Die Kolumne von Juliane Ritter | Wir brauchen ein Zeichen. Jetzt!

Müns­ter, 30. Juli 2023

Guten Tag,

am 19. Juli hat sich der Abschluss des Tarif­ver­trags Ent­las­tung zum ers­ten Mal gejährt. Nach 77 Tagen Streik hat­ten sich die Beschäf­tig­ten der sechs Uni­kli­ni­ken mit ihren Arbeit­ge­bern geei­nigt. Der Ver­trag regelt klar, wie vie­le Men­schen in wel­chen Berei­chen arbei­ten sol­len, und unter wel­chen Bedin­gun­gen Per­so­nal ein­ge­stellt wird. 

In der Pfle­ge legt der Ver­trag zum Bei­spiel fest, wie vie­le Patient:innen eine Pfle­ge­kraft je nach­dem, wo sie arbei­tet, ver­sor­gen darf, um vor Über­las­tung geschützt zu sein. 

In Berei­chen wie der Kli­nik-Kita, der Radio­lo­gie, dem Patien:innentransport, dem Ser­vice, Ambu­lan­zen und vie­len wei­te­ren hat man ver­ein­bart, dass mehr Per­so­nal ein­ge­setzt wird – ent­we­der eine bestimm­te Anzahl an Kräf­ten oder ein bestimm­ter Prozentsatz. 

Wer­den die­se Vor­ga­ben nicht ein­ge­hal­ten, erhal­ten die Kolleg:innen freie Tage, um ihre Belas­tung zu ver­rin­gern. In einer Über­gangs­pha­se von einem Jahr soll­ten alle Kolleg:innen pau­schal zwi­schen drei und fünf Tagen frei bekom­men (so genann­te Entlastungstage). 

Ab Juli 2026 sol­len Berufs­grup­pen, die eng mit Patient:innen zusam­men­ar­bei­ten, durch ein Punk­te­sys­tem bis zu 18 freie Tage bekom­men, wenn sie regel­mä­ßig unter­be­setzt arbei­ten. Was ist bis­lang passiert?

Die Bilanz ist gemischt

Kurz nach Abschluss des Tarif­ver­trags haben sich der Uni­kli­nik­vor­stand und Beschäf­tig­te zusam­men­ge­setzt, um die Umset­zung anzu­ge­hen. Es wur­den Arbeits­grup­pen gebil­det, in denen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen aus bestimm­ten Berei­chen auf Augen­hö­he an Kon­zep­ten und Ände­run­gen arbei­ten sollen. 

Außer­dem rich­te­te man Gre­mi­en ein, die über­wa­chen soll­ten, ob es auch vor­an­geht und die über­grei­fen­den Fra­gen klä­ren soll­ten. Nach einem Jahr ist die Bilanz gemischt. Es gibt Berei­che, die in ihren Arbeits­grup­pen schon voll­stän­di­ge Kon­zep­te erar­bei­tet haben, wäh­rend ande­re Berei­che nach mei­nen Infor­ma­tio­nen noch nicht all­zu weit sind, ande­re ste­hen noch immer am Anfang. 

Die Mitarbeiter:innen aus dem Patient:innenservice, aus der Küche oder dem Patient:innentransport war­ten immer noch auf die pau­scha­len Ent­las­tungs­ta­ge, die ihnen schon seit Janu­ar zuste­hen. Nach­voll­zieh­ba­re Grün­de dafür wer­den ihnen nicht genannt. 

In Berei­chen wie der Pfle­ge sind die zusätz­li­chen frei­en Tage direkt im Sys­tem hin­ter­legt. Die Kolleg:innen konn­ten sie schon Ende 2022 in ihre Urlaubs­pla­nung inte­grie­ren. Die­se Spal­tung schafft Unmut unter dem Per­so­nal, der ver­meid­bar wäre. 

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Wie ist die Stim­mung? Das Bild ist gemischt. Pfle­gen­de berich­ten davon, dass die ver­ein­bar­ten Zah­len zum Ver­hält­nis von Per­so­nal und Patient:innen bereits ein­ge­hal­ten wer­den. Sie berich­ten auch, dass neue Kolleg:innen auf ihren Sta­tio­nen arbei­ten. Ande­re dage­gen leis­ten wei­ter­hin allein Nacht­diens­te oder müs­sen stän­dig ein­sprin­gen, um den Ablauf im Kran­ken­haus aufrechtzuerhalten.

Ins­ge­samt ist das Per­so­nal um weni­ge Pro­zent gewach­sen. Die Uni­kli­nik gewinnt im Moment aller­dings nicht genü­gend Per­so­nal, um dadurch allein die Rege­lun­gen des Tarif­ver­trags umzu­set­zen. Laut Pfle­ge­di­rek­tor Tho­mas van den Hoo­ven gibt es ins­ge­samt 500 offe­ne Stellen. 

Die Alter­na­ti­ve ist, Bet­ten nicht zu bele­gen. Nach dem Ende des Streiks im Juli 2022 blie­ben vie­le wäh­rend des Streiks nicht beleg­te Bet­ten wei­ter­hin leer. Das ändert sich erst nach und nach wie­der. Oft liegt das nicht dar­an, dass die Kli­nik Per­so­nal gewon­nen hat, son­dern dar­an, dass der poli­tisch gemach­te wirt­schaft­li­che Druck den Kli­ni­ken kaum eine Wahl lässt. Lee­re Bet­ten brin­gen kei­ne Einnahmen. 

Anony­mer Briefkasten

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Kolleg:innen, die über Mona­te hin­weg in einer ange­mes­se­nen Belas­tungs­si­tua­ti­on gear­bei­tet haben, spü­ren nun doch wie­der, dass ihre Arbeits­be­las­tung sich wie­der ver­schlech­tert, erneut Unter­be­set­zung droht, und das könn­te für Patient:innen kri­tisch werden. 

Ande­re haben bis heu­te noch kei­ne Ver­bes­se­rung gespürt, seit sie nach fast drei Mona­ten Streik an ihren Arbeits­platz zurück­ge­kehrt sind. Das führt zu Frust, Wut und Unverständnis.

Eine Abtei­lung ist beson­ders betrof­fen. Kolleg:innen aus der Radio­lo­gie berich­ten von einer mas­si­ven Kri­se. Sie haben kaum Per­so­nal, um Diens­te zu beset­zen und sehen kaum Auswege. 

Per­so­nal wächst nicht an Bäu­men; sie berich­ten von einer so hohen Belas­tung, dass der Tarif­ver­trag dort nur an der Ober­flä­che etwas ver­än­dert – und mög­li­cher­wei­se nicht ein­mal das. 

Das Per­so­nal steht dort, so hat man es mir erzählt, regel­mä­ßig auf Flu­ren vol­ler war­ten­der Notfallpatient:innen. Die Men­schen, die dort arbei­ten, füh­len sich nach die­sen Schil­de­run­gen allein gelas­sen. Wer in eine radio­lo­gi­sche Pra­xis wech­selt, kann dort mit sehr viel bes­se­ren Kon­di­tio­nen rech­nen. Des­halb wan­dern vie­le ab. 

Wir haben der Uni­kli­nik eini­ge der Aus­sa­gen aus die­sem Text geschickt und sie gebe­ten, dazu Stel­lung zu neh­men. Wir haben zum Bei­spiel gefragt, war­um eini­ge Mit­ar­bei­ten­de schon Ent­las­tungs­ta­ge in ihrem Sys­tem fin­den, ande­re aber noch nicht. Wir haben auch gefragt, war­um es noch nicht gelun­gen ist, die Ver­ein­ba­run­gen in allen Berei­chen umzu­set­zen. Und wir haben sie gebe­ten, zur Situa­ti­on in der Radio­lo­gie Stel­lung zu meh­men. Außer­dem woll­ten wir wis­sen, wie viel Per­so­nal die Uni­kli­nik in den ver­gan­ge­nen zwölf Mona­ten ein­ge­stellt hat, wie vie­le Bet­ten auf­grund von Per­so­nal­knapp­heit nicht belegt sind. 

Statt die­se Fra­gen zu beant­wor­ten, hat die Uni­kli­nik uns ein State­ment in drei Sät­zen geschickt. Es lautet: 

„Der Tarif­ver­trag Ent­las­tung (TV-E) ist sehr kom­plex und trifft sehr bereichs­spe­zi­fi­sche Rege­lun­gen, die wir der­zeit in enger Zusam­men­ar­beit mit den Mit­ar­bei­ten­den, der Gewerk­schaft Ver­di und dem UKM-Per­so­nal­rat umset­zen. Hier ist es tat­säch­lich so, dass die Ent­las­tungs­ta­ge in eini­gen Berei­chen bereits hin­ter­legt sind, in ande­ren bis­her noch nicht. Das UKM wird den TV-E voll­stän­dig umset­zen, der Umset­zungs­zeit­raum ist auf fünf Jah­re ausgelegt.“

Ich wür­de mir mehr Trans­pa­renz wün­schen, denn fest steht: Es braucht schnellst­mög­lich Lösun­gen. Der Tarif­ver­trag hat Hoff­nun­gen geweckt, und wir sehen, dass kon­ti­nu­ier­lich dar­an gear­bei­tet wird, die Ver­ein­ba­run­gen umzu­set­zen. Doch es braucht Zeit, und je län­ger es dau­ert, des­to mehr Men­schen gehen verloren. 

Die Grup­pe der gewerk­schaft­lich orga­ni­sier­ten Beschäf­tig­ten hat begon­nen, die anste­hen­de Tarif­run­de zu pla­nen. Im Herbst wer­den die Gehäl­ter der Beschäf­tig­ten der Bun­des­län­der ver­han­delt. Die Tarif­run­de wird zei­gen, in wel­che Rich­tung es für die Beschäf­tig­ten der Uni­kli­ni­ken geht. Die Infla­ti­on trifft das Per­so­nal dort so wie alle ande­ren. Es wäre wich­tig, jetzt ein Zei­chen zu set­zen, um die Per­so­nal­flucht aus den Kli­ni­ken wei­ter zu bremsen. 

Herz­li­che Grüße

Ihre Julia­ne Ritter

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Über die Autorin

Unse­re Kolum­nis­tin arbei­tet als Pfle­ge­kraft in einem Kran­ken­haus in Müns­ter. Sie schreibt in die­ser Kolum­ne dar­über, war­um sie ihren Beruf liebt. Und dar­über, wo es hakt und was in der Pfle­ge bes­ser lau­fen müss­te – grund­sätz­lich und in Müns­ter. Julia­ne Rit­ter ist nicht ihr rich­ti­ger Name. Sie schreibt unter einem Pseud­onym, damit sie frei über Schwie­rig­kei­ten und Miss­stän­de erzäh­len kann.

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