Die Kolumne von Michael Tillmann | Reden und Schweigen im Angesicht des Grauens

Müns­ter, 5. Novem­ber 2023

Guten Tag,

Schwei­gen möch­te man, möch­te ich am liebs­ten in der auf­ge­wühl­ten Dis­kus­si­on über die nie­der­schmet­tern­de Situa­ti­on in Isra­el und in Gaza. Schwei­gen, weil fast alles, was man sagt oder schreibt, auch Fal­sches beinhal­tet. Schwei­gen, weil man fast kei­ne Chan­ce hat, nicht miss­ver­stan­den zu wer­den. Wor­te und Spra­che zu fin­den für Ereig­nis­se, die eigent­lich sprach­los machen, das ist ein fast aus­sichts­lo­ses Unter­fan­gen. Und trotz­dem muss man es ver­su­chen, weil Ent­set­zen und Trau­er auch der Mit­tei­lung bedürfen.

Geschwie­gen hät­ten auf jeden Fall bes­ser die Vertreter:innen der inter­na­tio­na­len „Fri­days for Future“-Bewegung im Anschluss an die Ereig­nis­se vom 7. Okto­ber. Als in Sachen Kli­ma und Kli­ma­schutz Enga­gier­ter füh­le ich mich betrof­fen von der man­geln­den Empa­thie, den ein­sei­ti­gen Soli­ta­ri­täts­be­kun­dun­gen von Gre­ta Thun­berg und den Posts einer nicht näher aus­ge­wie­se­nen Per­so­nen­grup­pe, die Zugriff auf die Social Media-Kanä­le von „Fri­days for Future inter­na­tio­nal“ hat. 

Gre­ta Thun­berg hat einen Satz zur Ver­ur­tei­lung der Hamas-Gräu­el nach­ge­scho­ben. Ihren Iko­nen-Sta­tus wird sie trotz­dem weit­ge­hend ver­lo­ren haben. Im Fal­le der wirk­lich schlim­men Ent­glei­sun­gen aus den Rei­hen der inter­na­tio­na­len Kli­ma­be­we­gung haben die „Jüdi­sche All­ge­mei­ne“ und der „Tages­spie­gel“ auf­ge­deckt, wie ein ein­zel­ner fana­ti­sier­ter Akti­vist aus Mainz die­se offen anti­se­mi­ti­schen Posts „durch­bo­xen“ und abset­zen konnte. 

Der Schaden ist da

Offen­bart wur­de damit eine hane­bü­chen dif­fu­se und unde­mo­kra­ti­sche inter­ne Struk­tur von „Fri­days for Future inter­na­tio­nal“. Auch wenn Lui­sa Neu­bau­er für Fri­days for Future in Deutsch­land sich ein­deu­tig vom inter­na­tio­na­len Zweig distan­ziert hat, in jeder Hin­sicht glaub­wür­dig für den deut­schen Zweig jeden Anti­se­mi­tis­mus abge­lehnt und für alle jüdi­schen Men­schen ein Leben ohne jeg­li­che Furcht vor Anfein­dun­gen oder gar Gewalt ein­ge­for­dert hat, der Scha­den für die Kli­ma­be­we­gung ist eingetreten. 

Es ist nun ein­mal lei­der so, dass die Akzep­tanz einer ambi­tio­nier­ten Kli­ma­po­li­tik nicht nur von der Güte der Argu­men­te, son­dern auch zu einem gro­ßen Teil von der Glaub­wür­dig­keit derer abhängt, die sie ver­tre­ten. Aber jen­seits der Fra­gen um die Repu­ta­ti­on und den Anse­hens­ver­lust der Kli­ma­be­we­gung geht es mir um den eige­nen und den gesell­schaft­li­chen Umgang mit der Situa­ti­on, die nach den Mas­sa­kern der Hamas und den Gei­sel­nah­men vom 7. Okto­ber ein­ge­tre­ten ist.

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Empö­rung bei der israe­li­schen Regie­rung und bei man­chen ande­ren Staa­ten lös­te der UNO-Gene­ral­se­kre­tär Guter­res aus, als er sag­te, der Hamas-Über­fall habe „nicht im luft­lee­ren Raum“ statt­ge­fun­den und andeu­tungs­wei­se auf die Geschich­te des Nah­ost­kon­flikts ver­wies. Gera­de­zu Tumul­te ent­stan­den, als der slo­we­ni­sche Phi­lo­soph Žižek in sei­ner Eröff­nungs­re­de zur Frank­fur­ter Buch­mes­se zwar sag­te, er ver­ur­tei­le die Hamas-Mas­sa­ker ohne jedes „Wenn und Aber“, anschlie­ßend aber doch eini­ges zur Ana­ly­se des Isra­el-Paläs­ti­na-Kon­flikts anfügte. 

Vie­le sahen dar­in doch eine Rela­ti­vie­rung der Gräu­el­ta­ten, indem sie in einen his­to­ri­schen und poli­ti­schen Kon­text gestellt wur­den. Unter ande­rem hat der israe­li­sche His­to­ri­ker und Lei­ter der Anne-Frank-Bil­dungs­stät­te Frank­furt, Meron Men­del, selbst ein schar­fer Kri­ti­ker der israe­li­schen Regie­rungs­po­li­tik, der kürz­lich sein Buch „Über Isra­el reden“ hier in Müns­ter vor­ge­stellt hat­te, mit Fas­sungs­lo­sig­keit auf die Žižek-Rede reagiert. 

Er habe ange­sichts der ermor­de­ten Kin­der, Frau­en und Män­ner kein Ver­ständ­nis dafür, dass jemand nur weni­ge Tage nach den Mas­sa­kern und Gei­sel­nah­men anfan­ge, Erklä­run­gen zu lie­fern. Die Ereig­nis­se sei­en ein sol­cher zivi­li­sa­to­ri­scher Tief­punkt, dass für eine Wei­le ein­fach nur Inne­hal­ten ange­sagt sei. Im Übri­gen sei­en sol­che ana­ly­ti­schen Exkur­se im Fal­le von Sre­bre­ni­ca oder But­scha nicht ange­stellt wor­den. Er wirft damit die Fra­ge auf, ob hier nicht viel­leicht doch ein laten­ter Anti­se­mi­tis­mus zum Vor­schein käme.

Sind wir zu unbegrenzter Empathie fähig?

Caro­lin Emcke berich­tet in der „Süd­deut­schen Zei­tung“ davon, dass in ihrem Umkreis die Empa­thie mit jüdi­schen und paläs­ti­nen­si­schen Opfern ungleich ver­teilt sei. Kei­ne Nach­fra­ge gebe es, wenn sie von einer engen Freun­din in Gaza erzäh­le, von der sie nicht wis­se, ob sie noch lebe. 

„Ist das paläs­ti­nen­si­sche Lei­den bereits ein­ge­preist? (…) Oder gilt die Anteil­nah­me an der Not der Zivi­lis­ten in Gaza als Absa­ge an Anteil­nah­me an jüdi­scher Trau­er?“ fragt sie sich und die Leser:innen. Empa­thie müs­se uni­ver­sa­lis­tisch sein, kön­ne nicht an äuße­re Bedin­gun­gen geknüpft wer­den. Paläs­ti­nen­si­sche Trau­er sei nicht weni­ger wert als die Trä­nen jüdisch-israe­li­scher Menschen.

So sehr ich sol­chen Gedan­ken zunei­ge, sie las­sen doch auch Zwei­fel auf­kom­men, ob nicht doch die Fähig­keit zu Trau­er und Empa­thie einer gewis­sen Öko­no­mie unter­liegt. Sind wir wirk­lich zu unbe­grenz­ter Empa­thie fähig? Nei­gen wir nicht alle in Kon­flikt­si­tua­tio­nen zu einer empa­thi­schen Parteinahme?

Auch in der gegen­wär­ti­gen Situa­ti­on spü­re ich noch immer, wie die Erfah­run­gen von einem Besuch in Isra­el und im West­jor­dan­land vor neun Jah­ren nach­wir­ken. Die mons­trö­se Mau­er in Beth­le­hem und vie­len ande­ren Orten, der Besuch in Hebron, wo eini­ge hun­dert jüdi­sche Sied­ler, geschützt von fast genau so vie­len israe­li­schen Sol­da­ten, zwei zen­tra­le Stra­ßen­zü­ge für sich ver­ein­nahmt haben, die Situa­ti­on der paläs­ti­nen­si­schen Stadt Kal­ki­lya, die voll­stän­dig von Mau­ern umge­ben ist oder die Über­grif­fe von Sied­lern auf die Farm der Fami­lie von Daoud Nas­sar mit der nahe­zu voll­stän­di­gen Zer­stö­rung sei­nes Oli­ven­hains kurz nach unse­rem Besuch – all das ist mir sehr gegenwärtig. 

Das Wichtigste: Widersprüche aushalten

Das Erle­ben der struk­tu­rel­len Unter­drü­ckung und Demü­ti­gun­gen durch israe­li­sche Sol­da­ten und Sied­ler kann ich nicht aus­blen­den. Das West­jor­dan­land erschien als eine ein­zi­ge Brut­stät­te von Gewalt und Hass.

Gleich­zei­tig muss ich zur Kennt­nis neh­men, dass die Hamas, die Macht­ha­ber im Iran und auch ande­re Tei­le der ara­bi­schen Welt den Staat Isra­el von der Land­kar­te aus­lö­schen wol­len. Umso wich­ti­ger ist, dass wir das Exis­tenz­recht Isra­els, das Recht sich zur Selbst­ver­tei­di­gung und die beson­de­re Ver­ant­wor­tung von uns Deut­schen, die auch eine beson­de­re Pflicht zur Soli­da­ri­tät ein­schließt, unter kei­nen Umstän­den in Fra­ge stel­len dürfen.

Mir ist bewusst, dass das alles zusam­men kei­ne kon­sis­ten­te und in sich wider­spruchs­freie Hal­tung ergibt. Aber die inne­ren und äuße­ren Wider­sprü­che aus­zu­hal­ten, nach klei­nen Fluch­ten des Dia­logs und der Ver­stän­di­gung zu suchen, das ist viel­leicht das Wich­tigs­te, wor­um wir uns der­zeit bemü­hen sollten.

Es gibt kaum eine Regi­on die­ser Erde, die so wenig Hoff­nung auf Frie­den ver­mit­telt wie das Land zwi­schen Jor­dan und Mit­tel­meer. Aber es gibt Men­schen auf bei­den Sei­ten, die sich nicht ent­mu­ti­gen las­sen. Der oben erwähn­te Daoud Nas­ser, der seit Jahr­zehn­ten um die recht­mä­ßi­ge Aner­ken­nung sei­nes Land­be­sit­zes kämpft, hat am Ein­gang zu sei­nem Gelän­de einen gro­ßen Stein auf­ge­stellt mit der Inschrift „We refu­se to be enemies“ (Wir wei­gern uns, Fein­de zu sein). 

Ich wün­sche Ihnen einen nach­denk­li­chen Sonn­tag und uns allen, dass die kom­men­den Tage auch Hoff­nung näh­ren­de Nach­rich­ten bringen.

Micha­el Tillmann

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Über den Autor

Micha­el Till­mann hat an der Uni Müns­ter Mathe­ma­tik und Sozi­al­wis­sen­schaf­ten stu­diert und die­se Fächer über 36 Jah­re unter­rich­tet. In den Neun­zi­ger­jah­ren gehör­te er dem Len­kungs­kreis an, der für Müns­ter eine Loka­le Agen­da erar­bei­tet hat – ein Hand­lungs­pro­gramm, um Kom­mu­nen nach­hal­tig wer­den zu las­sen. Er ist stell­ver­tre­ten­des Mit­glied im Kli­ma­bei­rat der Stadt Müns­ter, war von 2015 bis 2020 ver­ant­wort­lich für den News­let­ter „Kli­ma-Info Müns­ter kom­pakt“ und ist Initia­tor der „Müns­te­ra­ner Kli­ma­ge­sprä­che“. Micha­el Till­mann ist 75 Jah­re alt, seit 2020 Mit­glied der Par­tei Bündnis90/Die Grü­nen und Groß­va­ter von fünf Enkelkindern.

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