch extrem jung. Ihr Medianalter liegt bei 28 Jahren. Rund 650 Millionen Inder sind sogar jünger als 25 Jahre. Das schafft ein Heer von strebsamen, hoffnungsvollen Menschen, die nach Bildung, Einkommen, einer Zukunft suchen. Damit, so verkündet mancher in den Führungsetagen von Wirtschaft und Politik, entstehe eine neue Fabrik der Welt, ein Zukunftsstaat, der sich an den eigenen Haaren aus dem Elend ziehe.
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Doch muss man kein ständiger Gast im Institut für Soziologie in der Scharnhorststraße gewesen sein, um Risse in diesem Bild einer rosigen Zukunft zu erkennen. Aus der demografischen Dividende könnte ein Desaster werden. Mögen die Vorbilder der Jugendlichen in Bollywood oder den Chefetagen von Silicon Valley und Wall-Street unerreichbar bleiben, so wollen sie doch wenigstens ihren Kindern ein besseres Leben bieten. Kein Wunder, dass sich auf 40.000 befristete Stellen in der indischen Armee jüngst 3,5 Millionen junge Menschen bewarben. Bei der Eisenbahn rangen gar 12 Millionen Bewerber um 35.000 Stellen. Nach dem Ende der Auswahlfrist kam es zu Unruhen.
Indien muss, so die Berater von McKinsey, innerhalb von einem Jahrzehnt rund 145 Millionen Arbeitsplätze schaffen, um alle Nachwachsenden in Lohn und Brot zu bringen. Das sind mehr als eine Million Stellen alle 30 Tage, Monat für Monat. Eine unlösbare Aufgabe. Der Schriftsteller Pankaj Mishra, der gerade seinen neuen Roman „Der Goldschakal“ vorlegt, warnt: „Die Zahl der Inder, die hungrig schlafen, stieg von 190 Millionen im Jahr 2018 auf 350 Millionen im Jahr 2022.“
Die bunten Bilder aus Indien sprechen in diesen Monaten aber eine ganz andere Sprache: Da steht der Apple-Chef in Bombays (Mumbais) modernster Einkaufsmeile, umringt von Menschen, die ihm stolz ihre iPhones zeigen. Tim Cook tourt über den Subkontinent, um die beiden ersten Läden des Elektronikkonzerns zu eröffnen.
Altenheime aber sind Mangelware
Seine Zulieferer und seine Konkurrenten aus China schaffen nun Hunderttausende Stellen in der Fertigung von Monitoren, Kopfhörern und Mobiltelefonen. Doch kommen in die Fabriken eben nur jene, die zumindest eine erste Schulbildung vorweisen können. Diese Menschen werden es schaffen: Sie sind der Grundstock einer neuen, rasch wachsenden Mittelschicht. Sie werden eines Tages eine Wohnung in einem Turm in der Vorstadt kaufen, ihr Moped gegen einen Kleinwagen aus Korea tauschen, ihre Kinder in eine Schule schicken.
Im Dunkeln aber lebt das Heer der Zurückgebliebenen. Denn nur rund fünf Prozent der Arbeitskräfte Indiens verfügen über eine formale Ausbildung. Selbst Hochschulabsolventen müssen von westlichen Firmen ein, zwei Jahre nachgeschult werden. Mehr als 80 Prozent der Menschen in Indien arbeiten in der informellen Wirtschaft, ohne Vertrag, Kündigungsfrist oder Rentenanspruch. Sie stehen im täglichen Kampf ums Überleben.
Natürlich schwinden in Bombay, Kalkutta oder Delhi auch die deutschen Debatten über die Sicherheit der Renten oder die betonte Lebenslust der Generation Z: Denn eine wirksame Versorgung gibt es hier nur für ganz wenige. Hunderte Millionen Menschen sind auf Essensrationen der Regierung oder deren Angebot auf ein halbes Jahr „bezahlter“ Arbeit angewiesen – Programme, die Unruhen verhindern, zum Leben kaum reichen, aber die Steuerzahler belasten.
Weil die Bevölkerung nun so rasch wächst, werden 2050 mehr als 320 Millionen Menschen älter als 60 sein. Altenheime aber sind Mangelware und für die Allermeisten nicht bezahlbar. Die Familien, die in der Vergangenheit die Pflege übernommen haben, ziehen heute in kleinere, moderne Wohnungen, und auch die Frauen in der neuen Mittelschicht müssen Vollzeit arbeiten, wenn sie nur eine Stelle finden. Der soziale Vertrag der Familien ist auch am Ganges ein Auslaufmodell.
Kein Wunder also, dass sich immer dort, wo es etwas zu ergattern gibt – sei es ein Atemzug frischer Luft in einem Park oder am Strand, ein Platz in einem Bus, eine Essensration auf dem Dorf – Schlangen bilden. Mit immer mehr Menschen werden auch sie immer länger werden. Das Zusammenrücken in Deutschland, auch angesichts neuer Geflüchteter, würde in den meisten Ländern Asiens immer noch als angenehme Leere begriffen. Und das sich Ärgern über Löcher in der Internetabdeckung oder verspätete Züge als Luxusproblem.
Doch halt: Das noch von den britischen Kolonialherren in brutaler Ausbeutung aufgebaute Eisenbahnsystem Indiens gilt auch heute noch als vorbildlich. Hier kommen die Züge meist so, wie der Fahrplan es vorsieht. Und wenn es im Abteil zu eng wird, klettern die Menschen auf die Dächer der Waggons.
Herzliche Grüße
Ihr Christoph Hein
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Über den Autor
Christoph Hein ist in Köln geboren und in Münster aufgewachsen. Er hat an der Uni Münster studiert, hier promoviert und während seines Studiums für die Westfälischen Nachrichten und den WDR gearbeitet. Im Jahr 1998 fing er bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an, zunächst als Korrespondent in Stuttgart. Ein Jahr später ging er als Korrespondent erst für Südostasien und China, ab 2008 für den Süden Asiens einschließlich des Pazifikraums nach Singapur. Dort wurde auch seine Tochter geboren, die inzwischen in Münster studiert. Christoph Hein hat zahlreiche Bücher publiziert, zuletzt mit „Australien 1872“ einen Bildband über einen deutschen Goldsucherauf dem fünften Kontinent.
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In vielerlei Hinsicht ein herausragender Beitrag, nur aus meiner Sicht in RUMS deplatziert. Dass der Autor aus Münster stammt und seine Tochter hier studiert, ändert daran nichts.
Vielen Dank für diesen Beitrag. Der beste, den ich in den letzten Jahren hier gelesen habe. Er ist qualitativ herausragend und inhaltlich wichtig, gerade in einem sonst kommunalen Medium. Warum? Weil er hilft, vieles, über das wir in Münster politisch diskutieren, durch die globale Perspektive richtig einzuordnen. Und weil er einen Aspekt thematisiert, der in der Klima- und Umweltpolitik bislang weitgehend ausgeblendet wird: Die Überbevölkerung. Nur wenn wir die schnell in den Griff bekommen, lassen sich die Klima- und Ressourcenprobleme lösen. Das gilt auch für Kommunen wie Münster. Fläche und Wasser sind zwei limitierende Faktoren. Auch das gehört zur Ehrlichkeit.
Die Problematisierung einer „Überbevölkerung“ in anderen Ländern („Asien“), gemischt mit Hinweisen auf Klimawandel und Flucht: diese Mischung riecht leider schnell nach rassistischen Narrativen. Worauf genau dieser Artikel genau hinaus will, bleibt auch unklar. Diese deutsche Perspektive auf „andere Länder“ hat auch hier wieder etwas von „Guck mal, wie die da leben! Da können wir uns hier glücklich schätzen!“. Das geht leider automatisch mit einer Abwertung „des anderen“ einher.
Ich verstehe nicht, warum die RUMS soetwas veröffentlicht. Und Lokaljournalismus ist es auch nicht.
Der Blick in andere Länder und Kulturen kann - auch und gerade lokal publiziert - die Perspektive weiten. Warum der Beitrag in der RUMS deplatziert sein soll, leuchtet mir nicht ein.
Dass Beschreibungen von Fakten wie großer Bevölkerungszuwachs (der in der Tat wertende Begriff ‚Überbevölkerung‘ gebraucht bezeichnenderweise nur Frau Schneider selbst, im Artikel taucht er nicht auf) und durch Klimawandel geförderte Bewegungen in die Städte ein rassistisches Narrativ bedienen sollen, ist kaum nachzuvollziehen. Auch eine Verbindung zum Thema Flucht wird im Artikel selbst gar nicht gezogen, sondern nur von Frau Schneider evoziert. Mentale Selbstzensur kann zur völligen Sprachlosigkeit führen.
Ich warte mit Spannung und Neugier auf den kommenden Beitrag von Herrn Hein hier in der RUMS.
Kerstin Schneider bezieht sich auf den Kommentar und die Wortwahl von Babette Lichtenstein van Lengerich. Dazu auch der lesenswerte Artikel, den Martin Honermeyer geteilt hat.
Guter Artikel – vieles davon bekommt man ja in unseren Längen- und Breitengraden gar nicht mit.
Da es hier so gut passt, muss ich diesen Kommentar verlinken, der den Begriff „Überbevölkerung“ in ein anderes Licht rückt: https://perspective-daily.de/article/2145-hoert-auf-den-mythos-ueberbevoelkerung-zu-glauben/uWHHHfkb
(Disclaimer: Ich arbeite für Perspective Daily.)
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