Die Kolumne von Ludwig Lübbers | Arbeit schafft Chancen

Müns­ter, 26. Juni 2022

Guten Tag,

wenn es um Selbst­ver­wirk­li­chung oder Berufs­wün­sche geht, haben jun­ge Men­schen Träu­me, auch jun­ge Men­schen mit Behin­de­rung. Ich träum­te in mei­nen jun­gen Jah­ren davon, Mau­rer oder Schrei­ner zu wer­den, also einen hand­werk­li­chen Beruf zu erler­nen. Lei­der hol­te mich die Rea­li­tät als Mensch ohne Hän­de und Trä­ger einer Bein­pro­the­se irgend­wann ein. Aber war­um soll­te nicht auch ein Bein­pro­the­sen­trä­ger Pilot wer­den oder ein Mensch ohne Hän­de Taxifahrer? 

Ich wün­sche mir, dass wir alle krea­ti­ver und soli­da­ri­scher mit sol­chen Bedürf­nis­sen umge­hen, um Ent­wick­lungs- und Bil­dungs­chan­cen von Men­schen mit Behin­de­rung zu ver­bes­sern. In einem Fern­seh­in­ter­view vor etwa 30 Jah­ren sag­te ein Pro­fes­sor von mir, mei­ne Chan­cen auf dem Arbeits­markt hin­gen davon ab, wie „ver­dor­ben“ unse­re Gesell­schaft sei. Wie mein­te er das? 

Mein­te er, dass die Gesell­schaft noch an alten Nor­men fest­hält und Men­schen mit Behin­de­rung wie auch deren Fami­li­en zwangs­läu­fig eine Rol­le zuweist? Eine Rol­le, die in Men­schen mit Behin­de­rung nur Hilfs­be­dürf­ti­ge sieht und ihnen den Zugang zum ers­ten Arbeits­markt ver­wehrt? Das es also letzt­end­lich immer noch Hür­den bei der Inte­gra­ti­on von Men­schen mit Behin­de­rung gibt? 

Heu­te haben häu­fig Controller:innen und Unternehmensberater:innen das Zep­ter in Fir­men über­nom­men, indem sie Unter­neh­mens­ent­schei­der bera­ten. Sie bewer­ten Ein­spar­po­ten­zia­le höher als die Erhal­tung von Arbeits­plät­zen, mit dem Argu­ment, die Wett­be­werbs­fä­hig­keit zu bewah­ren. Ein Mensch mit Behin­de­rung passt nicht so recht in das Sche­ma der Con­trol­ling-Abtei­lung. Es sieht vor, nur auf die Zah­len zu schauen. 

Noch immer auf der Mitte des Weges

Men­schen mit Behin­de­rung stel­len für die­sen Berufs­typ und damit auch für die Chefs eine Her­aus­for­de­rung dar, denn in ihrem Fall ist es wich­tig, auf die per­sön­li­chen Bedürf­nis­se ein­zu­ge­hen. Das kos­tet Zeit und macht die Situa­ti­on unter Umstän­den kom­pli­zier­ter. Men­schen mit Behin­de­rung soll­ten die­se Chan­ce aber bekom­men, auch wenn es kom­pli­ziert und mit büro­kra­ti­schen Hür­den ver­bun­den ist. Sie haben das Recht, selbst­be­stimmt zu leben und ihre Per­sön­lich­keit zu ent­fal­ten. Sie haben das Recht, ihre beruf­li­che Zukunft zu pla­nen und zu gestalten. 

Zugleich ist dies aber auch eine Her­aus­for­de­rung für uns als Gesell­schaft. Wir müs­sen Rah­men­be­din­gun­gen schaf­fen, die eine erfolg­rei­che Inklu­si­on in allen Lebens­be­rei­chen ermög­lich. Im Ver­gleich zu frü­her hat sich vie­les zum Posi­ti­ven ver­än­dert. Wir befin­den uns jedoch noch immer in der Mit­te des Weges. 

Vor allem die beruf­li­che Inklu­si­on ist eine beson­de­re Her­aus­for­de­rung. In einer leis­tungs­ori­en­tier­ten Gesell­schaft kön­nen vie­le Men­schen mit Behin­de­rung­nicht so ein­fach mit­hal­ten. Schon vie­le Men­schen ohne Behin­de­rung mer­ken, dass die Arbeits­ver­dich­tung und der Leis­tungs­druck in den ver­gan­ge­nen Jah­ren stark zuge­nom­men haben. 

Ein Indiz dafür ist zum Bei­spiel, dass psy­chi­sche Erkran­kun­gen häu­fi­ger gewor­den sind, auf dem Arbeits­markt herrscht eine Ellen­bo­gen­men­ta­li­tät. Jun­ge Men­schen mit psy­chi­schen und geis­ti­gen Beein­träch­ti­gun­gen haben im pri­vat­wirt­schaft­li­chen Sek­tor unter die­sen Bedin­gun­gen kaum eine Chance. 

Die­se Men­schen bringt man daher häu­fig im soge­nann­ten zwei­ten Arbeits­markt unter, zum Bei­spiel bei der Lebens­hil­fe oder in einer ande­ren Werk­statt für Men­schen mit Behin­de­rung. Es ist wich­tig, die­sen Men­schen einen struk­tu­rier­ten Tages­ab­lauf zu geben, sie sozi­al ein­zu­bin­den und ihre Fami­li­en zu ent­las­ten. Der zwei­te Arbeits­markt kann jedoch auch ein Nach­teil sein, wenn Men­schen den Wunsch haben, sich selbst zu verwirklichen.

Es braucht größere Anstrengungen

Auf dem zwei­ten Arbeits­markt ver­dient man wenig. Damit Men­schen die­sen Arbeits­markt ver­las­sen kön­nen, müs­sen alle Akteur:innen sich anstren­gen. Controller:innen zum Bei­spiel soll­ten auch das Gemein­wohl im Auge behalten. 

Vie­le Fir­men wer­den ihrer Ver­ant­wor­tung nicht gerecht. Sie sind oft erst dann bereit, einen Men­schen mit Behin­de­rung zu beschäf­ti­gen, wenn jemand aus dem eige­nen Betrieb einen Unfall hat und man die­sen Men­schen nicht ver­lie­ren möchte. 

Die im Betrieb ent­stan­de­nen Bezie­hun­gen sind für vie­le Fir­men ein Motiv, um geeig­ne­te Rah­men­be­din­gun­gen für die­se Men­schen zu schaf­fen und staat­li­che Zuschüs­se oder Hilfs­mit­tel zu beantragen. 

Anders sieht es bei Men­schen mit Behin­de­rung aus, die neu auf dem Arbeits­markt sind, etwa nach dem Schul­ab­schluss. Damit sie erfolg­reich im ers­ten Arbeits­markt bestehen kön­nen, bezie­hungs­wei­se über­haupt einen Zugang bekom­men, braucht es grö­ße­re Anstrengungen. 

Ein grund­le­gen­der Erfolgs­fak­tor ist die Qua­li­fi­ka­ti­on der Betrof­fe­nen. Ande­re Fak­to­ren sind Auf­klä­rung und ver­trau­ens­bil­den­de Maß­nah­men, um Unter­neh­men zu überzeugen.

Umge­kehrt fürch­ten vor allem mit­tel­stän­di­sche Unter­neh­men, Men­schen mit Behin­de­rung in Kri­sen­si­tua­tio­nen nicht mehr ent­las­sen zu kön­nen. Die staat­li­chen Hür­den sind hoch. 

Ökonomische Strafen für Firmen

Sie mer­ken, es gibt eine gro­ße Band­brei­te an Fak­to­ren, die beein­flus­sen, ob Men­schen mit Behin­de­rung einen Arbeits­platz fin­den. Auch der Staat ver­fügt hier über Instru­men­te, die einen Bei­trag zu Erhö­hung der Beschäf­ti­gungs­quo­te die­ser Men­schen leis­ten können.

Liegt in Unter­neh­men die Beschäf­ti­gungs­quo­te von Men­schen mit Behin­de­rung unter fünf Pro­zent, müs­sen sie in der Regel eine Aus­gleichs­ab­ga­be zah­len. Das bedeu­tet: Das Unter­neh­men wird zwar öko­no­misch bestraft, kann sich dadurch jedoch von der eigent­lich ver­pflich­ten­den Beschäf­ti­gungs­quo­te freikaufen.

Es gibt aller­dings Aus­nah­men: Für Kon­zer­ne oder Schu­len gel­ten ande­re Regeln. Im Fall der Schu­len ermit­telt man die Behin­der­ten­quo­te auf Lan­des­ebe­ne. Man nimmt die Sum­me aller Lan­des­be­diens­te­ten (etwa Lehrer:innen, Polizist:innen oder Richter:innen) und berech­net dar­aus, wie groß der Anteil von Men­schen mit Behin­de­rung sein muss. Ist die Quo­te ins­ge­samt erfüllt, bedeu­tet das aber nicht, dass das auch in jeder Behör­de oder an jeder ein­zel­nen Schu­le der Fall ist. 

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An vie­len Schu­len ist die Behin­der­ten­quo­te nicht erfüllt, obwohl es hier beson­ders wich­tig wäre. Schu­len sind her­vor­ra­gen­de Mul­ti­pli­ka­to­ren. Sie kön­nen ein Ver­ständ­nis für das The­ma vermitteln.

Ein Bericht, der jedes Jahr dem Land­tag vor­ge­legt wird, könn­te hier mehr Auf­schluss über die Situa­tio­nen aller Beschäf­tig­ten mit Schwer­be­hin­de­run­gen an Schu­len des Lan­des Nord­rhein-West­fa­len geben. Doch der Bericht ist nicht öffent­lich zugäng­lich. Ein­sicht bekommt man nur auf Antrag beim Peti­ti­ons­aus­schuss der Lan­des­re­gie­rung. Als gin­ge es hier um ein Staatsgeheimnis. 

Viel­leicht liegt es auch dar­an, dass die­se Vor­ge­hens­wei­se der Grund­idee die­ses Instru­ments wider­spricht. Im Prin­zip möch­te der Gesetz­ge­ber mit der Aus­gleichs­ab­ga­be Fir­men vor Ort einen Anreiz geben, Men­schen mit Behin­de­rung zu beschäf­ti­gen. Soll­ten nicht auch Schulleiter:innen einen Anreiz haben, Men­schen mit einer Behin­de­rung eine fai­re Chan­ce zu geben, ins Berufs­le­ben zu starten? 

Der Rahmen bewirkt das Gegenteil

Als Sozi­al­wis­sen­schaft­ler und Betrof­fe­ner beschäf­tigt mich die­se Fra­ge schon seit Län­ge­rem. Als ver­be­am­te­ter Leh­rer, der hin­ter die Kulis­sen schau­en kann, kom­me ich lei­der zu einer erstaun­li­chen Erkennt­nis: In Schu­len gibt es gesetz­li­che Rah­men­be­din­gun­gen, die genau das Gegen­teil bewirken. 

So ste­hen mir zum Bei­spiel eine regu­lä­re Pflicht­stun­de­ner­mä­ßi­gung von vier Unter­richts­stun­den zu, doch sie gehen ein­sei­tig zulas­ten mei­ner Schu­le. Die Stun­den feh­len im Stun­den­plan. Auf­grund der Fol­ge­schä­den mei­ner Behin­de­rung und einer Leuk­ämie-Erkran­kung konn­te ich wei­te­re vier Unter­richts­stun­den bean­tra­gen. So feh­len ins­ge­samt acht Stun­den pro Woche. 

Für eine Schul­lei­tung ist das nicht unbe­dingt ein Anreiz, wei­te­re Lehr­kräf­te mit Behin­de­rung zu beschäf­ti­gen. Es gibt zwar auch aus ande­ren Grün­den Ent­las­tungs­stun­den, die eine Schu­le tra­gen muss. Aber im Fal­le von Men­schen mit Behin­de­rung ist das kon­tra­pro­duk­tiv. Es macht sie als Arbeits­kräf­te unattraktiver. 

Die Pflicht­stun­de­ner­mä­ßi­gun­gen für Lehr­kräf­te mit Behin­de­run­gen sol­len einen Nach­teil aus­glei­chen, um den Betrof­fe­nen eine län­ge­re Lebens­ar­beits­zeit zu ermög­li­chen. Denn die Gefahr, in Früh­ren­te gehen zu müs­sen, ist sehr groß. Pro­ble­me sind oft die Fol­ge­schä­den von Behinderungen.

Die Con­ter­gan-Schä­den sind dafür ein gutes Bei­spiel: Das Schlaf­me­di­ka­ment Con­ter­gan der Fir­ma Grü­nen­tal hat in den 1960er-Jah­ren bei sehr vie­len Kin­dern Fehl­bil­dun­gen ver­ur­sacht. Die geschä­dig­ten Men­schen haben in den ver­gan­ge­nen Jah­ren eine her­vor­ra­gen­de Öffent­lich­keits­ar­beit geleistet.

Die Grup­pe for­der­te, die Ren­ten mas­siv zu erhö­hen, damit auch für sie ein selbst­be­stimm­tes Leben im ver­früh­ten Ren­ten­al­ter mög­lich ist. Sie setz­ten sich mit ihren For­de­run­gen durch. Fol­ge­schä­den einer Behin­de­rung füh­ren dazu, dass die betrof­fe­nen Men­schen mehr Geld brau­chen. Im Fall der Con­ter­gan-Geschä­dig­ten ist das heu­te anerkannt. 

Ein Vorschlag zur Lösung

Ich selbst ste­cke in einer ähn­li­chen Situa­ti­on wie die Con­ter­gan-Geschä­dig­ten. Ich habe mir die Fra­ge gestellt, ob nicht auch alle ande­ren Men­schen, die mit einer Behin­de­rung auf­ge­wach­sen sind, mehr Ren­te bekom­men sollten. 

Ich habe eine Anfra­ge an den Peti­ti­ons­aus­schuss der Bun­des­re­gie­rung geschickt. Es geht ja schließ­lich um staat­li­che Leis­tun­gen, nicht um Ent­schä­di­gungs­zah­lun­gen der Fir­ma Grü­nen­tal. Die Ant­wort erstaun­te mich sehr. Die Bun­des­re­gie­rung defi­niert die Con­ter­gan-Geschä­dig­ten als Sondergruppe. 

Darf der Staat zwi­schen Men­schen, die in ähn­li­chen Situa­tio­nen leben, Unter­schie­de machen, wenn es dar­um geht, Leis­tun­gen zu zahlen? 

Ich freue mich sehr über den Erfolg der Con­ter­gan-Geschä­dig­ten, denn er zeigt, wie erfolg­reich hart­nä­cki­ge Öffent­lich­keits­ar­beit sein kann. Die Grup­pe hat Lob­by­ar­beit betrie­ben. Und das ist not­wen­dig, wenn es dar­um geht, die Bedin­gun­gen für Men­schen mit Behin­de­rung zu verbessern. 

Ein Vor­schlag, um das Pro­blem abzu­mil­dern, könn­te sein, es so zu machen wie bei der Par­tei­en­fi­nan­zie­rung. Man könn­te auch die kari­ta­ti­ven Ver­bän­de mit mehr Geld aus­stat­ten. Ich wür­de den Vor­schlag ger­ne mit Ihnen diskutieren. 

Sicher gibt es noch ande­re gute Ideen, wie man es Men­schen mit Behin­de­rung auf dem Arbeits­markt leich­ter machen könn­te. In mei­nem Fall ist es gelun­gen. Ich gehe mei­nem Beruf als Leh­rer nach und bin seit Kur­zem auch Patent­in­ha­ber für ein Stütz­rad­sys­tem für Pedelecs. Dank die­ser Erfin­dung bin ich wie­der in der Lage, bei gutem Wet­ter Fahr­rad zu fah­ren und mich fit zu hal­ten. Ich füh­re trotz vie­ler Hil­fe­stel­lun­gen gefühlt noch ein eigen­stän­di­ges Leben.

Im ver­gan­ge­nen Jahr habe ich mir mei­nen per­sön­li­chen Lebens­traum erfüllt und mir einen gebrauch­ten Wohn­wa­gen auf Sar­di­ni­en gekauft. Dort wer­de ich mei­ne Som­mer­fe­ri­en ver­brin­gen. Eine Rei­se­as­sis­tenz beglei­tet mich. Für mich ist das ein gro­ßer Erfolg. Die­ser Erfolg macht mir auch Hoffnung. 

Ihr
Lud­wig Lübbers

Über den Autor

Lud­wig Lüb­bers hat an der Uni Müns­ter Mathe­ma­tik und Sozi­al­wis­sen­schaf­ten stu­diert und anschlie­ßend das Refe­ren­da­ri­at absol­viert. Heu­te arbei­tet er als Leh­rer am Frei­herr-vom-Stein-Gym­na­si­um. Von 1997 bis 2000 initi­ier­te und betreu­te er das Pro­jekt „Han­di­cap im Inter­net“, eine Platt­form, auf der sich Men­schen mit Behin­de­rung ver­net­zen und aus­tau­schen konn­ten. In der städ­ti­schen Kom­mis­si­on zur För­de­rung der Inklu­si­on (KIB) setzt er sich heu­te für die Inter­es­sen von Men­schen mit Behin­de­rung in Müns­ter ein. 2021 ver­öf­fent­lich­te er sein ers­tes Buch: „L’Ultima Spi­ag­gia – Mei­ne letz­te Hoff­nung“. In sei­nen RUMS-Kolum­nen schreibt er über Bar­rie­ren und Bar­rie­re­frei­heit, über den All­tag von Men­schen mit Behin­de­rung und über Inklu­si­on in Münster.

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