Die Kolumne von Ludwig Lübbers | Glück und Behinderung

Müns­ter, 3. Sep­tem­ber 2023

Guten Tag,

als Mensch mit Behin­de­rung ist es manch­mal nicht ein­fach, eine län­ge­re Rei­se zu unter­neh­men, vor allem, wenn man Sin­gle ist. Ent­we­der feh­len die finan­zi­el­len Mit­tel oder es fehlt ganz schlicht an Hel­fern bezie­hungs­wei­se Assis­ten­ten. Auch Men­schen mit Behin­de­run­gen haben das Recht dar­auf, aus dem All­tag ein­mal aus­bre­chen zu können. 

Träu­me und Wün­sche die­ser Men­schen soll­ten daher wir alle als Gesell­schaft sehr ernst neh­men, um auch eige­ne Ängs­te vor der Zukunft zu überwinden.

Einen Bei­trag für das Lebens­glück von Schwä­che­ren in der Gesell­schaft zu leis­ten, soll­te eine Selbst­ver­ständ­lich­keit sein. Ein guter Ansatz sind zum Bei­spiel die „Wün­sche­wa­gen“, die kari­ta­ti­ve Orga­ni­sa­tio­nen anbie­ten. Sie erfül­len tod­kran­ken Men­schen den letz­ten Wunsch, noch ein­mal etwas Schö­nes zu erleben. 

Ich bin nicht tod­krank, und ich habe glück­li­cher­wei­se die Mög­lich­keit, mir eini­ge Wün­sche selbst zu erfül­len. Aber weil ich kei­ne Hän­de habe und eine Ober­schen­kel­pro­the­se tra­ge, brau­che ich dabei Hilfe. 

Ein Wunsch, den ich mir in den ver­gan­ge­nen Jah­ren immer wie­der erfül­len konn­te, war auf mei­ne Traum­in­sel zu fah­ren, nach Sar­di­ni­en. Dort zieht es mich immer wie­der hin, seit ich Jahr 1992 eine Stu­di­en­rei­se dort­hin machte. 

„Im Urlaub fühlte ich mich selbstbestimmt“

Im Urlaub lie­be ich die Ein­fach­heit und die schlich­ten Din­ge. Ich schla­fe gern in einem Zelt. Und wenn ich das in der Ver­gan­gen­heit gemacht habe, gelang es mir immer, das alles mit Unter­stüt­zung von frem­den Men­schen zu organisieren. 

Ich gehe gern Schnor­cheln, um die Fisch­welt des Mee­res zu ent­de­cken. Ich habe einen Tau­schein, einen Motor- und Segel­boot­füh­rer­schein. Das hat vie­les mög­lich gemacht. Im Urlaub fühl­te ich mich selbstbestimmt. 

Frem­de Men­schen luden mich zum Essen ein. Es waren wun­der­schö­ne Aben­de. Aber man muss sich immer vor­stel­len: Bei all den Din­gen, die ich mach­te, war ich auf Hil­fe ange­wie­sen – wenn ich die Decke am Strand aus­brei­ten woll­te, wenn ich Schwimm­flos­sen anzie­hen oder eine Piz­za zer­schnei­den woll­te. Beim Auf­bau des Zel­tes half mir das Per­so­nal des Cam­ping­plat­zes. Die­ses sind nur eini­ge Beispiele. 

Dass ich gut auf Men­schen zuge­hen kann, hat mir das Gan­ze immer erleich­tert. Mei­ne Behin­de­rung hat­te trotz der dama­li­gen Sprach­bar­rie­ren immer eine Art sym­bo­li­sche Wir­kung. Ich muss­te nicht lan­ge erklä­ren, dass ich Hil­fe brauchte. 

Im Gegen­teil, ich sorg­te für Gesprächs­stoff auf dem Cam­ping­platz. Ich lern­te Men­schen aus ande­ren Län­dern ken­nen. So war das vor über 20 Jah­ren auf einem Cam­ping­platz mit dem Namen L’Ultima Spi­ag­gia im Süd­os­ten Sardiniens. 

Im Prin­zip gab es kei­ne Pro­ble­me, die ich nicht lösen konn­te. Ich war mir des­sen bewusst, dass vie­le Men­schen mit einer Behin­de­rung nicht so selbst­be­stimmt leben können.

Als jun­ger Mensch hat­te ich aber auch den Mut, das alles zu machen, mich in eine unbe­kann­te Welt von Men­schen zu bege­ben, in der ich auf ihre Hil­fe ange­wie­sen bin. 

Und heu­te, 20 Jah­re spä­ter? Ich habe mich ver­än­dert, aber auch die Welt hat sich ver­än­dert. Inzwi­schen arbei­te ich als Leh­rer an einem Gym­na­si­um. Ich habe ein gutes Gehalt und sechs Wochen Som­mer­fe­ri­en. Damals hat­te ich weni­ger Geld und mehr Zeit. 

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Heu­te spü­re ich lang­sam das Alter und die Ein­schrän­kun­gen, die damit ver­bun­den sind. Wenn ich auf der Toi­let­te war, habe ich Schwie­rig­kei­ten, die Bade­ho­se wie­der hoch­zu­zie­hen. Es fällt mir schon schwer, allein auf­zu­ste­hen. Mein Kör­per ver­än­dert sich. 

Die Fol­ge­er­schei­nun­gen mei­ner Behin­de­run­gen erschwe­ren mir das Leben nun noch mehr als frü­her. Aber auch, um mit die­sen Pro­ble­men umzu­ge­hen, habe ich mir Stra­te­gien über­legt – Stra­te­gien, die mir unter ande­rem hel­fen, wei­ter in den Urlaub fah­ren zu können. 

Wenn man so etwas macht und dabei auf Hil­fe ange­wie­sen ist, braucht man den Mut Men­schen anzu­spre­chen und sie nach Hil­fe zu fra­gen. Ich habe es noch nie erlebt, dass ein Mensch es ablehn­te, mir zu hel­fen. Das liegt viel­leicht auch dar­an, wo ich Urlaub mache. 

In die­sem Som­mer las ich auf einem Wohn­wa­gen einen Spruch, der es nach mei­nem Gefühl ganz gut trifft: „Vie­le Men­schen machen Urlaub, aber nur die cools­ten cam­pen“. Men­schen auf Cam­ping­plät­zen sind mei­ner Erfah­rung nach hilfs­be­reit und auf­ge­schlos­sen. Davon habe ich schon oft profitiert. 

Aller­dings ist es hier wie über­all. Cam­ping-Urlau­be sind teu­rer gewor­den, das Miss­trau­en gegen­über ande­ren Men­schen grö­ßer. Und dass vie­le Men­schen nicht mehr so kon­takt­freu­dig und auf­ge­schlos­sen sind, liegt viel­leicht auch ein biss­chen am Alter. 

Man kennt mich auch heu­te noch auf dem Cam­ping­platz, denn ich habe sol­che Berüh­rungs­ängs­te nicht. Und als Mensch mit einer Behin­de­rung fällt man natür­lich immer noch auf. 

Kin­der fra­gen ihre Eltern, wenn ich mit mei­nem umge­bau­ten Pedelec über den Platz fah­re: „War­um hat der Mann nur ein Bein und kei­ne Hän­de? War­um lacht er so viel?“ Das sind die Fra­gen, die so schön zei­gen, wie unbe­fan­gen man mit alle­dem umge­hen kann. So klärt sich dann auch auf, dass Men­schen mit einer Behin­de­rung nicht gene­rell trau­rig sind. 

Kinder sind manchmal ein Eisbrecher

Erwach­se­ne haben oft ähn­li­che Fra­gen, trau­en sich aber nicht, sie zu stel­len. Das Leben auf einem Cam­ping­platz eig­net sich daher her­vor­ra­gend, um die Vor­ein­ge­nom­men­heit von Men­schen auf­zu­bre­chen und ihnen das The­ma Behin­de­rung näher zu brin­gen. Kin­der kön­nen manch­mal auch ein Schlüs­sel sein oder ein Eisbrecher. 

Aber bei alle­dem gibt es natür­lich auch Gren­zen. Kann man von frem­den Men­schen erwar­ten, dass sie hel­fen, wenn es um Hil­fe im Intim­be­reich geht? Hil­fe beim Toi­let­ten­gang oder beim Wech­sel der Bade­ho­se am Strand? 

Die­ses Pro­blem zu lösen, war nicht leicht. Aber am Ende ließ es sich doch lösen. Ich hat­te die Idee, eine Rei­se­as­sis­ten­tin oder einen Rei­se­as­sis­ten­ten zu engagieren. 

Auf den ers­ten Blick bedeu­te­te das für mich, Auto­no­mie zu ver­lie­ren. Ich ver­lor einen Teil mei­ner gefühl­ten Unab­hän­gig­keit. Auf den zwei­ten Blick geriet das Ziel Sar­di­ni­en jedoch wie­der in greif­ba­re Nähe – obwohl ich ein neu­es Abhän­gig­keits­ver­hält­nis ein­ging und Kom­pro­mis­se in mei­ner Lebensführung. 

Vie­le Men­schen machen die­se Erfah­run­gen erst im höhe­ren Alter. Men­schen, die mit einer kör­per­li­chen Behin­de­rung auf­ge­wach­sen sind, erle­ben so etwas in der Ten­denz schon wesent­lich frü­her. Das hat man zum Bei­spiel an den Men­schen mit einer Con­ter­gan­be­hin­de­rung gese­hen. Auch mich ver­fol­gen die­se Ängs­te, mei­ne Auto­no­mie zu ver­lie­ren, immer wieder. 

Vor acht Jah­ren erkrank­te ich an Leuk­ämie. Ohne moder­ne Medi­zin wäre ich dar­an gestor­ben. Die­se neue Erfah­rung hat vie­les noch ein­mal relativiert. 

Eine neue Idee

Ich gewann einen neu­en Blick auf das Leben und sah fort­an mehr Chan­cen als Risi­ken. Ich ersetz­te lang­fris­ti­ge Lebens­plä­ne durch eher kurz­fris­ti­ge. Mein Leben sehe ich seit­dem noch als Geschenk, obwohl die Fol­ge­schä­den mei­ner Behin­de­rung mir immer mehr zusetzen. 

Ich bin davon über­zeugt, dass es gut ist, sich im Leben Zie­le zu set­zen und abzu­wä­gen, wie Ansprü­che und Risi­ken sich so ein Ein­klang brin­gen las­sen, dass man sich sei­ne Träu­me erfül­len kann.

Wenn ich in Sar­di­ni­en bin, gehe ich zum Bei­spiel abends im Mit­tel­meer schwim­men. Ein Unfall im Urlaub wäre für mich eine Kata­stro­phe. Auf die­se Wei­se kann ich das Risi­ko ver­rin­gern, unter der Dusche auszurutschen. 

Es ist nicht leicht, Jahr für Jahr Assis­ten­tin­nen oder Assis­ten­ten zu fin­den, die mich im Urlaub beglei­ten. Aber ich habe eine neue Idee. 

Ich wür­de ger­ne Rei­se­as­sis­tenz-Semi­na­re auf Sar­di­ni­en ver­an­stal­ten. So könn­te ich Men­schen das The­ma „Behin­de­rung und Inklu­si­on“ näher­brin­gen. Und so könn­te ich viel­leicht dazu bei­tra­gen, dass sich auch ande­re Men­schen mit einer Behin­de­rung die­sen Traum erfül­len könnten. 

Herz­li­che Grüße

Ihr Lud­wig Lübbers

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Über den Autor

Lud­wig Lüb­bers hat an der Uni Müns­ter Mathe­ma­tik und Sozi­al­wis­sen­schaf­ten stu­diert und anschlie­ßend das Refe­ren­da­ri­at absol­viert. Heu­te arbei­tet er als Leh­rer am Frei­herr-vom-Stein-Gym­na­si­um. Von 1997 bis 2000 initi­ier­te und betreu­te er das Pro­jekt „Han­di­cap im Inter­net“, eine Platt­form, auf der sich Men­schen mit Behin­de­rung ver­net­zen und aus­tau­schen konn­ten. In der städ­ti­schen Kom­mis­si­on zur För­de­rung der Inklu­si­on (KIB) setzt er sich heu­te für die Inter­es­sen von Men­schen mit Behin­de­run­gen in Müns­ter ein. 2021 ver­öf­fent­lich­te er sein ers­tes Buch: „L’Ultima Spi­ag­gia – Mei­ne letz­te Hoff­nung“. In sei­nen RUMS-Kolum­nen schreibt er über Bar­rie­ren und Bar­rie­re­frei­heit, über den All­tag von Men­schen mit Behin­de­rung und über Inklu­si­on in Münster.

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