Die Kolumne von Carla Reemtsma | Demokratie ist eine Aufgabe

Müns­ter, 5. April 2021

Lie­be Leser:innen,

eine unge­wohn­te Ruhe und Lang­sam­keit hat die Oster­ta­ge bestimmt. Unge­wohnt nicht etwa, weil Ostern in den ver­gan­ge­nen Jah­ren so tru­belig war, oder weil die ver­gan­ge­nen Tage so auf­re­gend gewe­sen wären. Ruhig kommt es mir durch die Abwe­sen­heit empö­rend-ermü­den­der Nach­rich­ten vor, ganz gleich ob zum Infek­ti­ons­schutz oder zu poli­ti­schen Skan­da­len. Nach Wochen der Dau­er-Eil­mel­dun­gen las­sen mich inzwi­schen schon ein paar ereig­nis­lo­se­re Tage dar­an zwei­feln, ob ich wirk­lich nichts ver­passt habe.

Schuld dar­an waren in den ver­gan­ge­nen Mona­ten vor allem zwei Par­tei­en: CDU und CSU. Wäh­rend die Infek­ti­ons­zah­len wie­der in die Höhe schnel­len, hat die Uni­on inner­halb weni­ger Tage eine Hand­voll Abge­ord­ne­te ver­lo­ren. Nicht an das neue Virus, son­dern durch Rück­trit­te nach Skandalen. 

Nach­dem sie sich inmit­ten der Coro­na-Pan­de­mie die Kon­takt­ver­mitt­lung zwi­schen Mas­ken­ein­käu­fern der Lan­des- oder Bun­des­po­li­tik und Mas­ken­fir­men mit Pro­vi­sio­nen im sechs­stel­li­gen Bereich ver­gol­den lie­ßen, ver­lie­ßen die Uni­ons­ab­ge­ord­ne­ten Nüß­lein, Löbel und Haupt­mann ihre Par­tei. In Bay­ern trat mit Alfred Sau­ter einer der wich­tigs­ten CSU-Män­ner zurück, nicht nur wegen Mas­ken son­dern nun offen­sicht­lich auch wegen Ver­stri­ckun­gen um Schnelltests. 

Im glei­chen Atem­zug wur­den die engen Ver­flech­tun­gen meh­re­rer Abge­ord­ne­ter mit Aser­bai­dschan publik. Neben engen Ver­bin­dun­gen zu dem auto­ri­tä­ren Ölstaat pfleg­ten vie­le von ihnen auf­fäl­lig gute Bezie­hun­gen zu orga­ni­sie­ren Klimawandel-Leugner:innen und mach­ten sich für eine laxe­ren Umgang mit Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen stark. Umso belas­ten­der ist das, wenn es sich um einen Poli­ti­ker wie den Staats­se­kre­tär Tho­mas Bareiß han­delt, der in der Bun­des­re­gie­rung für die Ener­gie­wen­de zustän­dig sein sollte.

Das Umfragetief ist symptomatisch

Vor dem Hin­ter­grund die­ser Häu­fung an skan­da­lö­sen Vor­fäl­len wir­ken ande­re Ver­dachts­fäl­le fast harm­los: Nach­dem Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­ter Jens Spahn zunächst Journalist:innen die Bericht­erstat­tung über den Kauf einer 4,125 Mil­lio­nen Euro teu­ren Vil­la im Ber­li­ner Edel­vier­tel Dah­lem unter­sa­gen las­sen woll­te, mach­te spä­ter ins­be­son­de­re sein Kre­dit­ge­ber Schlag­zei­len. Denn der Kre­dit­ge­ber des gebür­ti­gen Müns­ter­län­ders und Bank­kauf­manns Jens Spahn ist die Spar­kas­se West­müns­ter­land – in deren Ver­wal­tungs­rat Spahn 2009 bis 2015 saß. Wäh­rend die Kre­dit­ver­ga­be an amtie­ren­de Ver­wal­tungs- und Auf­sichts­rat­mit­glie­der ver­bo­ten ist, gibt es eine sol­che Rege­lung für ehe­ma­li­ge Mit­glie­der nicht. Könn­te man ja auch mal drü­ber nachdenken.

Es sind also offen­sicht­lich nicht nur die von der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on als „inak­zep­ta­bel lang­sam“ beti­tel­te Impf­kam­pa­gne, die man­geln­den Kon­zep­te für einen Umgang mit der drit­ten Wel­le der Coro­na-Pan­de­mie und die feh­len­de Test-Stra­te­gie, die die Uni­on in ihr aktu­el­les Umfra­ge­tief stür­zen. Das zeigt sich in den Ergeb­nis­sen der Kom­mu­nal­wah­len in Nord­rhein-West­fa­len und Hes­sen und Land­tags­wah­len in Baden-Würt­tem­berg und Rhein­land-Pfalz, bei denen die Uni­on trotz teil­wei­se regio­nal soli­der Coro­na-Bekämp­fung rei­hen­wei­se his­to­risch schlech­te Ergeb­nis­se erzielte. 

Das Umfra­ge­tief ist allen­falls sym­pto­ma­tisch für die ver­schie­de­nen Kri­sen, die die Uni­on zeit­gleich durch­läuft und von denen sie auf kei­ne nen­nens­wer­ten Ant­wor­ten fin­det. Wäh­rend kei­ner der Uni­ons­mi­nis­ter im aku­ten Kri­sen­ma­nage­ment der Coro­na­pan­de­mie eine wirk­lich gute Figur abgibt, rufen die skan­da­lö­sen Berich­te rund um die Mas­ken- und Aser­bai­dschan-Con­nec­tion Erin­ne­run­gen an die Uni­on zu Zei­ten von Spen­den- und Ami­go-Affä­re wach. 

Als Par­tei, die sich ins­be­son­de­re über ihren Sta­tus als Volks­par­tei und das damit ein­her­ge­hen­de gesell­schaft­li­che Grund­ver­trau­en in ihre Regie­rungs- und Kri­sen­fä­hig­keit bei gleich­zei­ti­ger inhalt­li­cher Fle­xi­bi­li­tät defi­niert, sind die aktu­el­len Ent­wick­lun­gen dra­ma­tisch. Wenn die Auf­re­gung über die per­sön­li­che Berei­che­rung ein­zel­ner Abge­ord­ne­ter inmit­ten einer his­to­ri­schen Gesund­heits­kri­se nicht mehr durch gutes Regie­ren kom­pen­siert wer­den kann, bleibt wenig Raum, um poli­ti­sches Ver­trau­en zurückzugewinnen. 

Ver­trau­en könn­te zwar auch durch Poli­tik­kon­zep­te und Ideen für die Bewäl­ti­gung der gesell­schaft­li­chen Her­aus­for­de­run­gen des 21. Jahr­hun­derts gewon­nen wer­den. Doch gibt es weder über­zeu­gen­de Inhal­te noch Entscheidungsträger:innen, die die­se prä­sen­tie­ren. Damit sind auch hier wenig Stim­men zu gewin­nen. Dass jeg­li­che poli­tisch neue Idee eben­so wie mög­li­ches Per­so­nal in den nicht enden wol­len­den Debat­ten über Ver­ant­wort­lich­kei­ten und Erneue­rung zer­rie­ben wird, erleich­tert es nicht gera­de, geschlos­sen gegen­über den Wähler:innen und über­zeugt von der eige­nen Regie­rungs­fä­hig­keit aufzutreten. 

Skandale werden vergessen – aber das ist kein Naturgesetz

Dass dies kein allei­ni­ges Phä­no­men der Bun­des-CDU ist, zeigt sich auch in Müns­ter. Wäh­rend Mar­kus Lewe sowohl mit der Regie­rungs­bi­lanz der ver­gan­ge­nen Jah­re als auch mit einer über­durch­schnitt­li­chen Bewäl­ti­gung der Coro­na-Pan­de­mie im Rücken bei der ver­gan­ge­nen Wahl trotz­dem eine Mehr­heit der Wähler:innen hin­ter sich ver­sam­meln konn­te, war dies für den müns­teri­schen Able­ger sei­ner Par­tei nicht mehr mög­lich. Der CDU gelang es nicht, eine Koali­ti­on hin­ter gemein­sa­men Inhal­ten zu ver­sam­meln. Es zeigt sich: Ver­wal­tungs­fä­hig­kei­ten rei­chen nicht unbe­dingt aus, um Wah­len zu gewinnen.

Bis zur Bun­des­tags­wahl im Sep­tem­ber ist es noch fast ein hal­bes Jahr – eine Zeit­span­ne, in der ein Hund Wel­pen bekom­men und die Wähler:innen die Skan­da­le der ver­gan­ge­nen Wochen ver­ges­sen kön­nen. Das ist in der Geschich­te der Bun­des­re­pu­blik zwar oft vor­ge­kom­men, ist aller­dings kein Natur­ge­setz. Weit­aus dra­ma­ti­scher als die schein­ba­re Ver­gess­lich­keit vie­ler Wähler:innen ist aller­dings der rapi­de gene­rel­le poli­ti­sche Ver­trau­ens­ver­lust, den die Uni­on mit den end­lo­sen Skan­dal­mel­dun­gen aus­löst. Denn wo lan­ge Zeit die Social-Media-Affi­ni­tät jun­ger Erwach­se­ner, und schlech­ter Poli­tik­un­ter­richt für rück­läu­fi­ge Wahl­be­tei­li­gung und poli­ti­sches Des­in­ter­es­se ver­ant­wort­lich gemacht wur­den, müs­sen sich CDU und CSU nun vor allem an die eige­ne Nase fassen. 

Das Ver­trau­en in demo­kra­ti­sche Insti­tu­tio­nen so zu zer­stö­ren und Ver­ant­wor­tung so kon­se­quent nicht wahr­zu­neh­men, ist nicht nur im Jahr einer Bun­des­tags­wahl demo­kra­tie­schä­di­gend und nicht zu entschuldigen. 

Hoff­nungs­voll stimmt mich aber, dass die Gesell­schaft die­sem Ver­hal­ten nicht ein­fach aus­ge­lie­fert ist: Journalist:innen recher­chie­ren den Affä­ren hin­ter­her, enga­gier­te Bürger:innen stel­len Anfra­gen bei den zustän­di­gen Bun­des­be­hör­den, Aktivist:innen orga­ni­sie­ren Pro­test, Wähler:innen ent­zie­hen Politiker:innen ihr Ver­trau­en. Das alles zeigt: Demo­kra­tie ist eine Auf­ga­be, kei­ne Selbstverständlichkeit. 

Ich wün­sche Ihnen einen schö­nen rest­li­chen Fei­er­tag
Ihre Car­la Reemtsma

Kor­rek­tur:

In einer frü­he­ren Ver­si­on stand, das Umfra­ge­tief der Uni­on zei­ge sich in den Ergeb­nis­sen der Kom­mu­nal­wah­len in Nord­rhein-West­fa­len und Rhein­land-Pfalz und Land­tags­wah­len in Hes­sen und Baden-Würt­tem­berg. Rich­tig muss es hei­ßen: Es zeig­te sich an die Ergeb­nis­sen der Kom­mu­nal­wah­len in Nord­rhein-West­fa­len und Hes­sen und Land­tags­wah­len in Baden-Würt­tem­berg und Rhein­land-Pfalz. Wir haben das im Text korrigiert. 


Über die Autorin

Im Janu­ar 2019 hat Car­la Reemts­ma den ers­ten Kli­ma­streik in Müns­ter orga­ni­siert. Es war eine klei­ne Kund­ge­bung im Nie­sel­re­geln vor dem his­to­ri­schen Rat­haus am Prin­zi­pal­markt. Weni­ge Wochen spä­ter sprach das gan­ze Land über die Kli­ma-Pro­tes­te der „Fri­days For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Müns­ter beschloss das Ziel Kli­ma­neu­tra­li­tät 2030. Inzwi­schen ist Car­la Reemts­ma eine der bekann­tes­ten deut­schen Kli­ma­ak­ti­vis­tin­nen. Gebo­ren wur­de sie in Berlin.