Die Kolumne von Juliane Ritter | Aus Hoffnung ist Wut geworden

Müns­ter, 3. Juli 2022

Guten Tag,

ich kann es selbst kaum fas­sen. Wir ste­cken wei­ter­hin in den Ver­hand­lun­gen um einen Tarif­ver­trag Ent­las­tung. Nicht, weil die Ver­hand­lun­gen so kom­pli­ziert sind. Unser Sys­tem, in dem wir kom­mu­ni­zie­ren und unse­re For­de­run­gen zusam­men­ge­tra­gen haben, funk­tio­niert her­vor­ra­gend. Son­dern weil sich die Inter­es­sen der bei­den Par­tei­en maxi­mal unterscheiden.

Wir haben die neun­te Streik­wo­che hin­ter uns.

Es gibt sogar schon ers­te Ange­bo­te. Sie betref­fen aber nur die Berei­che „rund ums Bett“. Die Kli­nik­lei­tun­gen haben dem Per­so­nal der Nor­mal- und Inten­siv­sta­tio­nen Ange­bo­te vor­ge­legt, über die nun ver­han­delt wird. Die Par­tei­en kom­men auf­ein­an­der zu und tau­schen Argu­men­te aus.

Die Pflege wird von Krankenkassen refinanziert – andere Bereiche nicht

Ande­re Berei­che haben noch kein Ange­bot bekom­men, zum Bei­spiel die Labo­re, die Phy­sio­the­ra­pie, die Trans­port­diens­te und die Ambu­lan­zen. Das ist kein Zufall. Der größ­te Kos­ten­fak­tor im Kran­ken­haus sind die Per­so­nal­kos­ten. Ver­ein­facht gesagt, müs­sen Kran­ken­häu­ser seit der Ein­füh­rung des Fall­pau­scha­len-Sys­tems 2003 dar­auf ach­ten, dass sie kei­ne Ver­lus­te machen. Auf die­se Ein­füh­rung der Öko­no­mi­sie­rung im Kran­ken­haus gab es zwei zen­tra­le Reak­tio­nen: Wirt­schafts­diens­te wie zum Bei­spiel Rei­ni­gungs­diens­te wur­den aus­ge­la­gert, Stel­len in der Pfle­ge gestri­chen. Gleich­zei­tig wur­de das ärzt­li­che Per­so­nal auf­ge­stockt – dies zeigt deut­lich die Bedeu­tung, die den ärzt­li­chen Beschäf­tig­ten zuge­spro­chen wird, allen ande­ren aber nicht.

Die CDU, die zen­tral für die Ein­füh­rung des Fall­pau­scha­len-Sys­tems zustän­dig war, sorg­te eini­ge Jah­re spä­ter dafür, dass die Pfle­ge am Bett wie­der refi­nan­ziert wur­de. Das war ein Schritt in die rich­ti­ge Rich­tung. Und in den Ver­hand­lun­gen wird deut­lich, dass die­se Refi­nan­zie­rung es den Arbeit­ge­bern ermög­licht, gute (oder zumin­dest annehm­ba­re) Ange­bo­te für die Pfle­ge vorzulegen.

Hier zeigt sich aber auch der zen­tra­le Fall­strick in den Ver­hand­lun­gen: Es gibt für die Arbeit­ge­ber kei­ne Refi­nan­zie­rung der nicht-pfle­ge­ri­schen Bereiche.

Wir wollen eine konkrete Entlastung

Das der­zeit vor­lie­gen­de Ange­bot der Arbeit­ge­ber beinhal­tet neben einem Schlüs­sel von Pfle­ge­per­so­nal zu Patient:innen auch eine fes­te Anzahl frei­er Tage pro Jahr. Die­se Zahl soll redu­ziert oder erhöht wer­den, je nach­dem, ob Per­so­nal auf­ge­stockt wird oder nicht. Wir sehen die­ses Modell aller­dings als Frei­fahrt­schein für die Kli­ni­ken, um an der per­so­nel­len Aus­stat­tung des Berei­ches nichts ändern zu müs­sen. Freie Tage für Pfle­gen­de wer­den durch die Kran­ken­kas­sen refi­nan­ziert. Somit bleibt jede Kon­se­quenz für die Arbeit­ge­ber aus, wenn sie die nun fest­ge­leg­ten Per­so­nal­re­ge­lun­gen nicht einhalten.

Wir for­dern statt­des­sen unser soge­nann­tes ‚Herz­stück‘. Ein Modell, in dem der Belas­tungs­aus­gleich direkt an die Schicht­be­set­zung gekop­pelt ist. Bei Unter­be­set­zung wer­den für das anwe­sen­de Per­so­nal Punk­te gene­riert, die es gesam­melt in Frei­zeit ein­lö­sen kann. Somit ent­steht eine kon­kre­te Ent­las­tung für die belas­te­ten Kolleg:innen, und der Arbeit­ge­ber wird dazu ange­hal­ten, sol­chen über­las­ten­den Situa­tio­nen mit Per­so­nal­auf­bau oder ver­bes­ser­ter Patient:innenplanung vorzubeugen.

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Nun zum nächs­ten gro­ßen Spie­ler: der Poli­tik. Denn alle sechs Uni­kli­ni­ken sind lan­des­ei­ge­ne Kli­ni­ken und sichern die Gesund­heits­ver­sor­gung in NRW.

Im Son­die­rungs­pa­pier der Grü­nen taucht der Tarif­ver­trag Ent­las­tung auf, auf Wahl­ver­an­stal­tun­gen war die Pfle­ge The­ma (nicht aber alle Kran­ken­haus­be­schäf­tig­ten). Im schwarz-grü­nen Koali­ti­ons­ver­trag dann plötz­lich: gäh­nen­de Lee­re in Bezug auf den Tarif­ver­trag Entlastung.

Auf den Par­tei­ta­gen haben sich bei­de Par­tei­en – durch Druck von Strei­ken­den – wie­der zu Ver­spre­chun­gen hin­rei­ßen las­sen. Das zeigt uns klar, dass nur unser Druck, unser kon­stan­tes Auf­tre­ten in der Pres­se und bei Ver­an­stal­tun­gen, dazu führt, dass die Poli­tik uns nicht vergisst.

Ein Schritt vorwärts, aber die Stimmung kippt

Erst Ende Juni hat Gesund­heits­mi­nis­ter Lau­mann – nun auch schrift­lich – die Finan­zie­rung des Tarif­ver­trags Ent­las­tung zuge­si­chert. Für alle Beschäf­tig­ten, nicht nur für die Pfle­ge. Damit sind wir einen ent­schei­den­den Schritt vor­wärts­ge­kom­men. Gleich­zei­tig hat sich für uns vie­les verändert.

Wir strei­ken seit neun Wochen. Wir sind anders in die­se Bewe­gung her­ein­ge­gan­gen, als wir her­aus­kom­men wer­den. Die Stim­mung an den Streik­pos­ten hat sich ver­än­dert. Es mag pathe­tisch klin­gen, aber aus der Hoff­nung auf eine unkom­pli­zier­te und schnel­le Lösung ist bei vie­len Kolleg:innen Wut geworden.

Weil es uns nicht um Geld oder mehr Urlaub geht, son­dern um etwas so Ele­men­ta­res wie eine gute Gesund­heits­ver­sor­gung für jede und jeden Ein­zel­nen. Dass die­se Aus­ein­an­der­set­zung trotz­dem so hart ist, zeigt uns, wie gering unse­re Leis­tun­gen und unse­re Exper­ti­se geschätzt wer­den. Die Arbeit­ge­ber sehen die Kos­ten des Tarif­ver­tra­ges, sie sehen den Auf­wand und sie sehen ihre Pro­fi­te schwin­den. Und die­ses Inter­es­se über­wiegt offen­bar die Aus­sicht, als Uni­ver­si­täts­kli­ni­ken in Bezug auf die Arbeits­be­din­gun­gen und Patient:innenversorgung mit gutem Bei­spiel vor­ran­ge­hen zu können.

Auch die Politiker:innen sehen die­se Kos­ten, sie ver­las­sen sich auf die Zah­len, die die Arbeit­ge­ber ihnen nen­nen. Die kri­ti­schen Zustän­de aus den Kli­ni­ken ken­nen sie nur aus den Berich­ten der Beschäf­tig­ten, gleich­zei­tig schil­dern ihnen die Arbeit­ge­ber sicher­lich eine ande­re Sichtweise.

Es ver­än­dert uns, wie mit uns umge­gan­gen wird. Was wir von den Arbeit­ge­bern und aus der Poli­tik hören, ist wie ein Schlag ins Gesicht. Wir zie­hen unse­re Schlüs­se. Eine Nie­der­la­ge könn­te in den Uni­kli­ni­ken zu einer Per­so­nal­ab­wan­de­rung füh­ren, die die sechs Kli­ni­ken noch nie gese­hen haben. Ich höre Kolleg:innen, die ihre Plä­ne an den Streik­pos­ten tei­len, und ich mache mir tat­säch­lich Sor­gen, was so eine Abwan­de­rung nach sich zie­hen könn­te. Ich selbst habe mei­ne Kün­di­gung schon geschrie­ben. Das Ergeb­nis die­ser Tarif­aus­ein­an­der­set­zung wird dar­über ent­schei­den, ob ich sie abschi­cke oder in die­sem Beruf bleibe.

Herz­li­che Grüße

Julia­ne Ritter

Über die Autorin

Unse­re Kolum­nis­tin arbei­tet als Pfle­ge­kraft in einem Kran­ken­haus in Müns­ter. Sie schreibt in die­ser Kolum­ne dar­über, war­um sie ihren Beruf liebt. Und dar­über, wo es hakt und was in der Pfle­ge bes­ser lau­fen müss­te – grund­sätz­lich und in Müns­ter. Julia­ne Rit­ter ist nicht ihr rich­ti­ger Name. Sie schreibt unter einem Pseud­onym, damit sie frei über Schwie­rig­kei­ten und Miss­stän­de erzäh­len kann.

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