Die Kolumne von Ludwig Lübbers | Ein selbstbestimmtes Leben


Münster, 1. Mai 2022
Guten Tag,
in der ersten Kolumne meines Lebens möchte ich mich kurz vorstellen. Mein Name ist Ludwig Lübbers. Ich bin 52 Jahre alt, und ich habe von Geburt an eine Behinderung. Ich habe keine Hände und nur ein Bein. Die Gründe dafür sind nicht bekannt. Ich spreche daher auch gerne von einer Laune der Natur. Diese Laune hat aber nicht verhindert, dass ich ein selbstbestimmtes Leben führe.
Ich arbeite als Lehrer an einem Gymnasium in Münster. Ich unterrichte die Fächer Sozialwissenschaften und Mathematik. In meiner Freizeit habe ich ein Stützradsystem für Pedelecs entwickelt, das kurz vor der Patentanmeldung steht. Im vergangenen Jahr habe ich ein Buch über meine Lebensgeschichte geschrieben. Außerdem engagiere ich mich schon seit Jahren für die Selbstbestimmungsrechte von Menschen mit Behinderungen. Ich bin Mitglied der Kommission zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen (KIB) der Stadt Münster.
Dass ich mein Leben so führen kann, war nicht immer selbstverständlich. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, im Landkreis Grafschaft Bentheim. Dort habe ich den örtlichen Kindergarten und die Grundschule besucht. Möglich war das erst, nachdem meine Mutter die Behörden überzeugt hatte. Sie hatten Bedenken.
Wieder stand etwas im Weg
Bedenken gab es auch, als sich nach der Grundschule die Frage stellte, ob ich auf eine normale Schule gehen und Abitur machen kann. Wieder überzeugte meine Mutter die Behörden. Zur weiterführenden Schule fuhr mich jeden Tag ein Taxi.
Nach dem Abitur lag mir gefühlt die Welt zu Füßen. Doch wieder stand etwas im Weg. Um studieren zu können, brauchte ich ein spezielles Auto. Nach einer dreijährigen juristischen Auseinandersetzung mit dem Land Niedersachen gewann meine Mutter auch diesen Kampf. Aber auch danach ging es nicht reibungslos weiter. Das Studium begann im Herbst. Der Wagen kam erst im November. Und ich hatte noch keinen Führerschein.
Eine Wohnung fehlte ebenfalls. In den ersten Monaten meines Studiums fuhr mich daher ein Zivildienstleistender nach Münster. Für die Behörde war das ein teures Vergnügen und für mich eine anstrengende Zeit. Ich kannte so gut wie niemanden in der Stadt, und weil ich morgens kam und abends hundert Kilometer zurückfahren musste, änderte sich das nur langsam.
Nachdem ich in Münster eine behindertengerechte Wohnung gefunden und meinen Führerschein in der Tasche hatte, nahm ich das Studium in Angriff.
Unterstützung bekam ich in dieser Zeit von meiner Familie sowie von Assistent:innen, die ich vom Pflegegeld finanzierte. Ich hatte mir das Puzzle nun so zusammengesetzt, dass ich meinen Weg fortsetzen konnte. Am Ende verlor ich ein halbes Studienjahr. Doch ich kam ans Ziel.
Niemand ist gegen Unfälle gewappnet
Mein Lebensweg war unwahrscheinlich. Aber ich habe gelernt, dass es sich lohnen kann, es nicht gleich hinzunehmen, wenn Menschen sagen: Das geht auf keinen Fall. Und ich habe gelernt, dass ich nicht warten muss, bis andere Probleme lösen, denn dazu bin ich auch selbst in der Lage.
Während des Lehramtstudiums und Referendariats habe ich das Projekt „Handicap im Internet“ entwickelt, eine Plattform, über die sich Menschen mit und ohne Behinderungen auf sogenannten Hilfemärkten austauschen konnten. Es entstand zu Beginn des Internetzeitalters und führte Menschen über das Netz zusammen, lange bevor soziale Medien wie Facebook entstanden.
Die Europäische Kommission förderte das Projekt damals mit 100.000 D-Mark. Für mich war das ein persönlicher Erfolg, auch weil viele so etwas einem behinderten Menschen nicht zugetraut hätten.
Als Lehrer habe ich heute die Möglichkeit, meinen Schüler:innen das Thema von Menschen mit Behinderungen näher zu bringen und sie vielleicht auch für das Leben krisenfester gegen Schicksalsschläge zu machen. Niemand von uns ist gegen Unfälle oder Erkrankungen gewappnet, die sogenannten Lebensrisiken.
Wenn meine Schüler:innen erkennen, dass man nur mit einem Bein und ohne Hände in der Lage ist, erfolgreich sein Leben zu bewältigen, kann das auch ihnen eine neue Perspektive eröffnen.
Mit der Technik wachsen die Chancen
Ich zeige meinen Schüler:innen, welche Hilfsmittel ich nutze, meine elektromechanische Beinprothese, mein umgebautes Auto oder das Smartboard, das ich im Unterricht verwende.
Diese technisch innovativen Ideen ermöglichen Menschen wie mir Selbstbestimmung und damit eine ökonomische Lebensgrundlage. Vielleicht gehören meine Schüler:innen zu denen, die diese Technik entwickeln und erforschen werden.
Mit dieser Technik wachsen die Chancen für Menschen wie mich, ein Leben mit einem Beruf zu führen und weniger auf die Hilfe von Assistent:innen angewiesen zu sein. Es passiert viel auf diesem Gebiet. Die Firma, die mein Auto gebaut hat, gewinnt fast jährlich Innovationspreise. Sie exportiert ihre 80 Produkte in die halbe Welt.
Auch so wird möglich, was andere zunächst für unmöglich hielten. In meiner Kolumne möchte ich darüber erzählen und Ihnen so vielleicht eine neue Perspektive eröffnen.
Technik spielt in meinem Leben eine große Rolle. Das hat nicht nur mit meiner Behinderung zu tun, sondern auch einfach damit, dass ich mich für Technik interessiere. Doch oft hilft auch die Technik nicht weiter. Und auch darum soll es in dieser Kolumne gehen.
In meinem im Leben und im Leben vieler anderer Menschen mit Behinderungen gibt es Probleme, die für die Mehrheit unsichtbar sind. Ein Behindertenparkplatz mit einer Schranke zum Beispiel ist für mich nicht benutzbar. Trotzdem gibt es so etwas. Wie kommt es, dass sogar die Fachleute, die sich um die Belange von behinderten Menschen kümmern, so etwas nicht im Blick haben? Was kann man dagegen machen?
Ein anderes Problem ist: Wo mehr als 20 Menschen arbeiten, müssen Menschen mit Behinderung fünf Prozent der Belegschaft ausmachen. Das ist gesetzlich geregelt. Oft wird diese Quote trotzdem nicht eingehalten.
Menschen mit Behinderungen haben im Alter ein besonderes Risiko zu verarmen. Das betrifft auch mich. Aber im Grunde betrifft es die ganze Gesellschaft.
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Ein Problem sind die Barrieren
Die Wahrscheinlichkeit, dass der Körper irgendwann nicht mehr so funktioniert, wie er sollte, wird mit dem Alter größer. Viele Menschen werden später mit körperlichen Einschränkungen leben müssen. Vielleicht auch schon früher. Ein Unfall kann jeden Tag passieren.
Daher sollte uns alle die Frage interessieren: Was ist es uns wert, dass Menschen mit Behinderungen am Leben teilhaben können?
Die Öffentlichkeit ist bei der Beantwortung dieser Frage wichtig. Denn vielen Menschen ist all das nicht bewusst.
Ein großes Problem sind Barrieren. Doch im Mittelpunkt steht der Mensch. Es geht nicht nur um materielle Bedürfnisse, auch um menschliche.
Die besten Technologien können Nähe und Wärme nicht ersetzen, die von zwischenmenschlichen Beziehungen nun mal ausgehen. Zusammenhalt in der Gesellschaft und Emphatiefähigkeit sind hier die Lösungsansätze, um vielleicht auch die Vereinsamung von Menschen mit Behinderungen zu verhindern und ihnen damit mehr Teilhabe zu ermöglichen.
Im Prinzip handelt es sich hierbei auch um die Grundwerte unserer Demokratie, deren Lebensform uns allen so wichtig ist. Genau diese Lebensform versucht, die von uns gewählten freiheitlichen Grund- und Selbstbestimmungsrechte zu wahren und lädt uns immer wieder zur Teilhabe ein.
Im Grundgesetz steht: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Aber zwischen den Zeilen kann man noch mehr lesen. Mit der Lebensqualität, die wir dieser Gruppe ermöglichen, legen wir auch fest, wie wir selbst in Zukunft leben wollen. Vereinsamt und verarmt oder autonom und selbstbestimmt.
Herzliche Grüße
Ihr Ludwig Lübbers
Über den Autor
Ludwig Lübbers hat an der Uni Münster Mathematik und Sozialwissenschaften studiert und anschließend das Referendariat absolviert. Heute arbeitet er als Lehrer am Freiherr-vom-Stein-Gymnasium. Von 1997 bis 2000 initiierte und betreute er das Projekt „Handicap im Internet“, eine Plattform, auf der sich Menschen mit Behinderung vernetzen und austauschen konnten. In der städtischen Kommission zur Förderung der Inklusion (KIB) setzt er sich heute für die Interessen von Menschen mit Behinderungen in Münster ein. 2021 veröffentlichte er sein erstes Buch: „L’Ultima Spiaggia – Meine letzte Hoffnung“. In seinen RUMS-Kolumnen schreibt er über Barrieren und Barrierefreiheit, über den Alltag von Menschen mit Behinderung und über Inklusion in Münster.
Die RUMS-Kolumnen
Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere sechs Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.
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Eine großartige, mutmachende erste Kolumne lieber Herr Lübbers! Vielen Dank von
Michael Radau
Freue mich auch sehr auf die Kolumne!
Seit sieben Jahren wohnen wir mit unserer Familie in einem Mehrgenerationenhaus mit sehr vielfältigen Menschen, einige auch mit Einschränkungen oder Behinderungen. Ich hatte mir vorher nie über beispielsweise Barrierefreiheit große Gedanken gemacht (obwohl man spätestens, wenn man das erste Mal mit einem Kinderwagen Besorgungen macht, erlebt, welche vermeintlichen Kleinigkeiten in bestimmten Fällen unüberwindbare Hindernisse darstellen können). Das hat sich in den letzten Jahren sehr geändert. Vor allem ist mir klar geworden, dass eine barrierefreie, Teilhabe ermöglichende, Autonomie fördernde Welt für *uns alle* nur Vorteile bringt. Jede:r von uns wird im Laufe des Lebens in unterschiedlichen Situationen wechselnden Einschränkungen gegenüberstehen. Aufzüge, Rampen, elektrisch öffnende Türen beispielsweise ermöglichen ja nicht nur Menschen im Rollstuhl den Zugang, sondern auch Kinderwagen, Rollatoren, Sackkarren, Fahrrädern oder einfach Menschen, die gerade ein Gipsbein haben. Untertitel ermöglichen nicht nur Menschen mit Schwerhörigkeit das Verständnis, sondern auch solchen, für die Sprache eine Fremdsprache ist. Es lassen sich viele weitere Beispiele finden.
Vor allem aber muss es eben normal werden, dass Menschen mit Behinderungen - und alle anderen häufig marginalisierten Gruppen - an allen Aspekten des Lebens der Gesellschaft teilhaben. Dass ich den Umgang mit unseren Nachbar:innen mit Behinderungen erst lernen musste und ich anfangs dabei sehr unsicher war, hat mich im Endeffekt doch geschockt und mir klar gemacht, dass diese - vielfältige - Gruppe in meiner Kindheit einfach nicht Teil der Gesellschaft und eben „anders“ war. In solche Perspektiven hatte ich mich bis dahin nie versetzen müssen, eine solche Perspektivenvielfalt empfinde ich aber inzwischen als äußerst gewinnbringend.
Aus diesem Grund bin ich auch sehr gespannt auf die weiteren Beiträge in dieser Kolumne! Vielen Dank, Herr Lübbers, für den tollen Aufschlag.
Sehr beeindruckende Geschichte lieber Herr Lübbers! Ich freue mich auf die weiteren Kolumnen.
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