Die Kolumne von Michael Jung | Münster fehlt eine Erinnerungskultur


Münster, 12. Dezember 2021
Guten Tag,
die Aufregung in Hiltrup und Handorf war groß. Die neuen grünen Bezirksbürgermeister hatten die Feiern zum Volkstrauertag am Ehrenmal abgesagt und wollten stattdessen an anderer Stelle Gedenkfeiern etablieren. Bei diesen Feiern sollten die Zwangsarbeiter:innen aus der Zeit der NS-Diktatur im Mittelpunkt stehen. Vereine reagierten mit Empörung und nahmen die etablierte Veranstaltung selbst in die Hand.
So blieb alles wie gehabt, und der grüne Bezirksbürgermeister aus Hiltrup fand sich als Zuschauer bei der bis dahin eigenen Veranstaltung wieder. Die Hiltruper WN-Lokalredaktion jubilierte: Die Veranstaltung sei „gerettet“. Man könnte das für eine Lokalposse halten, doch wieder steckt mehr dahinter.
Zum einen geht es um den Kampf um die kulturelle Hegemonie in den Außenstadtteilen Münsters. Die CDU, die sich rasch zur Anwältin der bestehenden Veranstaltungen aufschwang, versucht an der Seite der Traditionsbataillone zu verteidigen, was bewährte Praxis zu sein scheint.
Die grünen Bezirksbürgermeister, in beiden Fällen durch CDU-interne Querelen in ihr Amt gekommen, ohne eine parlamentarische Mehrheit zu haben, setzen eine Duftmarke. Und das taten sie mit einigem Wums und viel Dilettantismus.
Machtwille ist kein Konzept
Im Gefühl gewonnener Macht, aber ohne Strategie und ohne jeden Versuch von Gesprächen vorab brachten sie eine Neuerung auf den Weg, um dann krachend zu scheitern. Machtwille allein ist eben noch kein Konzept. Typisch für den aktuellen Kampf um die kulturelle Hegemonie in der Stadt ist auch der Befund: Er wird von CDU und Grünen ausgetragen. Andere politische Kräfte stehen marginalisiert auf der Zuschauertribüne.
Zum anderen geht es um die Sache. Der aber haben die beiden grünen Bezirksbürgermeister mit ihrem brachialen Vorgehen einen Bärendienst erwiesen. Der Volkstrauertag ist durchaus ein diskussionswürdiger Gedenktag. Ursprünglich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges geschaffen zur Erinnerung an die Kriegstoten, wird er noch immer maßgeblich vom Volksbund Kriegsgräberfürsorge gestaltet und getragen. Nachdem die Nationalsozialisten ihn zum „Heldengedenktag“ umgewandelt und auf den März verlegt hatten, findet er seit den 1950er-Jahren als stiller Gedenktag wieder im November statt.
Seit dem generationellen Ausscheiden der Kriegsgeneration ist er stärker an den Rand gesellschaftlicher Wahrnehmung gerückt. Das heißt aber auch, dass er (in Münster) kaum grundlegende Modifikationen erfahren hat. Die Vergangenheitspolitik der 1950er-Jahre wird hier noch immer reproduziert. Und in dieser Logik gibt es vor allem „Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“. Das sind die typischen Formeln der Nachkriegsgesellschaft, in denen sich alle irgendwie in eine große Opfergemeinschaft einfügen durften, und in der es keine Täter:innen zu geben schien.
Schaut man sich nun an, wie in Berlin die Verfassungsorgane den Volkstrauertag begehen, dann fällt eines auf: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat in seiner Rede zum diesjährigen Volkstrauertag die Hälfte der Redezeit für die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges in Osteuropa und die Opfer der Shoah verwendet. Dann hat er einen Bogen geschlagen zu der Distanz, mit der die deutsche Gesellschaft heute Militärischem gegenübersteht.
In den Stadtteilen: Rituale der 1950er-Jahre
Vor diesem Hintergrund fand der Bundespräsident zu einer Würdigung der demokratischen Parlamentsarmee und ihrer Einsätze. Sprachlosigkeit gegenüber der Bundeswehr gelte es zu überwinden, und die Gedenkorte der Vergangenheit sollten zu Orten der Versöhnung werden, sagte der Bundespräsident. Von den Soldaten der NS-Wehrmacht sprach er mit keinem Wort.
Vergleicht man nun die Rede des Bundespräsidenten mit der in Münsters Außenstadtteilen geübten Praxis, sich mit wehenden Vereinsfahnen und Reservistenverbänden an sogenannten Ehrenmalen zu treffen, dann fällt ein gewisser Unterschied auf. Münsters Volkstrauertag unterscheidet sich in den Stadtteilen wenig von Ritualen der 1950er-Jahre (oder denen der Weimarer Republik).
Bei ihrem Weg von der Mitte in eine Aufmerksamkeitsnische der Gesellschaft haben sich die Rituale mehr oder weniger konserviert und unverändert erhalten. Die Gesellschaft aber hat sich verändert – ebenso wie die historischen Bewertungen. Während die Nachkriegsgesellschaft an der kunstvoll konstruierten Legende von der „sauberen Wehrmacht“ festhielt, steht unter Fachleuten spätestens seit der Wehrmachtsausstellung vor 25 Jahren fest: Die Wehrmacht war nicht nur ein williges Instrument der NS-Rassen- und Vernichtungspolitik, sie war dabei selbst zentrale Akteurin.
Das bedeutet nicht, dass alle Soldaten der Wehrmacht persönlich Täter waren, aber es bedeutet eben das, was der Traditionserlass der Bundeswehr bereits seit 1982 festschreibt: Die Wehrmacht kann einer demokratischen Armee und einem demokratischen Land keine Tradition stiften, sie kann kein positiver historischer Bezugspunkt sein.
Kein Platz für eine demokratische Gesellschaft
Vor diesem Hintergrund sollte eigentlich klar sein, dass die sogenannten „Ehrenmale“ auch keine geeigneten Schauplätze sind, an denen die Stadtgesellschaft zu offiziellen Gedenkfeiern zusammenkommen kann. Dort, wo schon die Nazis ihre Heldengedenktage zelebrierten, ist sicher kein Platz für eine demokratische Gesellschaft.
Und die Ehrenmale ehren eben nicht deren Soldaten – geschweige denn die zahllosen Opfer des Krieges. Kann man der Millionen Opfer des vom Deutschen Reich maßgeblich herbeigeführten Ersten Weltkrieges und des nationalsozialistischen Rassekrieges an einem Ort gedenken, der im Prinzip ein Ort der Täter ist?
Wenn die Armee des Kaiserreichs und die NS-Wehrmacht für die Bundeswehr keine Tradition stiften können, sind solche Orte auch ganz sicher falsch, um des Einsatzes einer demokratischen Parlamentsarmee zu gedenken. Und nur weil etwas schon lange stattfindet, ist es nicht deswegen schon gut und bewahrenswert.
Die Stadt Münster hat daraus, dank des Einsatzes des Stadtvorsitzenden des Volksbunds, Wolfgang Heuer, vor einiger Zeit Konsequenzen gezogen und das Gedenken von einem „Ehrenmal“ an der Promenade wegverlegt in den Rathausinnenhof. Vermutlich ist das bei den meisten Menschen unter dem Radar geblieben, aber das liegt auch daran, dass Heuer anders vorgegangen ist als die grünen Bezirksbürgermeister: Er hat es nicht dekretiert, sondern hinter den Kulissen nach konsensualen Lösungen gesucht.
Keine erkennbare Gedenkkultur
Seither hat zumindest der städtische Volkstrauertag nichts mehr zu tun mit den Rassekriegern der Wehrmacht, sondern findet auf dem Platz des Westfälischen Friedens statt. Es wird Zeit, dass diese Erkenntnis sich auch zur CDU in den Stadtteilen und den dortigen Bewahrern einer falschen Tradition herumspricht.
Deutlich wird an alledem, dass es in Münster keine auch nur ansatzweise erkennbare Gedenkkultur gibt. Die Ankündigung großer Festlichkeiten zum 375-jährigen Jubiläum des Westfälischen Friedens 2023 kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass unsere Stadt eine große Leerstelle hat, wo es um historisches Gedenken im öffentlichen Raum geht.
Die seit Jahren von der Kulturverwaltung angekündigten Konzepte für die Denkmäler auf der Promenade sind noch immer nicht umgesetzt. Der Zwinger als einer der durchaus zentralen Orte von NS-Endphaseverbrechen in Münster ist außer einer Gedenkplatte kein Ort, an dem sich die Stadtgesellschaft in irgendeiner Weise mit NS-Verbrechen auseinandersetzen würde.
An der Stelle, an der sich die Münsteraner Jüdinnen und Juden zur Deportation versammeln mussten, gibt es seit den 1980er-Jahren ebenfalls eine Metallplatte, die nur sieht, wer um die Bedeutung des Ortes weiß. Bei den Gräbern der Zwangsarbeiter:innen des Ersten und des Zweiten Weltkrieges sieht es ähnlich aus.
Bei den Gedenktagen dasselbe Bild: Das in den 1980er-Jahren aufgekommene Gedenken an die Verbrechen der Pogromnacht ist Sache der Jüdischen Gemeinde, die zur Gedenkfeier einlädt. Am 1995 deutschlandweit eingeführten Gedenktag für die Shoah versammeln sich Menschen und können hoffen, dass einige Schulen ein Programm vorbereitet haben.
Bitte ohne Kostenaufwand
Und am Tag der Deutschen Einheit findet im Rathaus ein Treffen mit Vertreter:innen von Münsters thüringischer Partnerstadt Mühlhausen statt, das ohne jede Wirkung oder Bedeutung ist. Kurz und gut – alles auf dem niedrigsten Level, bitte vor allem ohne Kostenaufwand für die Stadt. Und die städtischen Vertreter:innen kommen kurz mal vorbei fürs Pressefoto, wenn überhaupt. Unsere Stadt besitzt keine Erinnerungskultur – weder an den Gedenktagen noch an den Orten. Und erkennbar besitzt es auch keine Priorität, sich über die Gestaltung der Orte Gedanken zu machen.
Die wichtige Arbeit der Villa ten Hompel und das Engagement vieler Schulen und vieler Ehrenamtlicher kann kaum darüber hinwegtäuschen, dass Münster an zentralen Gedenktagen von nationaler Bedeutung (Pogromnacht, Holocaust-Gedenktag, Volkstrauertag, Tag der Deutschen Einheit) es einfach nicht schafft, Veranstaltungen zu organisieren, die von mehr als achtzig oder hundert Menschen frequentiert werden und für die Stadtgesellschaft eine relevante Bedeutung haben.
Jetzt können Sie einwenden: Das sei vielleicht anderswo auch so. Mag sein – aber 40 Kilometer von hier entfernt zeigt die Stadt Dortmund zum Beispiel jedes Jahr mit dem Gedenken an die Karfreitagsmorde 1945, dass so etwas auch ganz anders geht: dass man auch als Stadt erinnern kann an das, was unsere Gesellschaft nicht vergessen will und darf.
Und das eigentlich Schlimme ist: Wenn es den Demokrat:innen in unserer Stadt nicht gelingt, die Orte und die Formen der Erinnerung zu definieren, dann tun es andere. Am Volkstrauertag fanden sich am Train-Denkmal, das insbesondere wegen seiner Bezüge zum kolonialen Völkermord in Namibia noch eine ganz eigene Diskussion verdient hätte, eben auch Zeichen des Gedenkens.
Die Erinnerungslücken füllen andere
Dort hatte jemand serienweise Grablichter aufgestellt mit Aufklebern, die an den „ewigen Bund 1871“ erinnerten. Auch wenn die Formulierung den Titel einer überaus seriösen aktuellen Studie zur Verfassungsgeschichte des Kaiserreichs zitiert, ist klar, dass hier sogenannte Reichsbürger:innen ihr ganz eigenes Gedenken am historischen Ort zelebrieren. Das mag man alles ebenso für eine Posse halten wie die permanenten Aktionen von anderer Seite an diesem Denkmal. Aber der Vorgang zeigt: Wenn die demokratischen Kräfte der Stadt die Erinnerung nicht füllen, dann tun es andere – mit ihrer eigenen Agenda.
Dass das auch ganz ungeniert Unterstützung findet, hat eine CDU-Ratsfrau zuletzt eindrucksvoll bewiesen. Unter Bezugnahme auf den Streit über den Volkstrauertag erinnerte sie in den sozialen Netzwerken an ihren Großvater. Der habe schon nach dem Ersten Weltkrieg als Baltendeutscher in weißen Einheiten gekämpft. Und in Stalingrad sei er auch dabei gewesen. Ein Leben im Kampf gegen den Bolschewismus, hätte man früher vielleicht gesagt.
Unabhängig davon, was sie privat tut und lässt – als Ratsmitglied dergleichen zu publizieren mit Verweis auf den Streit über den Volkstrauertag, das bedeutet nichts anderes, als eben genau die Akteure der Nazi-Wehrmacht zu Kriegsopfern zu erklären. Sie wird wissen, warum sie politisch damit hervortreten will. Sie fischt im Sumpf. So geht es, wenn die Stadt keine Linie hat beim Gedenken.
Herzliche Grüße
Ihr Michael Jung
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Über den Autor
Michael Jung lebt schon immer in Münster. Er wurde 1976 hier geboren. Er hat an der Uni Münster Latein und Geschichte studiert und in Geschichte promoviert. Heute ist er Lehrer am Annette-Gymnasium in Münster. Michael Jung war viele Jahre in der Politik: Von 2013 bis 2020 war er Fraktionschef der SPD im Rat der Stadt, im Jahr 2020 trat er für die SPD bei den Kommunalwahlen als Oberbürgermeisterkandidat an.
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Wenn schon über Hiltrup geredet oder geschrieben wird wäre es auch an der Zeit, den Unterschied zu anderen Statteilen hervorzuheben. Ich meine im Speziellen den Unterschied zwischen Rumphorst und Hiltrup. In Hiltrup gibt es Glasfaser und Loop. Ein Baugebiet wird zum Schutz von Grünflächen abgesagt, alles dieses findet hier bei uns nicht statt.
Die Kolumne hat das Stichwort Erinnerungskultur in Münster punktgenau auf den Kopf getroffen.
Die Rituale der 50iger Jahre sollten nun wirklich langsam begraben werden.
Und wir sollten uns auf wenige Erinnerungstag konzentrieren, die es wert sind sie wirklich zu feiern.
Von vielen dieser Gedenktage wissen große Teile der Bevölkerung - und der überwiegend jungen Grünen - überhaupt nichts mehr.
Weniger wäre da mehr.
Übrigens ;; auch viele alte Sozigedenktage sind mittlerweile aus der Zeit gefallen.
P.S. und das die CDU sich in den Aussenstadtteilen als Gralshütter der Vergangenheit aufspielt stimmt nur zu sehr. Auch in Albachten in Sachen Friedhof statt Feuerwehrgerätehaus
Matthias Pape
Sehr geehrter Herr Jung, ihre grundweg falsche Darstellung ist umso erschreckender, als dass Sie als Geschichtslehrer eine besondere Verantwortung tragen. Ihre rudimentäre Kenntnis über die verworrene Geschichte Lettlands lässt tief blicken. Dieses Geschichts-Kapitel ist bis heute nach Meinung vieler Experten nicht richtig aufgearbeitet. Das mag daran liegen, dass es kaum Quellen gibt. Ich verfüge über ein umfangreiches Familien-Archiv an Briefen und Dokumenten, in denen viel beschrieben ist, was heute kaum bekannt ist. Im Baltikum gab es bei weitem nicht nur adelige Gutsherren, die die Bevölkerung für sich arbeiten ließen. Es gab viele ganz normale bürgerliche Leute mit Wurzeln aus ganz Europa, die dort bescheiden lebten - Lehrer, Pfarrer, Ärzte, Handwerker, Apotheker, Beamte usw.. Viele waren dorthin im Zuge der Religionskriege oder aufgrund anderer Schicksalsschläge ausgewandert, weil sie in Westeuropa keine Lebensperspektive mehr hatten.
Was meinen persönlichen Familien-Kommentar zum Volkstrauertag angeht, haben Sie diesen zudem bewusst verkürzt und somit falsch wieder gegeben. Sie haben unterschlagen, dass es sich bei meinem Großonkel (nicht Großvater) um einen Pfarrer handelte, der als Halbwaise selbst aus einem tief gläubigen Pfarrershaushalt stammte. Sie haben unterschlagen, dass er als Teenager der Mutter auf dem Sterbebett geschworen hat, Pfarrer zu werden. Sie haben unterschlagen, dass deutsche Pfarrer im Baltikum oft viel für die Menschen getan haben - und zwar für die Deutschstämmigen ebenso wie für die Letten (z.B. unentgeltlich Kinder aus armen Familien in Lesen und Schreiben unterrichtet). Sie haben unterschlagen, dass deutsche Pfarrer im Baltikum verfolgt und deportiert wurden. Ebenso haben Sie unterschlagen, dass mein Großonkel in allen Kriegseinsätzen - kein einziger davon freiwillig - als Seelsorger tätig war. Sie haben unterschlagen, dass mein pazifistisch eingestellter Großonkel wie viele Balten erst von der russischen Regierung, später von der deutschen, zum Kriegsdienst gezwungen wurde. Sie haben unterschlagen, dass er wie viele Pfarrer in allen drei Kriegen, an denen er in seinem kurzen Leben teilnehmen musste, ausschließlich humane und seelsorgerische Dienste geleistet hat. Mein Großonkel hat bis zuletzt verzweifelten und sterbenden Menschen in Stalingrad zur Seite gestanden. Er hat mit diesen Menschen gebetet - und ist dann selbst dort gestorben. So einen Einsatz als Kriegstreiberei und -verherrlichung zu bezeichnen, ist mit Verlaub eine einseitige Geschichtsklitterung. Ihre Kolumne diskreditiert damit übrigens auch Menschen wie z.B. Dr. Kurt Reuber, den Arzt und Pfarrer, dem wir die weltberühmte „Madonna von Stalingrad“ verdanken. In der Berliner Gedächtniskirche können Sie ihm nachspüren. Vielleicht hilft ein Besuch in diesem wichtigen Mahnmal gegen den Krieg dort, ihr Weltbild gerade zu rücken - auch was den Volkstrauertag angeht.
Hier zeigt sich (auch) ein gänzlich anderes Problem: welche Themen lassen sich über soziale Medien diskutieren? Die Kommunikation ist nicht darauf ausgerichtet komplexe Zusammenhänge darzustellen. Es wird ein Post abgegeben und dieser wirkt im digitalen Raum. Zeitversetzt könnten Rückfragen gestellt werden, zwischenzeitlich sind jedoch weitere Posts entstanden. So sammeln und stapeln sich Meinungen, die Kommunikation ist in der Regel nicht dialogisch. Und natürlich schaut man sich nicht in die Augen, so wird schneller ein provokativer Post gesetzt. Wenn die Lokalpolitik das für sich entdeckt und provokative Statements absetzt, wird das Ziel verfolgt in der digitalen Öffentlichkeit Wählerinnen und Wähler hinter den eigenen Positionen zu versammeln. Das mag legitim sein, führt aber zu solchen Situationen wie oben. Zu beobachten ist eine sehr unterschiedliche Medienkompetenz unserer Ratsmitglieder. Während manche eher informieren und sachlich argumentieren, liegt das Hauptanliegen einiger Politiker:innen im Provozieren. Infolge der Provokationen sammeln sich Statements, die nicht selten von Stammtischparolen bis hin zu Beleidigungen reichen. Da reibt man sich verwundert die Augen und fragt sich, wie es um die Vorbildfunktion von Ratsmitglieder:innen bestellt ist? Letztlich: wie medienkompetent sind unser Bürgervertreter:innen? Wer fängt die losgetretenen Chats wieder ein, wenn hier auch undemokratische Kräfte entstehen? Insofern muss sich niemand wundern, wenn ein Post eine auch unerwünschte Wirkung entfacht. Schülerinnen und Schüler lernen diese und ähnliche Zusammenhänge verpflichtend im Medienkompetenzrahmen NRW kennen. Ggf. wäre eine Schulung für den Rat angebracht.
Mitten im Advent fällt Ihnen nichts anderes ein als ein weinerliches Lamento über die Gestaltung des Volkstrauertages in Hiltrup? Das nenne ich mal eine verwegene Erinnerungskultur!
Herr Vorholt, „weinerliches Lamento“ und „verwegen“ sind nicht gerade die versöhnlichen Worte, welche man in der Adventszeit wählen sollte. Und gerade im Advent als Zeit der Versöhnung ist es doch mehr als angebracht, über eine angemessene Erinnerungskultur zu diskutieren, um den Millionen von Opfern eines der schlimmsten Angriffskriege der Menschheit zu gedenken. So oder so sollten wir doch hier konstruktiv diskutieren, um eine Einigung zu finden. Lässt man hingegen nur den eigenen Zorn freien Lauf, trägt dies wenig zur gesellschaftlichen Debatte bei und ist gerade bei einem solchen Thema sogar unter Umständen sehr verletzend.
Ein wichtiger Beitrag zu einer vernachlässigten Debatte. In der Darstellung fehlten allerdings die immer wieder durch (die) Skulptur Projekte gegebenen Anstöße, sich Fragen des Gedenkens zu stellen. So hätte von Hans Haackes Zwilling des 70/71er „Mäsentempels“ im Jahr 1997 bis zu Lara Favarettos Kommentar des Train-Denkmals 2017 mit ihrem „Momentary Monument – The Stone“ Erwähnung finden müssen.
Ein wichtiger Beitrag zu einer vernachlässigten Debatte. In der Darstellung fehlten allerdings die immer wieder durch (die) Skulptur Projekte gegebenen Anstöße, sich Fragen des Gedenkens zu stellen. So hätte von Hans Haackes Zwilling des 70/71er „Mäsentempels“ am Landeshaus im Jahr 1997 bis zu Lara Favarottis „Momentary Monument“, das 2017 das Train Denkmal in den Blick nahm, eine ganze Reihe von künstlerischen Auseinandersetzungen mit Münsters Gedenkkultur Erwähnung finden müssen.
Eine inhaltliche Korrektur: das Gedenken zum Tag der deutschen Einheit findet schon lange nicht mehr an diesem Tag selbst statt (3. Oktober), sondern am Vorabend, unabhängig was dies dann für ein Wochentag ist. Die ursprünglich gut besuchte und wahrgenommene Feierstunde ist einem Fahrradrennen gewichen. Herrn Jungs Kolumne hat neben dem inhaltlichen Wert noch etwas erreicht: Gegendarstellungen waren zu erwarten und sind willkommene Katalysatoren, sie fördern den überfälligen Diskurs zu diesem Thema in der Stadt des Westfälischen Friedens.
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