Die Kolumne von Michael Jung | Die Qual der Schulwahl


Münster, 17. Oktober 2021
Guten Tag,
der hinter uns liegende Wahlkampf war manchen Menschen zu langweilig – da trifft es sich gut, dass in der Stadt bald der nächste beginnt. Nein, es geht nicht um die Landtagswahl, sondern um ein alljährliches Ritual: Gut 2.500 Kinder in Münster suchen zusammen mit ihren Eltern eine weiterführende Schule aus, und die Schulen werben um Anmeldungen. Das ist eine gute Gelegenheit, wie hier bereits angekündigt, nochmal einen Blick auf die Schul- und Bildungspolitik in unserer Stadt zu werfen.
Bei dieser Wahl stehen die Verlierer:innen schon fest
Anders als bei der Bundestagswahl stehen bei der bevorstehenden Schulwahl die Verlierer:innen schon Wochen im Voraus fest. Erneut werden nämlich rund 300 Kinder nicht an der Schulform ihrer Wahl angenommen werden können – sie werden an den Gesamtschulen eine Absage erhalten. Dieser Wert war in den letzten fünf Jahren relativ konstant. Und seit der Entscheidung der Bezirksregierung gegen eine Gesamtschulgründung in Roxel steht fest: Das wird auch dieses Jahr wieder so sein. Insgesamt sind es dann über die letzten Jahre gerechnet schon fast 2.000 Kinder, die nicht an der Schulform lernen können, für die sie und ihre Eltern sich entschieden haben.
Jetzt könnte man meinen, dieser Umstand treibe Schulpolitik und Verwaltung um und entfalte Druck, für dieses Problem konstruktive Lösungsansätze zu entwickeln. Leider konnte man nach der Entscheidung der Bezirksregierung das Gegenteil beobachten. Verwaltung und Politik begannen erstmal eine ausgiebige Schmoll- und Trotzphase. Die großen Fraktionen und die Schulverwaltung ließen verlauten: Das müsse aber nochmals überprüft werden, mit der Bezirksregierung noch mal gesprochen werden!
Das wird aber wohl nur wenig Eindruck machen, nachdem die Stadtverwaltung fünf Jahre brauchte, um das Zahlen- und Datenmaterial aufzubereiten, und der Oberbürgermeister in dieser langen Zeit auch keinerlei Einsatz für das Thema erkennen ließ. Wieso sollte die Landesbehörde am Domplatz also noch eine Hundertachtzig-Grad-Kurswende vollziehen? Die Kinder, die in diesem und den nächsten Jahren wieder an der Schulform ihrer Wahl abgewiesen werden, zahlen den Preis fürs Taktieren und den fehlenden Plan.
Auch für die Politik hat das Zögern Konsequenzen. Denn die Eröffnung einer neuen Gesamtschule im vorhandenen Schulzentrum in Roxel wäre nicht nur kostengünstig gewesen, sie hätte dem Rat auch schwierige Entscheidungen erspart. Im Erfolgsfall hätten sich die Auswirkungen auf bestehende Schulen nämlich erst in den folgenden Jahren gezeigt. Bestehende Schulen wären quasi „natürlich ausgetrocknet“, weil sich dort einfach weniger Schüler:innen angemeldet hätten. Eine neue Gesamtschule an anderer Stelle aber zieht wegen der Standortfestlegung diese Entscheidung in den politischen Raum: Der Rat muss dann schon vorab durch Beschlüsse festlegen, welche bestehenden Schulsysteme keine Zukunft mehr haben. Ärger ist da garantiert.
Im Moment scheint es ruhig – es geht ja „nur“ um eine neue Gesamtschule. Aber machen Sie mit mir mal ein Gedankenexperiment: Was wäre in unserer Stadt los, wenn in den letzten Jahren jeweils 300 Kinder an Gymnasien angemeldet worden wären, dort aber keinen Platz erhalten hätten und auf Realschulen oder Gesamtschulen hätten ausweichen müssen?
Die Profiteure der Hängepartie
Das lenkt den Blick auf die tieferen Ursachen des Problems, denn natürlich gibt es in dieser endlosen Hängepartie auch Profiteure. Das sind neben einigen Realschulen vor allem auch die Gymnasien, besonders die schwächeren, die für manche Eltern erst nach der Absage von der Gesamtschule notgedrungen zur Alternative werden.
Münsters Schullandschaft bietet insgesamt 14 verschiedene Gymnasien zur Auswahl, darunter drei in Trägerschaft des Bistums. Das ist ziemlich viel für eine Stadt unserer Größenordnung – und das hat Folgen. Es gibt einen Wettbewerb unter diesen Schulen – jedenfalls könnte man das meinen, wenn man den Aufwand betrachtet, den diese Schulen jedes Jahr betreiben, um neue Schüler:innen zu gewinnen. Eltern und ihre Kinder können über Wochen viele Infoabende und Tage der Offenen Tür besuchen. Oft treffen die Familien trotzdem eine eher intuitive Entscheidung, die sie später selten hinterfragen. Die Gymnasien mühen sich mit allerlei Zertifikaten, deren Kriterien oft genug ziemlich leicht zu erfüllen sind, ansprechenden Auftritten, einem opulenten Fahrtenprogramm und vor allem mit viel Herz um die Eltern und Kinder.
Dabei wäre es für diese ernüchternd, wenn sie lesen würden, was die Fachwissenschaft an der Uni Münster über die Gymnasiallandschaft in der Stadt schon vor über zehn Jahren herausgefunden und woran sich seither allenfalls graduell etwas geändert hat: Trotz des auf den ersten Blick so vielfältigen Angebots und all der bunten Zertifikate sind die Bildungsangebote an vielen Gymnasien in Münster eigentlich ziemlich ähnlich. Und für manche Schulen gilt: ähnlich schlecht.
Der Einheitsbrei der Gymnasien in Münster
Für das Profil von Schulen und auch für den Bildungserfolg ihrer Schüler:innen sind nämlich ganz andere Dinge entscheidend, als viele Eltern glauben, wenn sie ihre Viertklässler:innen anmelden. Es sind weder die Details der Übermittagsbetreuung (die mit zunehmendem Alter ohnehin rasch obsolet wird) noch die Reiseprogramme oder die „Europaschule“.
Es sind die handfesten Bildungsangebote und deren Vielfalt: Wie viele und welche Sprachen werden angeboten? Welche naturwissenschaftlich-technischen (MINT-Fächer) und welche gesellschaftswissenschaftlichen Differenzierungsangebote gibt es, die fest im Curriculum verankert sind und jedes Jahr angeboten werden? Und mit Blick auf das Abitur: Wie groß ist die Zahl der konstant (!) angebotenen Leistungskurse? Gibt es hier nur das Minimalprogramm (Deutsch, Englisch, Erdkunde, Mathe und Bio machen alle immer) oder gibt es MINT-Leistungskurse wie Chemie, Physik, Informatik? Werden auch mehrere Gesellschaftswissenschaften jedes Jahr angeboten, insbesondere Sozialwissenschaften und Geschichte? Gibt es neben Englisch weitere Fremdsprachen als Leistungskurse, etwa Spanisch und Französisch?
Bei den Wahlmöglichkeiten in der Mittelstufe, aber erst recht in der Oberstufe geht es um konkrete Bildungschancen und um die Frage, ob alle Kinder und Jugendlichen die optimale individuelle Förderung erhalten oder ob sie sich mit einem Schmalspurangebot zufriedengeben müssen. Am Ende hängt auch die Abiturnote durchaus davon ab, ob man seine Wunsch-Leistungskurse bekommt oder ob man nehmen muss, was die Schule eben organisieren kann.
Und da zeigt sich in Münster seit Jahren ein verhältnismäßig ungünstiges Bild. Es gibt mittlerweile eine klare Trennung in zwei Gruppen von Gymnasien: Die einen bieten eine vielfältige Differenzierung und recht breite Wahlmöglichkeiten an, die anderen schaffen das Minimalprogramm, und zum Teil selbst das nur in Kooperation mit anderen. Das läuft in anderen Städten und Kreisen deutlich besser – zum Beispiel in Bochum oder auch im benachbarten Kreis Steinfurt, wo klare Schulprofile existieren.
Kleine Schule, schmales Kursangebot
Der Grund dafür ist struktureller Natur – es gibt in Münster zwar sehr viele Gymnasien, aber manche von ihnen sind einfach zu klein, um ihren Schüler:innen ausreichend Wahlmöglichkeiten anbieten zu können. Wenn ein Gymnasium nur zwei Eingangsklassen bildet, mag man das angenehm übersichtlich finden. In Wahrheit ist das aber ein Verstoß gegen das Schulgesetz, das aus gutem Grund eine Dreizügigkeit als Minimum und Regel vorgibt. Denn für die Schüler:innen bedeutet ein so kleiner Jahrgang eben auch ein schmales Kursangebot.
Wenn sich dann auch noch eigensinnige Schulleitungen mit einem extravaganten Stundenraster (67,5 Minuten pro Unterrichtsstunde oder dergleichen) von einer benachbarten Schule abgrenzen wollen, machen sie eine Kooperation für ein gemeinsames, breiteres Kursangebot unmöglich – und im Ergebnis werden die Differenzierungsmöglichkeiten noch weiter beschnitten.
Diese Erkenntnisse sind wirklich nicht neu, doch sie sind erstaunlicherweise kaum in das Bewusstsein von Eltern, Schüler:innen und Schulpolitik vorgedrungen. Münster bräuchte dringend (etwas) größere Schulen mit klareren Profilen – und dafür eine inhaltlich koordinierte Schulentwicklungsplanung, die endlich Schulpolitik an den Bildungschancen der Schüler:innen und den besten Bildungsangeboten orientiert, nicht an den Beharrungstendenzen einzelner Schulleitungen und einiger weniger lauter Elternvertreter:innen. Die fehlende dritte Gesamtschule verhindert auch hier die nötigen Reformen, da die an den Gesamtschulen Abgewiesenen jedes Jahr notgedrungen auch dem einen oder anderen dahinsiechenden Gymnasium noch zu Anmeldungen verhelfen – zum Sterben zu viel, zum Überleben zu wenig.
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Die bevorstehende Weichenstellung
Doch auch hier steht eine politische Weichenstellung an. Denn nach Jahren aufgeschobener Sanierungsmaßnahmen am Schlaun-Gymnasium wird sich hier zeigen, ob strukturelle Veränderungen möglich werden. Nach der gescheiterten Schulentwicklungsplanung der früheren Dezernentin Andrea Hanke, die 2006 eine Schließung des Schlaun vorgesehen hatte, verfügte die damalige Ratsmehrheit von CDU und FDP 2007 einen Sanierungsstopp für die Schule. Nachdem dies nicht mehr aufrechtzuerhalten war, entdeckte die CDU (nun mit anderen handelnden Personen) ihre Liebe zu dieser Schule neu und setzte kurz vor der Kommunalwahl 2020 einen interessanten Beschluss im Rat durch: Die Schule soll komplett am bestehenden Standort saniert werden. Da dies aber nicht im laufenden Betrieb machbar ist, soll das von der Stadt kürzlich übernommene ESPA-Kolleg als Übergangsquartier dienen, bis die Schule saniert und fertig ist.
Das ist nicht nur schulpolitisch bemerkenswert (wer meldet sein Kind an einer Schule an, wenn jahrelange Behelfslösungen drohen?), sondern auch finanzpolitisch. So muss nämlich zunächst das Anne-Frank-Berufskolleg erweitert werden, um dessen Klassen aus dem ESPA-Kolleg-Gebäude abzuziehen. Dort müssten dann wiederum Fachräume, Übermittagsangebote usw. für das Schlaun hergerichtet werden, die nach Abschluss der Baumaßnahme dort nicht mehr gebraucht werden. Und schließlich müsste für deutlich mehr als 20 Millionen auch noch das Schlaun-Gebäude selbst in Schuss gesetzt werden.
Man bekäme also – zugespitzt formuliert – ein neues Gymnasialgebäude für den Preis von zweien, für insgesamt rund 45 Millionen nämlich. Das ist aber auch nur eine Kostenschätzung. Außerhalb von Münster käme man kaum auf die Idee, auf einer Fläche von 0,7 Hektar ein neues Gymnasium zu bauen, wenn ein weiteres in Sichtweite liegt. Mit der Frage, wie mit diesem Sanierungsfall umgegangen wird, entscheidet sich, ob Münster endlich zu Reformen an seiner Schullandschaft bereit ist und auch bei den Gymnasien endlich auf Profilbildung und gute Angebote im Sinne der Schüler:innen setzt.
Vor 20 Jahren gab es diesen Mut schon einmal: Damals zog das Stein-Gymnasium, das bis dahin am Schlossplatz ein kümmerliches Dasein gefristet hatte, nach Gievenbeck um. Dort ist es jetzt eine große vierzügige Stadtteilschule mit einem klaren Profil. Die Politik hatte diese Entscheidung im Sinne einer zukunftsfähigen Schullandschaft im breiten Konsens getroffen und dabei auch manches Beharren auf dem Status quo ignoriert – die Schulkonferenz des Stein-Gymnasiums bemängelte seinerzeit beispielsweise den „handtuchartigen Zuschnitt“ des neuen Schulgrundstücks.
Es ist jetzt, 20 Jahre später, wirklich an der Zeit, den Mut für schulpolitische Entscheidungen aufzubringen – sowohl für die dritte Gesamtschule als auch für die Gymnasien. Und das bedeutet: Neben der dritten Gesamtschule braucht es eine Entwicklungsplanung, die analog zu anderen Städten auf Stadtteilschulkonzepte mit klaren Profilen und guten Angeboten setzt, anstatt in der Innenstadt eine Scheinkonkurrenz von zum Teil anmeldeschwachen Schulen fortzuführen. Ganz nebenbei hätte das übrigens auch noch einen Effekt jenseits der Bildungspolitik: Kürzere Schulwege von Hunderten Schüler:innen reduzieren Verkehr und Stress.
Klar, solche Grundsatzentscheidungen stoßen immer auch auf Widerstand – aber ein weiteres Nichtstun sorgt dafür, dass die Schüler:innen in Münster nicht die optimalen Bildungsangebote bekommen und nicht die, die sie wollen. Da wird jetzt der eine oder die andere im Rathaus mal ein breites Kreuz brauchen, im Sinne der besten Bildung.
Herzliche Grüße
Ihr Michael Jung
Über den Autor
Michael Jung lebt schon immer in Münster. Er wurde 1976 hier geboren. Er hat an der Uni Münster Latein und Geschichte studiert und in Geschichte promoviert. Heute ist er Lehrer am Annette-Gymnasium in Münster. Michael Jung war viele Jahre in der Politik: Von 2013 bis 2020 war er Fraktionschef der SPD im Rat der Stadt, im Jahr 2020 trat er für die SPD bei den Kommunalwahlen als Oberbürgermeisterkandidat an.
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Wer ist denn in dieser Stadt so schlau und schließt das Schlaun-Gymnasium? Insbesondere wo bei der anhaltenden Haushaltsmisere, das Grundstück gut zu verwerten ist!
Oder ist es so wie beim alten Stein-Gymnasium? Verkauft für 3,5 Millionen an die WWU damit keiner auf die Idee einer Gesamtschule kommt und dann wird daneben eine Gesamtschule gebaut, deren neue Gebäuge alleine 17 Millionen kosten. Wer verscheucht die Verschwender von Steuern?
Eine schul- und bildungspolitische Debatte in Münster anzustoßen, ist ohne Zweifel sinnvoll. Fragwürdig ist aber, dass sich die Argumentation Michael Jungs weitgehend auf den Status Quo der Gymnasiallandschaft fokussiert – wobei die Gesamtschulen aus aktuellem Anlass mal eben „integriert“ werden. Grundlegende Fragen der spezifisch deutschen Organisation von schulischer Bildung werden damit nicht einmal ansatzweise angesprochen. Vor allem das Problem der sich fortsetzenden und verschärfenden sozialen Ungleichheit im Hinblick auf Bildungschancen als zumindest indirekte Folge der frühen Selektion bereits in der dritten Klasse, der Orientierung von Bildung an einer gymnasialen Norm und der nicht ausreichenden Differenzierung von unterschiedlichen Bildungswegen, die eine individuelle Entwicklung nachhaltig fördern könnten, bleibt außen vor. In dieser Hinsicht gibt es seit der ersten PISA-Studie reichlich wissenschaftliche Erkenntnisse, die aber bisher keinen Eingang in die deutsche Bildungspolitik gefunden haben. Hier müsste man m.E. deutlich tiefer schürfen, als es der Autor tut. Auch und gerade im Hinblick auf Münster.
Aber auch wenn man den Fokus des Autors übernimmt, bleibt es weiterhin fragwürdig, vor allem, was die wohlfeile Kritik am „gymnasialen Einheitsbrei“ Münsters betrifft. Das kann man natürlich unter bestimmten Aspekten so sagen und man kann auch den Zertifizierungswahn kritisieren, der aber letztlich nicht von den Schulen selbst zu verantworten, sondern bildungspolitisch übergeordneten Leitvorstellungen und dem damit verbundenen Profilierungsdruck geschuldet ist. Wer in dieser Hinsicht ohne „Schuld“ ist, werfe den ersten Stein… Vor allem aber entspricht die grundsätzliche Ähnlichkeit der gymnasialen Angebote dem gesetzlich verankerten Bildungsauftrag dieser Schulform.
Und wenn man genau hinschaut, lassen sich durchaus unterschiedliche Schwerpunkte, sei es im fachlichen oder auch im pädagogischen Bereich, feststellen, die durchaus relevant sind. Dazu zählen angesichts der zunehmenden Heterogenität der Schüler*innenschaft, anders als der Autor meint, wesentlich auch die Unterschiede in Halb- und Ganztagsangeboten, die Struktur und Qualität von Nachmittagsunterricht bzw. individuellen Lernzeiten, DAZ-Angebote, die Übermittagsbetreuung und weitere ergänzende Angebote wie AGs und ähnliches. Die überkommene gymnasiale Studienratsperspektive auf das, was „handfeste“ Bildungsangebote angeht, reicht heute m.E. wirklich nicht mehr aus. Denn was bitte soll man mit dem Attribut „handfest“ noch anfangen angesichts der sozialen, familialen und individuellen Veränderungen und Ausdifferenzierungen in der Schüler*innenschaft Münsters, auch der gymnasialen? Und was wären denn unter diesen Vorzeichen „nicht handfeste“ Bildungsangebote? Nebenbei: Was die etwas abfällig genannten so genannten „Reiseprogramme“ oder die „Europaschule“ angeht, empfehle ich dem Geschichts- und Lateinlehrer dringend, Kolleg*innen der modernen Fremdsprachen zu konsultieren…
Dass am Ende auch noch die Forderung nach einer möglichst breiten Vielfalt von Fächerangeboten mal eben mit den wohl nicht zu bestreitenden Anforderungen an Differenzierung und individuelle Förderung vermischt wird, sorgt auch nicht gerade für Klarheit. Da geht doch recht vieles durcheinander bzw. bleibt oberflächlich.
Wirklich ärgerlich an dem Artikel aber ist, dass der Autor letztendlich pro domo, nämlich als Beschäftigter an einem der großen Gymnasien Münsters, argumentiert. Die teilweise explizite Kritik an einzelnen Schulen und auch Schulleitungen und deren Entscheidungen ist zwar inhaltlich durchaus diskutierbar, aber für mich als ebenfalls im schulischen Rahmen Tätigen (und zwar nicht an einem der „kleinen Gymnasien“…) sehr grenzwertig. Zumal diese Kritik nur glaubwürdig und akzeptabel wäre, wenn die von Herrn Jung aufgeführten Kriterien und Argumente in all ihrer Fragwürdigkeit nicht – subtil oder auch recht offen – vor allem dem eigenen schulischen System das Wort reden würden.
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