Die Kolumne von Carla Reemtsma | Politik und Ehrlichkeit

Müns­ter, 8. August 2021

Lie­be Leser:innen,

nur knapp vier Wochen ist es her, dass die schlimms­ten Über­flu­tun­gen seit Jahr­zehn­ten gro­ße Tei­le Nord­rhein-West­fa­lens und Rhein­land-Pfalz zer­stört haben. Vie­le von Ihnen ken­nen sicher­lich Per­so­nen, die von den Flu­ten betrof­fen sind oder als Teil der Müns­te­ra­ner Ret­tungs­kräf­te vor Ort bei den Ber­gungs­ar­bei­ten gehol­fen haben. In den rei­chen Indus­trie­staa­ten wird mit der Kata­stro­phe zum ers­ten Mal deut­lich, dass die Kli­ma­kri­se auch nicht vor dem glo­ba­len Nor­den halt­macht. Men­schen erle­ben ganz kon­kret, wie Fami­li­en und Exis­ten­zen zer­stört wer­den, wobei die emo­tio­na­len Trau­ma­ta alle Sach­schä­den über­tref­fen. Die Sofort­hil­fen für die Betrof­fe­nen und der Wie­der­auf­bau müs­sen im Vor­der­grund ste­hen – gleich­zei­tig wäre es fatal, die Kli­ma­phy­sik hin­ter der Kata­stro­phe auszublenden. 

Wer aus vor­geb­li­chem Respekt gegen­über den Betrof­fe­nen nicht über die kli­ma­po­li­ti­schen Hin­ter­grün­de spricht, ent­po­li­ti­siert ein zutiefst poli­ti­sches The­ma und ver­kennt des­sen sys­te­ma­ti­schen Pro­ble­me. Einen ähn­li­chen Reflex erle­ben wir regel­mä­ßig, wenn bei rech­ten Chat­grup­pen in der Poli­zei von Ein­zel­fäl­len oder bei ras­sis­ti­schen Anschlä­gen von Amok­läu­fen gespro­chen wird. Durch die bekun­de­te Betrof­fen­heit und den Ver­weis auf die Auf­klä­rung zu einem spä­te­ren Zeit­punkt wer­den die struk­tu­rel­len Pro­ble­me von Kli­ma­kri­se, Ras­sis­mus und Rechts­extre­mis­mus negiert, die die Vor­fäl­le erst mög­lich oder zumin­dest sehr viel wahr­schein­li­cher machen. Wer aus „Anstand“ not­wen­di­ge Unter­su­chun­gen auf­schiebt, möch­te vor allem eins: den Sta­tus Quo mit­samt sei­nen Pro­ble­men aufrechterhalten. 

Jede:r Zweite macht sich große Sorgen

Dabei haben Ereig­nis­se wie die Flut logi­scher­wei­se sowohl einen poli­ti­schen Hin­ter­grund als auch poli­ti­sche Kon­se­quen­zen: Wäh­rend die glo­ba­le Erd­er­hit­zung Extrem­wet­ter­er­eig­nis­se immer häu­fi­ger, schwer­wie­gen­der und lang­an­hal­ten­der macht, ist das kli­ma­po­li­ti­sche Bewusst­sein in Deutsch­land als Reak­ti­on auf die Flu­ten enorm gestie­gen. Jede:r Zwei­te macht sich gro­ße Sor­gen um die Kli­ma­kri­se – der Wert ist damit nur kurz hin­ter dem All­zeit­hoch aus dem Som­mer 2019. Acht von zehn Wähler:innen sehen gro­ßen oder sehr gro­ßen Hand­lungs­be­darf beim Kli­ma. Und sogar für jede:n Dritte:n ist die Kli­ma­kri­se nach den Flu­ten noch wich­ti­ger für die Wahl gewor­den als zuvor.

Die Reak­ti­on der Politiker:innen? Die könn­te kaum ver­lo­ge­ner sein. Wäh­rend Sofort­hil­fen ihren Zweck als schnel­le, unbü­ro­kra­ti­sche Unter­stüt­zung kaum erfül­len kön­nen, ver­sucht die CDU unter ihrem Kanz­ler­kan­di­da­ten Armin Laschet gar nicht erst, ange­mes­sen auf die kli­ma­po­li­ti­schen Her­aus­for­de­run­gen zu reagie­ren. Sie erin­nern sich bestimmt an sei­ne Aus­sa­ge, „wegen so eines Tages“ ände­re man jetzt nicht sei­ne gan­ze Poli­tik. Aber auch von der SPD ist wenig bis nichts zuhö­ren. Und von den Grü­nen? Die Par­tei, der die größ­te Kli­ma­kom­pe­tenz zuge­spro­chen wird, die mit die­sem The­ma erst so groß gewor­den ist? Die Grü­nen ver­su­chen Tei­le aus ihrem schon vor Mona­ten beschlos­se­nen, unzu­rei­chen­den Wahl­pro­gramm als „Kli­ma­schutz­so­fort­pro­gramm“ zu ver­kau­fen. Statt neue Maß­nah­men zu prä­sen­tie­ren, stel­len sie die sym­bo­li­sche For­de­rung nach einem Kli­ma­mi­nis­te­ri­um inklu­si­ve eines Veto­rechts in den Vordergrund. 

Eine ernsthafte Wahl haben wir nicht

Eine ehr­li­che Reak­ti­on auf die Flu­ten mit einer Kom­bi­na­ti­on aus Sofort­hil­fen für Geschä­dig­te in Deutsch­land, einer Erhö­hung der Kli­ma­fi­nan­zie­rung für beson­ders betrof­fe­ne Staa­ten und Regio­nen sowie einer 1,5-Grad-konformen Neu­ver­hand­lung der Koali­ti­ons­pro­gram­me bleibt aus. Jah­re­lang hat­ten augen­schein­lich ambi­tio­nier­te Politiker:innen gesagt, sie war­te­ten nur auf den Fuku­shi­ma-Moment beim Kli­ma, auf höhe­re gesell­schaft­li­che Akzep­tanz, auf ein poli­ti­sches Mög­lich­keits­fens­ter, um kon­se­quen­ten Kli­ma­schutz durch­zu­set­zen. Dabei ist all dies längst da. Der Groß­teil der Bürger:innen sieht star­ken Hand­lungs­be­darf in der Kli­ma­po­li­tik. Mit dem Urteil des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­rich­tes ist die juris­ti­sche Grund­la­ge für kon­se­quen­te Emis­si­ons­re­duk­ti­on klar­ge­stellt wor­den. Schon die Hit­ze­som­mer in den ver­gan­ge­nen Jah­ren hät­ten einen Kipp­punkt in der Kli­ma­po­li­tik dar­stel­len kön­nen, spä­tes­tens die Flu­ten hät­ten nun der viel­fach her­bei­ge­sehn­te Fuku­shi­ma-Moment sein müssen. 

Doch eine ange­mes­se­ne Reak­ti­on bleibt aus. Für die Legis­la­tur­pe­ri­ode, in der die Emis­sio­nen unbe­dingt dras­tisch sin­ken müs­sen, um noch einen Bei­trag zur Ein­hal­tung der 1,5-Grad-Grenze zu leis­ten, hat kei­ne Par­tei ein Pro­gramm, mit wel­chen Maß­nah­men die­se Reduk­ti­on gelin­gen kann. Das ist ein Skan­dal. Eine ernst­haf­te Wahl zwi­schen ver­schie­de­nen Wegen und Kon­zep­ten zur Ein­däm­mung der Kli­ma­kri­se haben kli­ma­be­weg­te Wähler:innen nicht. 

Dabei soll­ten wir uns alle bewusst sein: Das aktu­el­le Kli­ma ist das hei­ßes­te mit den dra­ma­tischs­ten Wet­ter­ex­tre­men, wel­ches die Mensch­heit je erlebt hat. Es ist zugleich aber auch das käl­tes­te, das sie in den kom­men­den Jahr­zehn­ten erle­ben wird. Selbst wenn die Emis­sio­nen ab sofort so stark wie mög­lich redu­ziert wer­den, steigt die Tem­pe­ra­tur zunächst noch wei­ter und ver­ur­sacht so häu­fi­ge­re Hit­ze­wel­len, Über­flu­tun­gen und Wald­brän­de. Der ein­zi­ge rich­ti­ge Moment für kon­se­quen­ten Kli­ma­schutz ist jetzt; jedes War­ten auf höhe­re Zustim­mungs­wer­te, neue wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis­se oder wei­te­re Extrem­wet­ter macht die not­wen­di­gen Maß­nah­men noch drastischer. 

Ein 100-Tage-Programm reicht nicht aus

Ehr­lich­keit mit die­sem Wis­sen gibt es von kei­ner Par­tei, von nie­man­dem aus der Spit­zen­po­li­tik. Da wer­den Kom­pro­mis­se gemacht, um anschluss­fä­hig zu wir­ken und kon­se­quen­te Vor­schlä­ge aus den eige­nen Rei­hen wer­den mit dem Argu­ment der feh­len­den Umsetz­bar­keit abge­lehnt. Dabei ist es nicht die tech­no­lo­gi­sche, juris­ti­sche oder gesell­schaft­li­che Mach­bar­keit, die die Ein­hal­tung der 1,5-Grad-Grenze ver­hin­dert. Es ist der feh­len­de poli­ti­sche Wil­le, auf­grund des­sen die Kli­ma­zer­stö­rung durch die För­de­rung von Koh­le, Öl und Gas wei­ter vor­an­ge­trie­ben wird – wäh­rend frei­wil­li­ge Helfer:innen Kel­ler leer­pum­pen und Schlamm schippen. 

Die poli­ti­schen Reak­tio­nen auf die Flut­ka­ta­stro­phe sind ver­lo­gen – aber die gesell­schaft­li­che muss es nicht sein. Wäh­rend immer mehr Men­schen Hand­lungs­be­darf beim Kli­ma­schutz sehen, orga­ni­sie­ren Klimaaktivist:innen in ganz Deutsch­land Pro­tes­te für vor und nach der Wahl. Denn klar ist: Kein Wahl­er­geb­nis wird ver­hin­dern, dass nach der Wahl wei­ter auf den Stra­ßen für Kli­ma­ge­rech­tig­keit gekämpft wer­den muss. Die not­wen­di­ge Trans­for­ma­ti­on, vor der wir ste­hen, wird nicht mal eben durch ein 100-Tage-Pro­gramm erreicht. So ehr­lich soll­ten wir mit­ein­an­der sein. Umso wich­ti­ger ist es, dass wir über­all dafür sor­gen, dass der gesell­schaft­li­che Wil­le für eine kli­ma­ge­rech­te Zukunft den poli­ti­schen Unwil­len zur Ein­hal­tung der 1,5-Grad-Grenze beendet. 

Ich wün­sche Ihnen einen schö­nen Sonntag

Ihre Car­la Reemtsma


Über die Autorin

Im Janu­ar 2019 hat Car­la Reemts­ma den ers­ten Kli­ma­streik in Müns­ter orga­ni­siert. Es war eine klei­ne Kund­ge­bung im Nie­sel­re­geln vor dem his­to­ri­schen Rat­haus am Prin­zi­pal­markt. Weni­ge Wochen spä­ter sprach das gan­ze Land über die Kli­ma-Pro­tes­te der „Fri­days For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Müns­ter beschloss das Ziel Kli­ma­neu­tra­li­tät 2030. Inzwi­schen ist Car­la Reemts­ma eine der bekann­tes­ten deut­schen Kli­ma­ak­ti­vis­tin­nen. Gebo­ren wur­de sie in Berlin.

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