Die Kolumne von Carla Reemtsma | Überwinden wir unsere Überheblichkeit


Münster, 17. Juli 2022
Guten Tag,
39 Grad. Das ist die aktuelle Wetterprognose für Dienstag in Münster. Sollten die Thermometer kommende Woche tatsächlich solche Temperaturen anzeigen, dann wäre das ein neuer Hitzerekord. Dabei wurde der aktuelle Höchstwert von 38,4 Grad erst vor weniger als drei Jahren, im Juli 2019 aufgestellt. Auch für weitere Teile Westdeutschlands sind Hitzewarnungen ausgesprochen und Rekordtemperaturen werden erwartet. Dabei bekommen wir im Norden Europas nur einen Ausläufer dessen zu spüren, was in Südeuropa bereits seit Wochen für dramatische Bilder sorgt.
Die anhaltend hohen Temperaturen und das teilweise wochenlange Ausbleiben von Niederschlägen hat zu großen, teilweise kaum zu kontrollierenden Waldbränden in Portugal, Frankreich und Kroatien geführt. In der italienischen Po-Region hat die Regierung aufgrund der Trockenheit den Notstand ausgerufen, die private Wassernutzung wird auf die relevanten Zwecke beschränkt, Pools müssen leer und Autos staubig bleiben, während in der Landwirtschaft große Ernteeinbußen drohen.
Zur gleichen Zeit jährt sich die Flutkatastrophe im Ahrtal zum ersten Mal. Eine Katastrophe, die über hundert Menschen das Leben kostete, eine Region verwüstete, Schäden in Milliardenhöhe verursachte und die verheerenden Lücken in unseren Katastrophenschutzsystemen aufzeigte.
Nie waren die Einschnitte so tief
Während der russische Angriffskrieg in der Ukraine den bisher sicher geglaubten Frieden von heute auf morgen zunichtemachte, müssen Gesellschaft, Politik und Wirtschaft nicht nur eine direkte Antwort auf diesen Angriff finden, sondern auch mit den Folgen – drohender Gasmangel, Lebensmittelknappheit, Inflation – umgehen. Und das, während die Coronazahlen in die Höhe steigen und neue Mutationen ganze Betriebe lahmlegen, die teilweise noch mit den Einbußen der vergangenen Jahre kämpfen.
Das Vertrauen der vergangenen Jahre in die Beständigkeit der politischen Stabilität und Sicherheit, in eine florierende Wirtschaft und eine funktionierende Sozialpolitik mag leichtgläubig oder sogar überheblich gewesen sein. Trotz immer wieder aufflammender krisenhafter Momente (Finanzkrise, Euro-Krise, Flüchtlingskrise), nie waren die Einschnitte so tief, so rasch aufeinanderfolgend, so weitreichend.
Spätestens die kommunalen Maßnahmen als Reaktion auf den absehbaren Gasmangel, wie die Abschaltung von Ampeln und Gebäudebeleuchtung, die Temperatursenkungen in Schwimmbädern und öffentlichen Gebäuden und die Kürzung von Bibliotheks- und Mensaöffungszeiten machen deutlich: Eine Politik, die der Situation angemessen ist, aber keine Einschnitte in Kauf nimmt, gibt es nicht.
Unsere Überheblichkeit steht im Weg
Gleichzeitig machen die reflexhaften Abwehr-Antworten vom Beginn des Kriegs klar – man erinnert sich an den Tankrabatt und die pauschalen Energiesubventionen für Konzerne –, dass wir weder gesellschaftlich noch politisch in der Lage sind, in angemessener Zeit angemessene Antworten zu finden. Stattdessen versuchen wir alles, um einen Status Quo aufrecht zu erhalten, den es schon lange nicht mehr gibt und auch so nicht mehr geben wird.
Das gilt umso mehr für eine Krise, die uns schleichend, aber dafür mit jahrzehntelanger Vorankündigung erreicht. Während Sommer für Sommer Tausende von den Statistiken unerfasst an Hitzefolgen sterben, sind wir nicht in der Lage, uns einzugestehen, dass es Pläne braucht, um mit dieser neuen Realität umzugehen.
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Während katastrophale Extremwetterereignisse wie im Ahrtal immer häufiger werden, hindert uns unsere Überheblichkeit daran, die Dramatik anzuerkennen und wir drohen immer öfter und immer stärker die Kontrolle zu verlieren.
Wir sind gesellschaftlich in der Lage, aus unserer Komfortzone zu gehen. Wir mussten es in der Coronapandemie und konnten sie damit zumindest eindämmen. Wir tun dies aufgrund des Kriegs in der Ukraine und werden damit hoffentlich verhindern, dass der Gasmangel so dramatisch wird, dass die Einschnitte um ein Vielfaches heftiger werden als das, was wir gerade vorausschauend und freiwillig tun.
Wer gestaltet die Veränderung?
Und wir müssten dies auch in der Klimakrise tun. Sie ist längst da und vielerorts müssen betroffene Landwirt:innen, Altenpfleger:innen und viele weitere schon jetzt alleine Antworten auf diese Folgen geben. Damit sich das politisch ändert und wir gesamtgesellschaftlich Antworten geben können, müssen wir aber mehr tun.
Als Allererstes müssen wir die Lage anerkennen, statt sie wieder und wieder kleinzureden. Danach müssen wir unsere überhebliche Vorstellung, alles kontrollieren zu können und im Griff zu haben, ablegen. Und dann müssen wir uns eingestehen, dass wir einen Status Quo, den es gar nicht mehr gibt, nicht aufrechterhalten können und dass Veränderung das beste Mittel ist, um noch größerer Veränderung aufgrund des Kontrollverlustes vorzubeugen.
Dafür sollten wir nicht auf den nächsten Hitzerekord oder das nächste Extremwetter warten, nur um uns dann in den immergleichen Debatten rund um die Fragen „Aber das war doch jetzt das Wetter?“ und „Aber müssen wir deswegen jetzt auf Dinge verzichten?“ zu verlieren. Die Klimakrise ist da und sie wird unser aller Leben entscheidend verändern. Die Frage ist, ob wir die Veränderung mitgestalten oder das allein der Unberechenbarkeit der Natur überlassen. Und das gilt nicht erst, wenn die Thermometer am Dienstag in bisher unerreichte Höhen steigen.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag
Ihre Carla Reemtsma
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Über die Autorin
Im Januar 2019 hat Carla Reemtsma den ersten Klimastreik in Münster organisiert. Es war eine kleine Kundgebung im Nieselregeln vor dem historischen Rathaus am Prinzipalmarkt. Wenige Wochen später sprach das ganze Land über die Klima-Proteste der „Fridays For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Münster beschloss das Ziel Klimaneutralität 2030. Inzwischen ist Carla Reemtsma eine der bekanntesten deutschen Klimaaktivistinnen. Geboren wurde sie in Berlin.
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1. Ich habe – Im Gegensatz zu Ihnen - nie geglaubt, dass der Frieden sicher sei. Dafür war mir die Lage nach Gorbatschow zu undurchsichtig (Jelzin und Putin als dessen Nachfolger). Die These vom „Ende der Geschichte“ von Francis Fukuyama als Durchsetzung der Idee der liberalen Demokratie erschien mir sehr trügerisch und blauäugig, da die Geschichte als solche nie endet, solange es Menschen gibt. Das Ende der Geschichte bedeutet religiös gewendet das Paradies auf Erden, das schon Marx hatte anbrechen sehen mit der Durchsetzung des Kommunismus als klassenlose Gesellschaft als Vollendung der Geschichte und der Befreiung des Menschen. Diese teleologischen Geschichtsauffassungen habe ich nie geteilt.
2. Das zentrale Problem ist die Abhängigkeit der BRD von russischem Gas (ca. 53%). Selbst wenn man die Tatsache in Rechnung stellt, dass Russland auch in den schwersten Krisen zuverlässig geliefert hatte, hätte man (Bundesregierungen unter Schröders und Merkels Kanzlerschaft) die Lieferung von Energie viel stärker diversifizieren müssen. Das gilt im Übrigen auch für die Abhängigkeit von China durch Outsourcing von industrieller Produktion, von den Lieferketten aus chinesischen Häfen etc. Darüber hinaus den Transfer von Hochtechnologie und Industriespionage großen Ausmaßes.
3. Die Grünen haben durch ihr beständiges Trommelfeuer gegen Kernernergie Deutschlands technologischen Vorsprung auf diesem Gebiet zunichte gemacht. Die politisch-populistisch motivierte Laufverkürzung der noch verbliebenen KKWs nach Fukushima 2011 durch Merkel war ein schwerer Fehler, steigerte er doch die Abhängigkeit von russischem Gas (Nord stream 2), obwohl kurz zuvor die von Rot-Grün beschlossene Laufzeitverkürzung für KKWs wieder rückgängig gemacht hatte.
4. Der Ausbau der erneuerbaren Energien war zu schleppend, darüber hinaus sind PV und Windräder in der Stromerzeugung letztlich zu unsicher, was verlässliche Mengen zu bestimmten Tageszeiten angeht.
5. Jetzt müssen wir Energie gewinnen aus nicht gerade CO2 freundlichen Ressourcen. Da geht im Moment kein Weg dran vorbei. Mit Kernkraft wäre das nicht passiert.
Rund 40 Prozent des von der EU importierten Urans stammen aus Russland und aus dem mit Russland verbündeten Kasachstan. In Osteuropa sind 18 Atomkraftwerke sogar zu 100 Prozent von russischen Brennelementlieferungen abhängig.
Guten Tag,
herzlichen Dank an Frau Reetsma für Ihre Kolumne!
Ja, energiepolitisch und industriepolitisch sind die falschen Weichen gestellt worden und zwar von dafür durch demokratische Wahlen legitimierte Regierungen.
Wie meine Oma schon sagte, wer A sagt muss auch B sagen. Wer allerdings (A) die Atomkraftwerke abschaltet, muss eine (B) Alternative zur Hand haben. Das war vermeintlich Putins Gas. Aber „einmal KGB immer KGB“. Das hätte Frau Merkel aus ihrer DDR-Vergangenheit wissen müssen. Wir müssen jetzt mit einem fatalen Politikversagen der Merkelregierung fertig werden.
Atomenergie ist kein Ausweg, weder kurz- noch langfristig. Deutschland sitzt auf einem Riesenberg von Atommüll, der auf ewig sicher verwahrt werden muss. Es wird Jahrzehnte dauern, bis dafür ein halbwegs sicheres Endlager gebaut ist. Es wäre daher unverantwortlich alle kommenden Generationen mit zusätzlichem strahlendem Abfall zu befrachten.
Jetzt dauerhaft nach Atomenergie zu rufen, zeugt von Unkenntnis der tatsächlichen Problematik, was nicht verwunderlich ist, weil darüber zu wenig berichtet wird. Nehmen wir nur das Beispiel von Uranhexafluorid, dass in Gronau bei der Anreicherung von Uran für Brennstäbe entsteht. Bislang wurde es exportiert und in den Weiten Russlands gelagert. Nun ist absehbar, dass diese hochgiftige Chemikalie hier behandelt und in eigens dafür zu bauenden Endlagern „bei uns“ sicher und ewig zu verwahren ist.
Der einzige Ausweg liegt in dem weiteren und zügigen Ausbau der Erneuerbaren. Hier schlummern noch Potenziale, die schon längst hätten gehoben werden können. Mit der Tiefengeothermie zum Beispiel könnten grundlastfähig im Münsterland Wärmenetze gespeist werden. Warum sind wir da noch nicht weiter? Na klar, warum darin investieren, wenn vermeintlich zuverlässig und dauerhaft russisches Gas zu haben ist?
Und schließlich: Ohne eigenen Beitrag - das Unwort Verzicht lässt ja jeden Realpolitiker erschaudern - wird es nicht gehen. Daher werden wir zukünftig überlegen müssen, wofür wir unser Geld ausgeben. Mallorca oder eine warme Wohnung? Denn die Bazooko des Herrn Scholz dürfte wohl inzwischen leer sein, so dass es nun bald darum gehen muss, den wirklich Bedürftigen und Existenzgefährdeten unter die Arme zu greifen.
Und nochmal: Der Traum der ewig gestrigen Phantasien von der billigen Atomenergie ist schon lange ausgeträumt. Die Energieversorgung der Zukunft ist dezentral und nachhaltig. Die gegenwärtigen Krisen werden einen Schub in diese Richtung erzeugen. Jahrzehnte der Versäumnisse werden jedoch leider nicht in Wochen aufzuholen sein.
Atomenergie ist die dreckigste Form Strom zu erzeugen. Es gibt bis heute in keiner Weise Überlegungen, noch wissenschaftlich fundierte Lösungen wie die Entsorgung des Müll aus Atomenergie entsorgt werden soll. Es ist mir daher absolut nicht nachvollziehbar dies überhaupt nur ansatzweise in Erwägung zu ziehen.
Ich lebe seit 5 Jahren in einer 1-Zimmer-Wohnung in der Innenstadt Münsters. Nicht weil ich es anfangs wollte aber es gefällt mir. Ich habe statt einem PKW eine Leeze. Meine Heizung sowie der Herd wird mittels Gas betrieben. Ich spare bereits Energie und werde mich im kommenden Herbst und Winter weiter einschränken.
Es funktioniert weil ich einige Jahre als LKW-Fahrer in 6m³ ausgekommen bin. Alle weiteren Features sind Luxus. Es ist sehr viel mehr möglich Energie einzusparen und den Arsch zukneifen.
Wollt ihr ein demokratisches Deutschland - oder Krieg wie in der Ukraine?
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