Die Kolumne von Christoph Hein | Der Terror und die Antwort spalten die Welt 

Müns­ter, 29. Okto­ber 2023

Guten Tag,

tau­sen­de Men­schen ver­folg­ten Mit­te der Woche auf dem Prin­zi­pal­markt die Licht­spie­le aus Anlass der Fei­er­lich­kei­ten zum 375. Jahr des West­fä­li­schen Frie­dens. Die Zuschau­er waren ernst und bewegt, sie gedach­ten der Krie­ge und ihrer Opfer rund um die Erde, auch wenn Osna­brücks Ober­bür­ger­meis­te­rin Katha­ri­na Pöt­ter von einem „Spek­ta­kel“ sprach. Natür­lich waren alle noch bestimmt vom Ter­ror­an­griff der Hamas auf Isra­el und den har­schen Reak­tio­nen der Israelis. 

In wei­ten Tei­len der Welt, vor allem im soge­nann­ten Glo­ba­len Süden, herrscht frei­lich eine ganz ande­re Sicht der Lage. Den meis­ten Deut­schen fällt es schwer, sich ange­sichts der eige­nen Ver­gan­gen­heit, der schreck­li­chen Bil­der, des Schick­sals der Ent­füh­rungs­op­fer und des wie­der erwach­ten Anti­se­mi­tis­mus damit aus­ein­an­der­zu­set­zen. Und doch ist es über­fäl­lig: Denn vie­les, was in die­sen Tagen und Stun­den im Nahen Osten pas­siert, hat spür­ba­re Aus­wir­kun­gen auch in Peking, in Neu Delhi und sowie­so in Moskau.

In wei­ten Tei­len des Glo­ba­len Südens und in vie­len mus­li­mi­schen Län­dern herrscht eine aus­ge­präg­te Sym­pa­thie für die Paläs­ti­nen­ser vor. Sie reicht bis tief nach Süd­ost­asi­en und nach Indi­en, dem – gemes­sen an sei­ner Bevöl­ke­rung – zweit­größ­ten mus­li­mi­schen Land der Erde nach Indo­ne­si­en, vor dem benach­bar­ten Pakistan. 

Die Strö­mun­gen des Islam haben einen Ein­fluss auf die Sicht; gene­rell aber wird der Staat Isra­el von vie­len Men­schen in die­sen wachs­tums­star­ken Regio­nen mit kolo­nia­ler Geschich­te als Aggres­sor wahr­ge­nom­men. Nicht nur in Paki­stan gin­gen mehr­fach Tau­sen­de Men­schen auf die Stra­ße, um gegen den Angriff der israe­li­schen Armee auf den Gaza­strei­fen, ja gegen die Exis­tenz des Staa­tes Isra­el zu demonstrieren.

Ein Steward machte den Hitler-Gruß

Das hat damit zu tun, dass Isra­el hier von vie­len als letz­ter Ver­tre­ter eines über­hol­ten, aus­beu­te­ri­schen Kolo­ni­al­sys­tems betrach­tet wird. Men­schen im Glo­ba­len Süden ist die deut­sche, auch euro­päi­sche Sicht der Shoa als über­ra­gen­dem Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit fremd – für sie ist die Kolo­ni­al­zeit das über­ra­gen­de Ver­bre­chen, das an ihnen über Gene­ra­tio­nen began­gen wur­de und sie bis heu­te nicht loslässt. 

In Indi­en und Paki­stan wird Hit­lers „Mein Kampf“ offen am Wagen­fens­ter an der Kreu­zung ver­kauft, neben den Schwarz­dru­cken von Best­sel­lern. Auf einem Flug von Paki­stan Inter­na­tio­nal Air­lines streck­te mir ein Ste­ward lachend den aus­ge­streck­ten Arm zum Hit­ler-Gruß ent­ge­gen, als ich erzähl­te, ich sei Deut­scher. Böse war das nicht gemeint. Eher aner­ken­nend – hat­te Hit­ler nicht die Bri­ten fast in die Knie gezwun­gen, die Indern und Paki­sta­ni sol­ches Leid gebracht haben? 

Es sind Sicht­wei­sen, die Deut­sche ver­wun­dern, ver­är­gern, manch­mal schmer­zen. Und doch ist es wich­tig, sie zu betrach­ten und so weit als mög­lich zu ver­ste­hen. Schnell lan­det man dann beim Autor Pan­kaj Mishra, einem Meis­ter im Erklä­ren der ande­ren, vie­len hier frem­den Welt des Glo­ba­len Südens. 

„Das Post-Schoa-Nar­ra­tiv des Wes­tens, in dem die Sicher­heit Isra­els an ers­ter Stel­le steht, fand im Rest der Welt nie viel Anklang: War­um soll­ten die Paläs­ti­nen­ser ent­eig­net und für Ver­bre­chen bestraft wer­den, an denen nur Euro­pä­er betei­ligt waren? War­um soll­te die Deko­lo­nia­li­sie­rung aus­ge­rech­net im Her­zen der ara­bi­schen Welt rück­gän­gig gemacht wer­den?“, fragt Mishra im Spie­gel mit Blick auf Isra­el, „den letz­ten sied­lungs­ko­lo­nia­lis­ti­schen Staat der Welt“. 

Als ich in Tehe­ran 2016 die Schlan­gen der Men­schen vor der Aus­stel­lung mit den Holo­caust-Kari­ka­tu­ren sah, als ich dann den Bil­dern mit ihrer Gleich­set­zung des israe­li­schen Han­delns in Paläs­ti­na mit dem Holo­caust gegen­über stand, als ich die Zeich­nun­gen von SS-Trup­pen mit einem Juden­stern auf der Ärmel­bin­de sah, kos­te­te mich das Hin­schau­en Überwindung. 

Aber auch sie doku­men­tier­ten eine Sicht, die der Wes­ten ken­nen muss. Sie wird genährt durch Armut: „In Gaza, das fak­tisch in einem Zustand der finan­zi­el­len Abhän­gig­keit ver­fal­len ist, hän­gen mehr als 75 Pro­zent der Haus­hal­te an der einen oder ande­ren Form der sozia­len Unter­stüt­zung“, warn­te die Welt­bank schon lan­ge vor dem Ter­rorüber­fall der Hamas. 

Investitionsversprechen gegen Stillhalten

Der Riss der Beur­tei­lung zieht sich tief durch die isla­mi­sche Welt und die Ent­wick­lungs­län­der. Ein Bei­spiel dafür ist die Ver­ei­ni­gung Süd­ost­asia­ti­scher Staa­ten, Ase­an mit ihren zehn Mit­glie­dern: Bru­nei-Dar­us­sa­lam, Malay­sia und Indo­ne­si­en haben ihre Sym­pa­thie mit den Paläs­ti­nen­sern erklärt – kein Land des Tri­os hat den Staat Isra­el anerkannt. 

Der rei­che Stadt­staat Sin­ga­pur, eine Füh­rungs­na­ti­on der Regi­on und wie Katar groß als Ver­mitt­ler in Kon­flik­ten, etwa beim ers­ten Tref­fen von Donald Trump mit dem nord­ko­rea­ni­schen Dik­ta­tor Kim Jong-un 2018, ver­sucht, bei­de Sei­ten in Schach zu hal­ten und hat jeg­li­che Kund­ge­bun­gen untersagt. 

Die­se Bruch­li­ni­en rund um die Welt ent­lang zu navi­gie­ren wird zu deut­lich höhe­ren Inves­ti­ti­ons­ver­spre­chen für mus­li­mi­sche Ent­wick­lungs­län­der füh­ren, wenn dafür Still­hal­ten zu erlan­gen ist. Wohin eini­ge die­ser Gel­der flie­ßen wer­den, bleibt – das zeigt das Bei­spiel Hamas – wohl offen.

Schon jetzt aber glü­hen alle diplo­ma­ti­schen Dräh­te, um den dro­hen­den Flä­chen­brand noch ein­zu­he­gen. Im Mit­tel­punkt ste­hen auf der einen Sei­te das Emi­rat Katar, auf der ande­ren Washing­ton. Ron Pro­sor, Isra­els Bot­schaf­ter in Ber­lin, wie­der­hol­te sei­nen Vor­wurf von „Katar als Club Med des Ter­rors“. Die Kata­ri selbst ver­ste­hen sich als Mitt­ler, weil hier die Nie­der­las­sun­gen der Ter­ror­or­ga­ni­sa­tio­nen Hamas und der afgha­ni­schen Tali­ban sit­zen. Und sie beto­nen, all ihre Hilfs­zah­lun­gen an die Paläs­ti­nen­ser sei­en mit Isra­el und den Ver­ei­nig­ten Staa­ten abgestimmt.

Deutsch­land kommt mit Blick auf das Emi­rat eine beson­de­re Rol­le zu: Nicht erst seit der Bit­te des grü­nen Wirt­schafts­mi­nis­ters Robert Habeck um Flüs­sig­gas ist es eng mit Katar ver­floch­ten. Doha hält ein gutes Stück der Deutsch­land-AG in den Hän­den: Die Bank Merck Finck gehört ihr, 17 Pro­zent der Stamm­ak­ti­en von Volks­wa­gen, gut 12 Pro­zent der Ree­de­rei Hapag-Lloyd, mehr als 9 Pro­zent am Ruhr­kon­zern RWE, 4,6 Pro­zent der Deut­schen Bank.

Der Versuch, laut zu klappern

Auf der ande­ren Sei­te Washing­ton. Die Ame­ri­ka­ner sind eigent­lich seit Barack Oba­mas Prä­si­dent­schaft im Pazi­fik, viel­leicht noch dem Indi­schen Oze­an gebun­den, rin­gen mit Chi­nas Auf­stieg vor der eige­nen Haus­tür, schmie­den Bünd­nis­se mit Aus­tra­li­en, Japan und Indi­en. Russ­lands Über­fall auf die Ukrai­ne kam hin­zu, nun steht Washing­ton plötz­lich vor dem Schei­ter­hau­fen sei­ner Nah­ost­po­li­tik und ver­sucht mit prä­si­dia­ler Macht und zwei Flug­zeug­trä­ger-Grup­pen vor Ara­bi­ens Küs­ten, noch Schlim­me­res zu verhindern. 

Das erwar­ten die Ame­ri­ka­ner vor allem vom Ter­ror­fi­nan­zier Iran. Tehe­ran aller­dings weiß um sei­ne Ver­wund­bar­keit und scheint bis­lang lie­ber Schat­ten­ar­meen und Mili­zen zu för­dern, als selbst aktiv und erkenn­bar einzugreifen. 

Peking aber tes­tet der­weil mit Angrif­fen auf phil­ip­pi­ni­sche Ver­sor­gungs­schif­fe für Vor­pos­ten im Süd­chi­ne­si­schen Meer und ver­mehr­ten Schein­an­grif­fen auf die Halb­lei­ter-Insel Tai­wan aus, wie weit Washing­ton die Nadel­sti­che zulässt. Chi­na hat die Span­nun­gen über meh­re­re Mona­te hin­weg immer wei­ter ver­schärft. Zugleich möch­te Peking Indi­ens Minis­ter­prä­si­den­ten Naren­dra Modi den Ruf strei­tig machen, der selbst­er­nann­te Füh­rer des Glo­ba­len Südens zu sein. 

Das Forum um die Infra­struk­turin­itia­ti­ve der Neu­en Sei­den­stra­ße in der ver­gan­ge­nen Woche war ein Ver­such von Prä­si­dent Xi Jin­ping, laut zu klap­pern. Doch kri­ti­sie­ren nicht nur vie­le Emp­fän­ger­län­der das Vor­ge­hen Chi­nas und sei­ner Ver­schul­dungs­po­li­tik. Auch in Chi­na wird ange­sichts der wirt­schaft­li­chen Lage die Kri­tik an dem eine Bil­li­on Dol­lar umfas­sen­den Pro­gramm lauter. 

Mos­kau aber stärkt sei­ne Ver­bin­dun­gen zu sei­nem alt­her­ge­brach­ten Part­ner Indi­en, dem Abneh­mer von Waf­fen und Roh­stof­fen, und dem Part­ner im Osten, Chi­na. Und der deut­sche Rüs­tungs­kon­zern Rhein­me­tall mel­det ein­mal mehr, dass sei­ne Muni­ti­ons­fer­ti­gung mehr als aus­ge­las­tet sei. 

Herz­li­che Grü­ße
Ihr Chris­toph Hein

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Über den Autor

Chris­toph Hein ist in Köln gebo­ren und in Müns­ter auf­ge­wach­sen. Er hat an der Uni Müns­ter stu­diert, hier pro­mo­viert und wäh­rend sei­nes Stu­di­ums für die West­fä­li­schen Nach­rich­ten und den WDR gear­bei­tet. Im Jahr 1998 fing er bei der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung an, zunächst als Kor­re­spon­dent in Stutt­gart. Ein Jahr spä­ter ging er als Kor­re­spon­dent erst für Süd­ost­asi­en und Chi­na, ab 2008 für den Süden Asi­ens ein­schließ­lich des Pazi­fik­raums nach Sin­ga­pur. Dort wur­de auch sei­ne Toch­ter gebo­ren, die inzwi­schen in Müns­ter stu­diert. Chris­toph Hein hat zahl­rei­che Bücher publi­ziert, zuletzt mit „Aus­tra­li­en 1872“ einen Bild­band über einen deut­schen Gold­su­cher auf dem fünf­ten Kontinent.

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