Die Kolumne von Christoph Hein | Es geht um mehr als Tore

Müns­ter, 6. August 2023

Guten Tag,

Fuß­ball-Deutsch­land trägt erneut Trau­er, nach­dem die deut­schen Damen am Don­ners­tag in der Vor­run­de der Welt­meis­ter­schaft in Ozea­ni­en kläg­lich aus­ge­schie­den sind. Gut, dass wenigs­ten die Preu­ßen auf­stei­gen konn­ten. Fuß­ball in Deutsch­land ist viel­fäl­tig, immer eine Schlag­zei­le wert.

Gut 18.000 Kilo­me­ter wei­ter süd­öst­lich, im Pazi­fik, sind ver­gleich­ba­re Schlag­zei­len kei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit. Die Fuß­ball­welt­meis­ter­schaft der Frau­en in Aus­tra­li­en und Neu­see­land war ein Wag­nis: Denn „Down Under“ lie­ben die Men­schen Rug­by, und in alt-eng­li­scher Tra­di­ti­on fie­bern sie beim Cri­cket mit. Aber Fuß­ball? Und dann noch Frauenfußball?

Ja. Aber nur Schritt für Schritt. Denn der Weg in die Her­zen der Aus­sies und Kiwis ist lang und beschwer­lich. Was sind die drei belieb­tes­ten Sport­ar­ten in Neu­see­land? „Rug­by“, sagt Josh. „Rug­by und Rug­by. Ok, viel­leicht noch Net­ball“, schiebt der Ver­käu­fer im Sport­ge­schäft Rebel in Neu­see­lands Haupt­stadt Wel­ling­ton nach. „Aber seit hier unse­re Ferns spie­len, ist Fuß­ball plötz­lich ein Thema.“

Ferns, so lau­tet der Spitz­na­me der Neu­see­län­de­rin­nen, so wie die Aus­tra­lie­rin­nen in ihrer Hei­mat die Matil­das sind, ange­lehnt an die heim­li­che Natio­nal­hym­ne und den davon abge­lei­te­ten Anti-Kriegsong „And the Band play­ed Walt­zing Matil­da“ von Folk­po­et Eric Bog­le. Inzwi­schen sei­en die Tri­kots der Neu­see­län­de­rin­nen im größ­ten Sport­ge­schäft Wel­ling­tons aus­ver­kauft, sagt Josh. „Wir sind ein­fach eine Sport­na­ti­on. Und jetzt inter­es­sie­ren wir uns gera­de für Fuß­ball, weil wir die Welt­meis­ter­schaft hier haben.“

Gelebte Integration und Anerkennung

Ob die­ses Inter­es­se nach dem Aus­schei­den der Neu­see­län­de­rin­nen in der Vor­run­de noch eine lan­ge Halb­werts­zeit hat, bleibt abzu­war­ten. Anders auf der gro­ßen Insel im Nord­wes­ten, in Aus­tra­li­en. Dort schwappt eine Wel­le der Begeis­te­rung über die Ost­küs­te mit ihren Groß­städ­ten Mel­bourne, Syd­ney und Brisbane.

Viel­leicht auch, weil es eben doch nicht nur um Fuß­ball geht. Zumin­dest den Ath­le­tin­nen geht es auch um Gleich­be­rech­ti­gung, um geleb­te Inte­gra­ti­on und Aner­ken­nung, die sich dann natür­lich auch in Geld berech­nen lässt.

Alle aus­tra­li­schen und neu­see­län­di­schen Spie­le­rin­nen for­dern, sobald sie vor die Medi­en tre­ten, glei­chen Lohn für glei­che Arbeit: Sie wol­len die­sel­ben Chan­cen wie die kicken­den Män­ner, die­sel­ben Prä­mi­en. Die aber defi­nie­ren Spon­so­ren und Ver­bän­de als Wech­sel­wäh­rung für Auf­merk­sam­keit. An der man­gelt es den Frau­en weiter.

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Und so steht die aus­tra­li­sche Ver­tei­di­ge­rin Ellie Car­pen­ter nach dem letz­ten Trai­ning vor dem fina­len Vor­be­rei­tungs­spiel gegen Frank­reich und einer Pres­se­kon­fe­renz gemein­sam mit ihrem Trai­ner ver­lo­ren am Lie­fe­ran­ten­ein­gang des Mar­vel-Sta­di­ons in Melbourne.

Gegen die eis­kal­te Luft ver­kriecht sie sich in die tür­kis-grü­ne Dau­nen­ja­cke der Natio­nal­mann­schaft, die Sport­ta­sche über der Schul­ter. Neben ihr friert die Pres­se­spre­che­rin des aus­tra­li­schen Teams, Ann Odong. Wäh­rend die Last­wa­gen auf der sechs­spu­ri­gen Stra­ße an ihnen vor­bei­rau­schen, war­ten die bei­den auf ein Uber-Taxi.

Erste Internetseite für Frauenfußball in Ozeanien

Nie­mand nimmt Notiz von der Fuß­bal­le­rin, die nach zwei Olym­pi­schen Spie­len nun ihre zwei­te Welt­meis­ter­schaft für Aus­tra­li­en bestrei­tet. Nie­mand will ihr Auto­gramm. Nie­mand feu­ert sie wenigs­tens im Vor­bei­ge­hen an. Wäh­rend männ­li­che Kol­le­gen im Rest der Welt mit ihren Lam­bor­ghi­nis prot­zen, übt das Natio­nal­m­al­mann­schafts-Duo am Rand der Schnell­stra­ße Geduld.

Dabei sind Car­pen­ter und Odong Aus­hän­ge­schil­der, wie es kei­ne bes­se­ren für die Mann­schaft, aber auch den Frau­en­fuß­ball geben kann: Das Bild der in ihrem Jubel auf dem Platz extro­ver­tier­ten 23-Jäh­ri­gen begrüßt einen schon am Flug­ha­fen Syd­ney: Am Gepäck­band wirbt die Kre­dit­kar­ten­ge­sell­schaft mit dem Kon­ter­fei der ein­zi­gen aus­tra­li­schen Fuß­bal­le­rin des „Team Visa“.

Wäh­rend die Blon­di­ne von der Indus­trie als Wer­be­i­ko­ne ent­deckt wird, ist Odong als Vor­bild der Ver­ein­ten Natio­nen (UN) unter­wegs: Die Toch­ter von Flücht­lin­gen aus Ugan­da grün­de­te mit „Women’s Game“ die ers­te Inter­net­sei­te für Frau­en­fuß­ball in Ozea­ni­en. Die UN nut­zen die afri­ka­ni­sche Aus­tra­lie­rin als Integrationsvorbild.

Es ist ein lan­ger Kampf auf allen Ebe­nen. 2015 hat­ten die Matil­das ihr Trai­nings­la­ger ver­las­sen, um im sport­be­ses­se­nen Aus­tra­li­en end­lich die­sel­be Bezah­lung wie für die Män­ner zu erzwin­gen. „Wir haben das Spiel ver­än­dert. Natür­lich bekom­men wir mehr Preis­geld, aber das ist nur der ers­te Schritt. Wir lie­gen immer noch weit hin­ter den Män­nern zurück“, moniert Car­pen­ter auf einer Pres­se­kon­fe­renz, wäh­rend sie ihre Hän­de mit den in den Team­far­ben Gold und Grün lackier­ten Fin­ger­nä­geln faltet.

Respekt für die Ureinwohner

Und dann schwingt in den mul­ti­kul­tu­rel­len Aus­rich­ter-Län­dern auch immer die Fra­ge der Inte­gra­ti­on mit: Natür­lich kommt die Fra­ge, wie vie­le Spie­le­rin­nen Wur­zeln als Māo­ri oder Abori­gi­nes haben.

Dass die ein­ge­wech­sel­te Aus­tra­lie­rin Mary Fow­ler von Man­ches­ter City, deren Mut­ter aus Papua-Neu­gui­nea stammt, mit zwei Tref­fern die Zuschau­er begeis­ter­te, hilft vie­len indi­ge­nen Völ­kern auf dem Fünf­ten Kon­ti­nent mehr, als man­che Wei­ße glau­ben mögen. Auch über Sam Kerr, die unbe­strit­te­ne Anfüh­re­rin der Aus­tra­lie­rin­nen, hält sich das Gerücht, sie sei Abori­gi­ne; dabei stammt ihre Mut­ter aus Indien.

Anony­mer Briefkasten

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Auch der Welt­fuß­ball­ver­band Fifa bemüht sich erkenn­bar, den Urein­woh­nern wäh­rend des Tur­niers Respekt zu zol­len: Die Städ­te wer­den mit ihren eng­li­schen Kolo­ni­al­na­men, aber auch mit den­je­ni­gen der Abori­gi­nes und Mao­ri bezeich­net – Syd­ney heißt im Welt­fuß­ball der­zeit Gadi­gal, Auck­land auf Neu­see­land Tāma­ki Makaurau.

Die Fifa ver­kün­det, sich von einem Rat aus sechs Ver­tre­tern der First Nati­on der aus­tra­li­schen Urein­woh­ner und der Māo­ri aus Neu­see­land bera­ten zu las­sen. Die Ent­sand­ten der „Tra­di­tio­nal Owners“ Aus­tra­li­ens begrü­ßen Zuschau­er und Spie­ler vor dem Anpfiff. Und nicht nur die ame­ri­ka­ni­sche Mann­schaft wur­de auf Neu­see­land mit dem tra­di­tio­nel­len pōwhiri will­kom­men gehei­ßen, um ihr auf Zeit die­sel­ben Rech­te zu ver­lei­hen, die die Gast­ge­ber besitzen.

Die Aus­tra­lie­rin­nen hat­ten sich schon bei ihrem Spiel gegen Neu­see­land wäh­rend der Olym­pi­schen Spie­le in Tokio gegen allen Wider­stand der Offi­zi­el­len mit der schwarz-roten Fah­ne der Abori­gi­nes ablich­ten las­sen. Die Neu­see­län­de­rin­nen zeig­ten den Knie­fall, um gegen Ras­sis­mus zu protestieren.

Sie saß an der Supermarktkasse

Der Mut zum Wider­stand gegen ihnen zuge­dach­te Rol­len kommt nicht von unge­fähr. Vie­le Spie­le­rin­nen die­ser Gene­ra­ti­on haben sich mit unglaub­li­cher Kraft nach oben gear­bei­tet: Die Neu­see­län­de­rin Ria Stein­metz etwa, gebo­ren im süd­pa­zi­fi­schen Samoa mit sei­ner lan­gen deut­schen Geschich­te, ist nur eine von drei poly­ne­si­schen Fuß­ball­spie­le­rin­nen bei die­ser Weltmeisterschaft.

Die 24-Jäh­ri­ge mit dem auf­fal­len­den Kurz­haar­schnitt trägt 17 Tat­toos, unter ande­rem sind auf dem Rücken ihre Küche auf dem Rücken und der Zitro­nen­baum im Haus ihrer Groß­mutter abge­bil­det. Auch auf­grund ihrer Her­kunft von der ent­le­ge­nen Insel habe ihr über Jah­re das Selbst­ver­trau­en für die Natio­nal­mann­schaft gefehlt, erzählt sie frei­mü­tig. Zwi­schen­zeit­lich hat­te sie sogar ganz mit dem Fuß­ball auf­ge­hört und saß an der Supermarktkasse.

Ihre Mit­tel­feld­kol­le­gin Oli­via Chan­ce hat zehn Jah­re das Leben einer Noma­din gelebt, bevor sie in Dun­edin auf­lief: Eng­land, Schott­land, Island, Aus­tra­li­en und Flo­ri­da hei­ßen ihre Sta­tio­nen – in Neu­see­land zähl­te sie nie zu den Sport­grö­ßen. Und dass Hay­ley Raso, die druck­vol­le Stür­me­rin der Aus­tra­lie­rin­nen, eine bun­te Haar­schlei­fe zur Erin­ne­rung an ihre Groß­mutter trägt, kommt nicht nur bei Senio­rin­nen im kon­ser­va­ti­ven Fünf­ten Kon­ti­nent gut an.

Die aus­tra­li­sche Sport­so­zio­lo­gin Fio­na Craw­ford hat gleich ein Buch über den „Matil­da-Effekt“ geschrie­ben, das mit sei­nem grell­gel­ben Ein­band der­zeit in jeder aus­tra­li­schen Buch­hand­lung aus­liegt. Eigent­lich beschreibt der Name das Phä­no­men, die For­schungs­leis­tun­gen von Frau­en zu über­se­hen – im Fuß­ball sei zu lan­ge das­sel­be gesche­hen, nur eben auf sport­li­cher Ebe­ne, moniert Craw­ford. Nun aber ände­re sich alles.

„Wir haben unser Land inspiriert“

Das war eini­ge Wochen, bevor das aus­tra­li­sche Fern­se­hen einen Zuschau­er­re­kord ver­zeich­nen soll­te: Das vor­ent­schei­den­de Spiel der Matil­das, bei dem sie Kana­da mit einem vier zu null vom Platz feg­ten, um in die K.O.-Runde ein­zu­zie­hen, wur­de von rund 2,4 Mil­lio­nen Zuschau­ern, fast einem Zehn­tel aller Aus­tra­li­er, verfolgt.

Erst­mals haben mehr als zwei Mil­lio­nen auf dem Fünf­ten Kon­ti­nent das Spiel einer Frau­en­mann­schaft im Fern­se­hen gese­hen. Und es kommt noch bes­ser: Die Frau­en tra­ten mit ihrem Spiel gegen das zeit­glei­che Cri­cket-Team der Aus­tra­li­er bei den Ashes an – noch vor Mona­ten wären die Damen in der Zunei­gung der Zuschau­er chan­cen­los gewesen.

Die neu­see­län­di­sche Kapi­tä­nin Ali Riley hat­te nach ihrem Aus­schei­den für die rich­ti­ge Ein­ord­nung gesorgt: „Da kul­lern jetzt so vie­le Trä­nen, dabei soll­ten wir alle stolz sein. Wir haben unser Land inspi­riert. Ich hof­fe, dass vie­le klei­ne Mäd­chen nun mit dem Fuß­ball­spie­len begin­nen. Wir haben die Tür für sie geöffnet.“

Herz­li­che Grüße

Ihr Chris­toph Hein

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Über den Autor

Chris­toph Hein ist in Köln gebo­ren und in Müns­ter auf­ge­wach­sen. Er hat an der Uni Müns­ter stu­diert, hier pro­mo­viert und wäh­rend sei­nes Stu­di­ums für die West­fä­li­schen Nach­rich­ten und den WDR gear­bei­tet. Im Jahr 1998 fing er bei der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung an, zunächst als Kor­re­spon­dent in Stutt­gart. Ein Jahr spä­ter ging er als Kor­re­spon­dent zunächst für Süd­ost­asi­en und Chi­na, ab 2008 für den Süden Asi­ens ein­schließ­lich des Pazi­fik­raums nach Sin­ga­pur. Dort wur­de auch sei­ne Toch­ter gebo­ren, die inzwi­schen in Müns­ter stu­diert. Chris­toph Hein hat zahl­rei­che Bücher publi­ziert, zuletzt mit „Aus­tra­li­en 1872“ einen Bild­band über einen deut­schen Gold­su­cher auf dem fünf­ten Kontinent.

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