Die Kolumne von Carla Reemtsma | Jetzt bloß keine Floskeln

Müns­ter, 17. April 2022

Guten Tag,

heu­te in vier Wochen wer­den Sie ins Wahl­bü­ro zur Stimm­ab­ga­be gehen kön­nen oder bereits einen Brief mit den Kreu­zen bei den Par­tei­en und Kandidat:innen Ihrer Wahl abge­ge­ben haben. In vier Wochen wird der nord­rhein-west­fä­li­sche Land­tag gewählt. Die Wahl in NRW wird dann nach den Wah­len im Saar­land und Schles­wig-Hol­stein die drit­te Land­tags­wahl sein, die inmit­ten welt­um­span­nen­der Kri­sen stattfindet. 

Nach­dem die Coro­na­pan­de­mie und die poli­ti­schen Maß­nah­men zu ihrer Ein­däm­mung bis in die pri­va­tes­ten Sphä­ren jedes Ein­zel­nen vor­ge­drun­gen sind, betrifft der Krieg in der Ukrai­ne vie­le erst­mal nicht direkt. Wer kei­ne Ver­wand­ten oder Freund:innen in der Ukrai­ne hat oder in einem Bereich mit Kon­takt zur Ukrai­ne oder Russ­land arbei­tet, bekommt den Krieg vor allem als eine Unvor­stell­bar­keit auf allen Nach­rich­ten­por­ta­len mit. Wer 2020 dach­te, mit Trump, Kli­ma­kri­se und Coro­na sei schon das Maxi­mum an sich über­la­gern­den Kri­sen erreicht, hat­te sich getäuscht. 

In Kri­sen­zei­ten offen­bart sich vie­les über Poli­tik und Gesell­schaft – unter ande­rem wird die impli­zi­te Auf­ga­ben­tei­lung zwi­schen Bund und Län­dern plötz­lich neu sicht­bar. Wäh­rend der Bund grund­sätz­li­che Ent­schei­dung über die gro­ßen poli­ti­schen Fra­gen – Impf­pflicht, Lock­down, Waf­fen­lie­fe­run­gen – trifft, bleibt die Umset­zung und Bewäl­ti­gung der Fol­gen – Pool­tests in Schu­len, Geflüch­te­ten­un­ter­künf­te – bei den Län­dern lie­gen. Kri­sen­ma­nage­ment fin­det auf bei­den Ebe­nen statt, mal bes­ser, mal schlechter. 

Im Vordergrund steht die starke Symbolik

Die Coro­na­pan­de­mie hat gezeigt, wie Landespolitiker:innen ver­such­ten, Ein­fluss auf die strahl­kräf­ti­gen Ent­schei­dun­gen der Bun­des­re­gie­rung zu bekom­men, um auch in den Genuss des guten Ein­drucks zu kom­men. Im Ukrai­ne-Krieg sieht die Situa­ti­on anders aus: Gelb-blaue Ban­ner vor den Par­tei­zen­tra­len, schnell abge­än­der­te Wahl­kampf­mo­ti­ve mit Frie­dens­bot­schaf­ten, Auf­trit­te mit einer Schar Fotograf:innen an den Ankunfts­bahn­hö­fen ukrai­ni­scher Geflüch­te­ter – im Vor­der­grund steht die star­ke Symbolik. 

Der Ukrai­ne-Krieg, bei dem die grund­le­gen­den Fra­gen nach Waf­fen­lie­fe­run­gen, NATO und Sank­tio­nen auf bun­des- oder euro­pa­po­li­ti­scher Ebe­ne getrof­fen wer­den, ist so mit­ten ins Zen­trum des Wahl­kamp­fes gerückt. Neben den unum­gäng­li­chen schö­nen Wor­ten von Soli­da­ri­tät und Frie­den ist es vor allem ein The­ma, was die NRW-Minister:innen über­all vor sich her­tra­gen: das Nein zum Energieembargo. 

NRW ist ein Haupt­stand­ort der ener­gie­in­ten­si­ven Indus­trie in Deutsch­land. Von Che­mie­fa­bri­ken über Papier­her­stel­ler bis zur Glas­pro­duk­ti­on, kaum eine Indus­trie ist nicht auf fos­si­le Ener­gie­trä­ger ange­wie­sen, von denen weit mehr als die Hälf­te aus Russ­land impor­tiert wird. Ein Embar­go wür­de das Gas mas­siv ver­knap­pen, nicht alle Aus­fäl­le könn­ten ander­wei­tig ersetzt werden. 

Der Not­fall­plan Gas, des­sen ers­te Stu­fe Robert Habeck vor weni­gen Wochen ein­setz­te, sieht vor, dass bei Knapp­heit zunächst nicht-exis­ten­ti­el­le Indus­trien ihren Ver­brauch dros­seln müs­sen. Ein Sze­na­rio, das Wirt­schafts­mi­nis­ter Pink­wart ablehnt, hat­te die Indus­trie nicht auch schon ins­be­son­de­re im ers­ten Coro­na­jahr teil­wei­se erheb­li­che Ein­bu­ßen erlebt. Nach­dem er sich mit Industrievertreter:innen zu einem Gip­fel zu den wirt­schaft­li­chen Aus­wir­kun­gen des Ukrai­ne-Krie­ges getrof­fen hat­te, bekräf­tig­te er sein Nein zum Embar­go wenig über­ra­schend noch­mal. Gleich­zei­tig ruft Minis­ter­prä­si­dent Hen­drik Wüst eben­so wie Ex-Bun­des­prä­si­dent Joa­chim Gauck die Bürger:innen zum Ener­gie­spa­ren auf. 

Der Reflex kommt einem bekannt vor

Hier zeigt sich eine der fatals­ten Ten­den­zen der moder­nen Kri­sen­po­li­tik. Anstatt ehr­lich zu kom­mu­ni­zie­ren, eine Debat­te über den gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Umgang damit zu ermög­li­chen und poli­ti­sche Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men, wird die Ver­ant­wor­tung an die ein­zel­nen Bürger:innen als Konsument:innen ausgelagert. 

Die­ser Reflex kommt einem aus dem Umgang mit der Kli­ma­kri­se und mit der Coro­na­pan­de­mie bekannt vor, wo wie­der und wie­der an die „Eigen­ver­ant­wor­tung“ appel­liert wird. Eigen­ver­ant­wor­tung um eine welt­wei­te Gesund­heits­kri­se, die „größ­te Her­aus­for­de­rung unse­rer Zeit“ oder einen Angriffs­krieg zu lösen? Es ist ein­fach absurd. Die Politiker:innen ent­zie­hen sich ihrer Ver­ant­wor­tung. Sie sind die Men­schen, die Ent­schei­dun­gen tref­fen, um Gesell­schaft zu gestalten. 

Jetzt in Pri­vat­haus­hal­ten Ener­gie zu spa­ren ist nicht falsch – der poli­ti­sche Auf­ruf dazu ist es aber, wenn er nicht mit dem Auf­ruf an die Indus­trie, das­sel­be zutun, ein­her­geht. In einer Welt, die auf eine Kli­ma­er­hit­zung von mehr als drei Grad zusteu­ert, gibt es kein Recht auf Ener­gie­ver­schwen­dung. In einer Welt, in der der Bezug von Ener­gie die Kriegs­kas­se von Auto­kra­ten füllt, noch weniger. 

Wenn die Minister:innen und Landtagswahl-Kandidat:innen es ernst mei­nen mit ihren Pla­ka­ten und der gefor­der­ten Soli­da­ri­tät, dann müs­sen sie gera­de als Politiker:innen in einem Bun­des­land mit viel Indus­trie jetzt die unbe­que­men Fra­gen stel­len. Wer sich gegen Krieg aus­spricht, muss ehr­lich dar­über debat­tie­ren, wel­che unan­ge­neh­men Kon­se­quen­zen auch hier vor Ort für wirk­sa­me Sank­tio­nen in Kauf genom­men wer­den können. 

Vier Wochen bis zur Wahl

Wo in der Coro­na­pan­de­mie Unter­neh­men unter­stützt wer­den konn­ten, um Arbeits­plät­ze zu sichern, muss das auch bei einem Ener­gie­em­bar­go dis­ku­tiert wer­den. Wo wir Din­ge pro­du­zie­ren, die in der Pan­de­mie nicht als sys­tem­re­le­vant gegol­ten hät­ten, kön­nen wir kein Gas ver­bren­nen, was rus­si­sche Pan­zer finan­ziert. Sonst sind die blau-gel­ben Wim­pel nicht mehr als Heuchelei. 

Das gilt nicht nur für die­je­ni­gen, die gera­de bun­des­po­li­ti­sche Ent­schei­dun­gen tref­fen und das Ener­gie­em­bar­go in der EU blo­ckie­ren. Das gilt auch für die Landesregierungsvertreter:innen, die genau die­se Posi­ti­on immer wie­der mit Ver­weis auf die hei­mi­sche Indus­trie unter­stüt­zen. Noch sind es vier Wochen bis zur Wahl in Nord­rhein-West­fa­len. Jetzt dür­fen die Par­tei­en und Kandidat:innen sich nicht in schö­nen Wahl­kampf­flos­keln verfangen.

Ich wün­sche Ihnen einen schö­nen Sonntag. 

Car­la Reemtsma


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Über die Autorin

Im Janu­ar 2019 hat Car­la Reemts­ma den ers­ten Kli­ma­streik in Müns­ter orga­ni­siert. Es war eine klei­ne Kund­ge­bung im Nie­sel­re­geln vor dem his­to­ri­schen Rat­haus am Prin­zi­pal­markt. Weni­ge Wochen spä­ter sprach das gan­ze Land über die Kli­ma-Pro­tes­te der „Fri­days For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Müns­ter beschloss das Ziel Kli­ma­neu­tra­li­tät 2030. Inzwi­schen ist Car­la Reemts­ma eine der bekann­tes­ten deut­schen Kli­ma­ak­ti­vis­tin­nen. Gebo­ren wur­de sie in Berlin.

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