Die Kolumne von Ruprecht Polenz | Wer regiert die Stadt? Eine Halbzeitbilanz

Porträt von Ruprecht Polenz
Mit Ruprecht Polenz

Guten Tag,

will happiness find me? So heißt der Titel eines Buches mit einem bunten Strauß mehr oder weniger philosophischer Fragen, das ich vor kurzem geschenkt bekommen habe. Eine davon ist ein guter Einstieg für eine kommunalpolitische Halbzeitbilanz: Who runs the city – wer regiert die Stadt?

Seit der Kommunalwahl 2020 hat eine Koalition aus Grünen, SPD und Volt mit 34 von 66 Sitzen eine Mehrheit im Stadtrat. Durch eine fallweise Unterstützung aus kleineren Gruppierungen blieb diese Zwei-Stimmen-Mehrheit auch nach dem Übertritt des SPD-Fraktionsvorsitzenden Mathias Kersting in die CDU-Fraktion (dadurch 23 Sitze) erhalten.

Die Grünen können damit ihre bald ein Jahrzehnt andauernde Beteiligung an einer Ratsmehrheit fortsetzen.

Auf eine Mehrheit in der Bevölkerung kann sich auch der gleichzeitig gewählte Oberbürgermeister Markus Lewe (CDU) berufen. Er hatte im ersten Wahlgang 44,55 Prozent der Stimmen erhalten und lag damit vor dem Kandidaten der Grünen, Peter Todeskino (28,47 Prozent). SPD-Kandidat Dr. Michael Jung schaffte es mit 16,30 Prozent nicht in die Stichwahl. Diese konnte Lewe mit 52,60 Prozent gegen Todeskino für sich entscheiden.

Nach der Gemeindeordnung bilden Rat und Verwaltung gemeinsam die kommunale Selbstverwaltung. Die Ratsmehrheit aus Grünen, SPD und Volt muss sich also mit einem CDU-Oberbürgermeister zusammenraufen – und umgekehrt.

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Das hat Kraft und oft auch Zeit gekostet, die die Stadt angesichts vieler sehr dynamischer Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft eigentlich nicht hat. Häufiges Vertagen und immer neue Prüfaufträge an die Verwaltung führen zu Stillstand.

Bis 2030 will Münster klimaneutral sein. Neben dem Ziel der Klimaneutralität bis 2030 fehlt eine Auseinandersetzung mit anderen, für die Stadt existenziellen Fragen: Folgen des demografischen Wandels, Digitalisierung, Wirtschaftsentwicklung. Die Frage, wovon wir in Münster in Zukunft leben wollen, findet zu wenig Aufmerksamkeit.

Eine zweite Schwäche zieht sich durch die Mehrheitsbeschlüsse des Rats: Man sucht Insellösungen für Münster und übersieht, wie sehr Münster vom Münsterland und einem Einzugsbereich abhängig ist, in dem über 2 Millionen Menschen leben. Dieser reicht vom Emsland bis zum nördlichen Ruhrgebiet und von der niederländischen Grenze bis nach Ostwestfalen.

Die dritte Schwäche mag sich aus dem Wahlergebnis erklären: Die Grünen hatten die Innenstadt-Wahlkreise gewonnen, die CDU alle anderen. Für die Politik der Ratsmehrheit sind die Belange der Menschen in den Außenstadtteilen eher nachrangig. Man konzentriert sich auf die Innenstadt.

Coronapandemie und Flüchtlingspolitik gut gemeistert

Münster ist vergleichsweise gut durch die Coronapandemie gekommen, die ja nicht nur eine gesundheitspolitische Herausforderung war. Die Stadt war als Trägerin von Schulen und Kindergärten gefordert, Stichwort iPads, Luftfilter. Hilfslösungen für Kultur, Gastronomie und Sport mussten entwickelt werden. Außerdem Hygienekonzepte für die Ämter mit Publikumsverkehr und den ÖPNV. Das alles ohne Blaupause und unter hohem Zeitdruck. Der Zusammenhalt der Stadtgesellschaft, zuletzt in der Hochwasserkatastrophe auf die Probe gestellt, hat sich auch in der Coronapandemie bewährt.

Ein Lob verdient die Stadt und alle, die dazu beitragen, auch für die Unterbringung und Fürsorge für die über 3.300 ukrainischen Geflüchteten. Münster hat sich auch 2022 wieder als verlässlicher Zufluchtsort zum Schutz für Leib und Leben erwiesen. Wie schon in den Neunzigerjahren, als die Menschen vor den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland geflohen waren und Münster zeitweise über 6.000 Geflüchtete unterzubringen hatte. Oder nach 2015, als über 4.000 syrische Geflüchtete in Münster aufzunehmen und zu versorgen waren.

Das 2017 vom Rat verabschiedete Flüchtlingskonzept listet auf über 100 Seiten alles auf, von Unterbringung über Spracherwerb bis zu Gesundheit und sozialer Teilhabe, was für die Stadt zu tun ist, um dieser Aufgabe gerecht zu werden. Das Handlungskonzept setzt auch auf nachbarschaftliches und gesellschaftliches Engagement. Es funktioniert gut und hat weit über Münster hinaus Beachtung gefunden.

Wohnungsmangel – da war doch was?

Im Kommunalwahlkampf hatte der Mangel an Wohnungen eine zentrale Rolle gespielt. Die SPD versprach gleich einen neuen Stadtteil für 6.000 Menschen und kritisierte heftig, dass die Zahl der Sozialwohnungen in Münster immer weiter zurückgehe.

Kurz nach der Wahl ließ die SPD die Stadtteil-Idee wieder fallen. Die Grünen wollen möglichst keine weiteren Flächen durch Bebauung versiegeln, sondern das Mangelproblem durch Nachverdichtung lösen. Wenn dafür bisher nicht bebaute Flächen benötigt werden, wie zum Beispiel in der Aaseestadt, stellten sie sich schnell auf die Seite der protestierenden Anlieger, die auf die Freiflächen vor ihren Häusern nicht verzichten wollten.

Baugebiete wie Hiltrup-Vogelstange oder Moorhock-Kinderhaus wurden auf Betreiben der Grünen trotz eines langen Planungsvorlaufs gecancelt. Das Baugebiet Frankenweg in Gremmendorf, in dem, wie bei der Vogelstange, auch eine Kita vorgesehen war, wird nicht weiter verfolgt. Angesichts des Mangels an Kitaplätzen fallen solche Entscheidungen doppelt negativ ins Gewicht.

Freilich haben es nicht nur SPD, Grüne und Volt zu vertreten, dass Münster mit der Bekämpfung des Wohnraummangels nicht so recht vorankommt. Denn es gibt einen Überhang an Baugenehmigungen, die aber nicht in die Tat, also das Bauen neuer Wohnungen, umgesetzt werden, weil sich die Bedingungen geändert haben: Höhere Zinsen, Mangel an Baumaterialien und Arbeitskräften, steigende Baupreise. Gut, dass wenigstens die Wohnbebauung der ehemaligen Kasernengelände Fortschritte macht.

Dauerthema Verkehr

Nimmt man die Presseberichterstattung zum Maßstab, hat die Verkehrspolitik seit der Kommunalwahl mit Abstand die meiste Aufmerksamkeit gefunden. Die Grünen hatten mit einer „autofreien Innenstadt“ im Wahlkampf geworben. Auch die CDU wollte deutlich weniger Autos in der City und sprach von einer „autoärmeren Innenstadt“.

Auf diesem Weg ist man weitergekommen: Neue Fahrradstraßen, der Domplatz demnächst autofrei, verstärkte Parkraumbewirtschaftung. Da passt es ins Bild, dass Münster wieder Fahrradstadt Nummer 1 in Deutschland bei den Städten zwischen 200.000 und 500.000 Einwohner:innen ist, wie eine Umfrage des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC) kürzlich ergab.

Die Note von 3,0 zeigt allerdings, dass noch viel zu tun ist. Trotzdem darf sich Münster über diese Auszeichnung freuen. Immerhin kommt man ziemlich dicht an Werte von Kopenhagen heran, das weltweit als Vorbild gilt. Dort liegt der Anteil des Fahrradverkehrs bei 45 Prozent, in Münster bei 38 Prozent.

Einen qualitativen Sprung nach vorn könnte Münster machen, wenn die von Oberbürgermeister Markus Lewe in seiner Funktion als Präsident des Deutschen Städtetags angestoßene Initiative endlich Erfolg hätte. Zusammen mit 600 anderen Städten setzt Münster sich dafür ein, dass Städte in eigener Kompetenz flächendeckend Tempo 30 einführen können. Straßen, in denen innerorts weiter Tempo 50 oder 70 gelten soll, müssten dann extra ausgeschildert werden. Leider sieht es im Moment so aus, als wolle Verkehrsminister Wissing (FDP) davon nichts wissen.

Ein Angleichen der Fahrgeschwindigkeit ermöglicht eine andere Aufteilung des knappen Straßenraums. Fahrräder könnten mehr Platz bekommen. Der Fahrradverkehr könnte weiter wachsen.

Wie das Fahrrad gehören Busse und Bahnen zum Umweltverbund. SPD, Grüne und Volt haben durchgesetzt, dass die Stadtwerke ein hoch subventioniertes 29-Euro-Ticket für Münster herausgeben müssen, obwohl ab Mai ein Deutschlandticket für 49 Euro im Monat erhältlich ist, mit dem Münsteraner:innen nicht nur in Münster, sondern in ganz Deutschland fahren können.

Statt Deutschland-Ticket lieber Münster-Ticket plus Auto?

Das Geld für das 29-Euro-Ticket hätte man besser in Taktverdichtungen und eine schnellere Elektrifizierung der Busse in Münster investiert. Stattdessen webt man weiter am Tarif-Flickenteppich, den das Deutschlandticket gerade beenden soll. Außerdem: Ist es wirklich ein klimapolitischer Gewinn, wenn jemand das Münster-Ticket kauft, deshalb auf das Deutschland-Ticket verzichtet und stattdessen außerhalb Münsters weiter mit dem Auto fährt?

Wer möchte, dass man in Amelsbüren, Roxel oder Wolbeck das Auto stehen lässt, um in die Innenstadt zu kommen, muss vor allem für einen dichteren Zeittakt der Busse sorgen.

Die Verkehrsprobleme der Innenstadt werden ja nicht von denen verursacht, die dort wohnen, sondern von denen, die von außerhalb kommen und dorthin wollen. Weil sie dort arbeiten, zu Behörden müssen oder einkaufen wollen.

Deshalb führt der Weg zu einer Innenstadt mit deutlich weniger Autos vor allem über den Ausbau der Münsterland S-Bahn und nicht über Schikanen für den Autoverkehr in Münster. Als solche muss man die Entscheidung bewerten, beim Umbau des sog. „Spaghetti-Knotens“ an der Weseler Straße nicht, wie von der Fachverwaltung vorgeschlagen, eine weitere Abbiegespur zu bauen. SPD, Grüne und Volt übersehen, dass dieser Knoten Bestandteil des überörtlichen Fernstraßennetzes ist, von dem Münsters Erreichbarkeit abhängt.

Volt bleibt analog

„Digital wie Estland“ – mit diesem Plakat hatte Volt im Kommunalwahlkampf versprochen, sich für ein höheres Digitalisierungstempo in Münster einzusetzen. Aber es ist wohl bei dem analogen Plakat geblieben. Mir jedenfalls sind keine Initiativen von Volt bekannt, mit denen man die Digitalisierung in Münster hätte voranbringen wollen.

Damit sind wir bei der wichtigen Frage, wovon wir in Münster in Zukunft leben wollen. Es können ja nicht alle ihr Geld als öffentlich Bedienstete vom Landesamt für Besoldung und Versorgung bekommen.

Neue Gewerbegebiete? Fehlanzeige

Wenn es um Arbeitsplätze geht, spielen Erweiterungsmöglichkeiten für ansässige Betriebe und Gewerbeflächen für Neuansiedlungen eine wichtige Rolle. Dabei muss man wissen, dass die Entwicklung eines Gewerbegebietes ca. 15 bis 20 Jahre braucht. Grunderwerb, Planung und Erschließung dauern so lange.

Deshalb ist gerade hier eine vorausschauende und vorsorgende Politik gefragt. Seit der Kommunalwahl 2020 wurde von SPD, Grünen und Volt kein neues Gewerbegebiet auf den Weg gebracht. Das geplante Gebiet am Schifffahrter Damm ist mit einer Fülle von Prüfaufträgen und Auflagen wieder gestoppt worden.

In Echternacher Springprozession zum Musik-Campus

Mit immer neuen Prüf- und Vertagungsanträgen hatte auch der Musik-Campus zu kämpfen, der vor allem von Oberbürgermeister Lewe und Universitätsrektor Wessels vorangetrieben wird. Der Musik-Campus ist nach wie vor kein Projekt, hinter dem SPD, Grüne und Volt wirklich stehen. Aber letztlich will es sich die Ratsmehrheit mit der Universität auch nicht verderben. Ich bin sicher: Beim Eröffnungskonzert werden auch SPD, Grüne und Volt begeistert klatschen. So, wie bei der Eröffnung der Aasee-Terrassen, die sie vorher erbittert bekämpft hatten.

Umbau Preußen-Stadion läuft – endlich

Glückwunsch auch von dieser Stelle an Preußen Münster zum Wiederaufstieg in die 3. Bundesliga. Kurz vor dem Toresschluss hat auch der Rat das Geld für den Stadionumbau in der erforderlichen Höhe von 60 Millionen bereitgestellt. Hier mussten vor allem die Grünen über ihren Schatten springen. Die Förderung von Profisport war ihnen lange suspekt. Noch im Wahlkampf hatten sie darauf bestanden, dass von den damals vorgesehenen 40 Millionen nicht nur der Stadionumbau, sondern auch gleich noch der neue Bahnhaltepunkt Geist finanziert werden sollte. Geschätzte Kosten dafür: 8 Millionen.

Ich möchte diese Halbzeitbilanz nicht beenden, ohne mich bei Rat, Oberbürgermeister, Bezirksvertretungen und Verwaltung für die geleistete Arbeit zu bedanken. Die Ratsmitglieder arbeiten ehrenamtlich, verwenden 15 bis 20 Stunden jede Woche dafür, die aus ihrer Sicht richtigen Entscheidungen für Münster zu treffen und sind deshalb in der Regel drei Abende die Woche nicht zu Hause. Ohne sie alle würde die Selbstverwaltung unserer Stadt nicht funktionieren.

Und für diejenigen, die an allem kein gutes Haar lassen können, habe ich noch einen Spruch aus dem Eingangs erwähnten Buch: Is everything half as bad?

Herzlich
Ihr Ruprecht Polenz

Porträt von Ruprecht Polenz

Ruprecht Polenz

Viele Jahre lang war Ruprecht Polenz Mitglied des Rats der Stadt Münster, zuletzt als CDU-Fraktionsvorsitzender. Im Jahr 1994 ging er als Bundestagsabgeordneter nach Berlin. Er war unter anderem CDU-Generalsekretär, zwischen 2005 und 2013 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags. Von 2000 bis 2016 war Ruprecht Polenz Mitglied des ZDF-Fernsehrats, ab 2002 hatte er den Vorsitz. Der gebürtige Bautzener lebt seit seinem Jura-Studium in Münster. 2020 erhielt Polenz die Auszeichnung „Goldener Blogger“.

Die Kolumne

Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.

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