Die Kolumne von Juliane Ritter | Wir bitten nicht mehr, wir fordern

Müns­ter, 22. Mai 2022

Guten Tag,

wäh­rend mei­ner Aus­bil­dung und auch in den Jah­ren danach habe ich wenig über Gewerk­schaf­ten nach­ge­dacht. Ich dach­te mir, „die“ regeln das schon. Mei­ne Gehäl­ter wur­den hier und da mini­mal auf­ge­stockt, meist, nach­dem ich eher neben­bei mit­be­kom­men hat­te, dass irgend­wo gestreikt wur­de. Betei­ligt hat­te ich mich nie dar­an. Wozu auch, dach­te ich: „Die“ regeln das ja. Nun den­ke ich anders.

Seit 21 Tagen strei­ken wir jetzt. Wir, das sind Beschäf­tig­te der sechs Uni­kli­ni­ken in NRW. Wir strei­ken für den Tarif­ver­trag Ent­las­tung. Die­ser soll in allen Berei­chen Per­so­nal­be­mes­sun­gen regeln und einen Frei­zeit­aus­gleich für Mitarbeiter:innen fest­le­gen, wenn die Per­so­nal­un­ter­gren­zen mehr­fach unter­schrit­ten wer­den oder ande­re belas­ten­de Situa­tio­nen sich häufen.

Wir stehen nicht allein da

Am Streik­pos­ten kom­men wir täg­lich zusam­men und tau­schen uns aus. Vie­le Kolleg:innen berich­ten von Situa­tio­nen, die einem den Atem sto­cken las­sen: Patient:innen, die Scha­den genom­men haben, weil auf ihrer Sta­ti­on zu wenig Pfle­ge­per­so­nal gear­bei­tet hat und in einem Not­fall nie­mand zur Stel­le war, und Kolleg:innen, die kör­per­lich und emo­tio­nal aus­ge­laugt sind. Dabei ist das lei­der für jeden von uns All­tag. Wir schöp­fen Kraft aus den Berich­ten der ande­ren – denn wir ste­hen nicht allein da.

Wir ler­nen auch von­ein­an­der, dass wir dem Nor­mal­zu­stand, den wir jah­re­lang erdul­det haben, gemein­sam den Kampf ansa­gen können.

Es ist ein anstren­gen­der Weg. Denn wir hören von Kolleg:innen der Uni­kli­nik Aachen, denen mit Kün­di­gun­gen gedroht wird. Wir erfah­ren von den Zustän­den in man­chen Pfle­ge­schu­len, in denen Schüler:innen nach Her­kunft in Lern­grup­pen ein­ge­teilt wer­den. Und wir erle­ben, wie in Medi­en­be­rich­ten die Berufs­grup­pe der Pfle­ge immer wie­der als die wich­tigs­te her­aus­ge­stellt wird. Aber die Arbeit im Kran­ken­haus ist Team­ar­beit. Wir stär­ken ein­an­der den Rücken, denn eins haben wir schon vor Mona­ten beschlos­sen: Wir las­sen uns nicht spal­ten. Wir las­sen nicht zu, dass die Beschäf­tig­ten der ver­schie­de­nen Uni­kli­nik­stand­or­te oder Berufs­grup­pen gegen­ein­an­der aus­ge­spielt werden.

Wir ste­hen zusam­men und wer­den, gewerk­schaft­lich orga­ni­siert, eine men­schen­wohl­ori­en­tier­te Ver­sor­gung der Patient:innen und ein zukunfts­fä­hi­ges Arbeits­um­feld für alle Betei­lig­ten erwirken.

Doch genau das ist eigent­lich ein Skan­dal. Es soll­te nicht die Auf­ga­be von Beschäf­tig­ten und Gewerk­schaf­ten sein, eine gute Gesund­heits­ver­sor­gung der Bevöl­ke­rung und die Sicher­heit der Patient:innen zu erkämp­fen. Doch die ver­ant­wort­li­chen Politiker:innen, Arbeitgeber:innen und Krankenhausvorständ:innen haben so lan­ge taten­los zuge­schaut, dass wir nun gezwun­gen sind, es selbst in die Hand zu nehmen.

Ich erle­be der­zeit eine Demo­kra­ti­sie­rung gewerk­schaft­li­cher Arbeit, die ich nicht für mög­lich gehal­ten hät­te. Wir erkämp­fen uns bes­se­re Arbeits­be­din­gun­gen. For­de­run­gen wie „Per­so­nal­auf­bau und Ent­las­tung“, die wir seit Jah­ren ver­geb­lich an Politiker:innen gerich­tet haben, set­zen wir nun selbst durch.

Dabei lösen wir uns von dem, was die Ver­ant­wort­li­chen uns jah­re­lang gesagt haben: „Es gibt kein Per­so­nal, da kann man halt nichts machen.“

Denn das ist die größ­te Lüge der Poli­tik gegen­über mei­ner Berufs­grup­pe. Es gibt kei­nen Per­so­nal­man­gel, son­dern nur eine poli­tisch erzeug­te Per­so­nal­flucht, raus aus einem Beruf, den kaum noch jemand unter die­sen Arbeits­be­din­gun­gen aus­üben möchte.

Wir haben es in der Hand

Für unse­re gewerk­schaft­li­che Arbeit haben wir Struk­tu­ren bis in die kleins­ten Berei­che auf­ge­baut. Von der Küche über die Inten­siv­sta­ti­on bis zur Radio­lo­gie sind wir nun ver­netzt. Teams haben ihre Vertreter:innen gewählt, und die wie­der­um einen Ver­hand­lungs­rat, in dem alle Berufs­grup­pen ver­tre­ten sind. Und die Expert:innen der jewei­li­gen Berufs­grup­pen wer­den nun die Tarif­kom­mis­si­on in den Ver­hand­lun­gen mit den Arbeit­ge­bern unter­stüt­zen und ihr Fach­wis­sen ein­brin­gen. Durch die­se Orga­ni­sa­ti­on erfah­ren alle Beschäf­tig­ten schnell, wenn es etwas Neu­es gibt, damit sie Ange­bo­ten zustim­men oder die­se ableh­nen kön­nen. Die Gewerk­schaft steht uns dabei stüt­zend zur Sei­te, wir nut­zen ihr recht­li­ches Fachwissen.

Das Ergeb­nis unse­rer Ver­hand­lun­gen gestal­ten wir selbst. Und wir kön­nen auf das, was wir jetzt ler­nen, auch in zukünf­ti­gen Tarif­aus­ein­an­der­set­zun­gen zurück­grei­fen. Die Basis­be­tei­li­gung, die in ande­ren Berufs­grup­pen und Gewerk­schaf­ten ganz selbst­ver­ständ­lich ist, ler­nen wir Kran­ken­haus­be­schäf­tig­ten gera­de von Grund auf neu.

Sind wir zufrie­den mit einem Ange­bot oder erkämp­fen wir ein bes­se­res? Wir haben es in der Hand. Seit Frei­tag sit­zen mei­ne Kolleg:innen und ich nun den Arbeit­ge­bern gegen­über und ver­han­deln genau die Bedin­gun­gen, die wir für unse­ren Arbeits­all­tag brau­chen. Es geht nicht mehr dar­um, zu bit­ten: Wir for­dern. Nicht nur für uns, son­dern eben­so für unse­re Patient:innen.

Wir sind vie­le, und wir wer­den gewinnen.

Herz­li­che Grü­ße
Julia­ne Ritter

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Über die Autorin

Unse­re Kolum­nis­tin arbei­tet als Pfle­ge­kraft in einem Kran­ken­haus in Müns­ter. Sie schreibt in die­ser Kolum­ne dar­über, war­um sie ihren Beruf liebt. Und dar­über, wo es hakt und was in der Pfle­ge bes­ser lau­fen müss­te – grund­sätz­lich und in Müns­ter. Julia­ne Rit­ter ist nicht ihr rich­ti­ger Name. Sie schreibt unter einem Pseud­onym, damit sie frei über Schwie­rig­kei­ten und Miss­stän­de erzäh­len kann.

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