Die Kolumne von Marina Weisband | Autos sehen lernen

Müns­ter, 7. Febru­ar 2021

Lie­be Leser:innen,

ich kann jetzt Autos sehen. In mir hat sich ein Schal­ter umge­legt, und das hat etwas ver­än­dert. Ich konn­te Autos natür­lich auch vor­her schon sehen. Aber jetzt neh­me ich sie anders wahr – als das, was sie sind: zwei Ton­nen pri­va­ter Stahl, die auf öffent­li­chen Plät­zen abge­stellt sind.

In Deutsch­land ist auf die­se Autos alles aus­ge­rich­tet. Im Krieg haben wir Stra­ßen­bahn­schie­nen her­aus­ge­ris­sen und danach nie wie­der zurück­ge­tan. Die Stra­ßen soll­ten den Autos gehö­ren. Unse­re Wahr­neh­mung hat sich ange­passt. Wir sehen die par­ken­den Autos wie Bäu­me oder Häu­ser. Feh­len sie, fehlt etwas. So scheint es jedenfalls. 

Man kann Autos auch auf eine ande­re Wei­se sehen. Men­schen kau­fen sich Pri­vat­ei­gen­tum, das die Luft ver­pes­tet, die Umwelt zer­stört, Fein­staub ver­brei­tet, sie stel­len es an öffent­li­chen Orten ab. 90 Pro­zent der Zeit steht das Auto dort ein­fach her­um. Stel­len Sie sich mal vor, um sich das zu ver­deut­li­chen, Sie wür­den Ihr Sofa ein­fach an die Stra­ße stel­len. War­um geht das eigent­lich nicht? 

Als das Bünd­nis Fahrradstadt.ms im Novem­ber eine ver­schieb­ba­re Holz­platt­form in einer Park­lü­cke abstell­te, um einen Ein­druck davon zu ver­mit­teln, wie viel öffent­li­chen Raum die Autos bean­spru­chen, kam das Ord­nungs­amt und schlepp­te die Platt­form ab.

Autos verstopfen die Innenstädte

Vie­le Men­schen und Betrie­be sind auf ein Auto ange­wie­sen, sogar in der Stadt. Aber wirk­lich so vie­le? Sind die­se ein­zel­nen Bedar­fe es wirk­lich wert, die gesam­te Stadt­pla­nung kul­tu­rell der inef­fi­zi­en­tes­ten Art der städ­ti­schen Fort­be­we­gung zu unter­wer­fen? Fängt man an, sich die Fra­ge zu stel­len, war­um wir den Autos so viel von unse­rem öffent­li­chen Raum geben, beginnt man, die Stadt mit ande­ren Augen zu sehen. Autos ver­stop­fen die Innen­städ­te – neue Fahr­spu­ren und neue Ver­bin­dun­gen sol­len dage­gen ein Mit­tel sein, aber tat­säch­lich pro­du­zie­ren neue Stra­ßen noch mehr Ver­kehr.

Neu­lich habe ich mich mit mei­nem Mann dar­über gestrit­ten, wohin unse­re Toch­ter allei­ne lau­fen könn­te. Unse­re Städ­te bestehen aus brei­ten, grau­en, unbe­tret­ba­ren Grä­ben, die wir nur an bestimm­ten Stel­len über­que­ren kön­nen, als wären dort Hän­ge­brü­cken. Ich habe mich gefragt: War­um haben Autos die­se Prio­ri­tät? War­um den­ken wir nicht zuerst dar­an, wie Kin­der sich durch die Stadt bewe­gen kön­nen, und wie die Autos um sie herumkommen?

Die neue Rat­haus­ko­ali­ti­on aus Grü­nen, SPD und Volt möch­te nun, dass in der Innen­stadt so gut wie kei­ne Autos mehr fah­ren. Der öffent­li­che Nah­ver­kehr soll das Auto in der Innen­stadt erset­zen. Was dem im Weg steht, ist die emo­tio­na­le Bedeu­tung des Autos. 

Wir brauchen einem Bewusstseinswandel

Das Auto ist in Deutsch­land mehr als ein Fort­be­we­gungs­mit­tel. Es ist ein kul­tu­rel­les Iden­ti­fi­ka­ti­ons­merk­mal. Es ist ein Sta­tus­sym­bol, das Ver­spre­chen indi­vi­du­el­ler Frei­heit. Und es ist eine geleb­te Macht­de­mons­tra­ti­on im Raum. 

Des­we­gen kön­nen ande­re Ver­kehrs­mit­tel es gar nicht voll­stän­dig erset­zen. Sie lösen nur das Pro­blem mit der Fort­be­we­gung. Den Rest des Pro­blems bekom­men wir nicht mit Fahr­rä­dern, Metro­bus­sen oder Mobi­li­täts­sta­tio­nen in den Griff. Das geht nur mit einem Bewusstseinswandel. 

Wir müs­sen die Augen öff­nen, um den Schmutz zu sehen, den Raum­ver­lust, die gesund­heit­li­chen Schä­den. Wir müs­sen uns fra­gen: War­um brau­chen wir so vie­le Autos, wenn sie doch einen Groß­teil der Zeit in der Gegend herumstehen?

Zuge­ge­ben, ich selbst bin ohne Auto auf­ge­wach­sen. Wir hat­ten dafür kein Geld. In mei­ner Wahr­neh­mung waren Autos vor allem eine poten­zi­el­le Gefahr im Stra­ßen­ver­kehr. Ich bin mein gan­zes Leben lang mit dem Bus gefah­ren. Aber ich schät­ze es, wenn ich ab und zu ein Auto zur Ver­fü­gung habe – bei bestimm­ten Gele­gen­hei­ten, wenn ich Freund:innen in der Pam­pa besu­chen will, oder wenn ich mit dem Kind einen Groß­ein­kauf machen muss. 

Aber lohnt es sich dafür, das Auto zu unter­hal­ten, es zu war­ten, die Som­mer­rei­fen zu wechseln?

Ich wür­de mir lie­ber ein Auto mit ande­ren tei­len und es dann nut­zen, wenn ich es brau­che. Wenn viel mehr Men­schen das machen wür­den, bräuch­ten wir öffent­li­chen Raum, weil die Autos nicht mehr in pri­va­ten Gara­gen stün­den. Die Fra­ge ist: Feh­len in Müns­ter Park­plät­ze? Oder feh­len Carsharing-Angebote? 

Gewohnheiten lassen sich ändern

Moder­nes Car­sha­ring muss die Spon­ta­nei­tät nicht ein­schrän­ken. Es funk­tio­niert wie der E-Scoo­ter-Ver­leih. Die Autos ste­hen über­all in der Stadt. Ich schaue in mei­ner App nach, wo das nächs­te Auto steht, lau­fe hin, ent­sper­re es und fah­re los. An mei­nem Ziel stel­le ich es wie­der ab. Ich bin damit sogar spon­ta­ner als mit dem eige­nen Auto. Wenn ich zu einer Par­ty fah­ren und etwas trin­ken möch­te, fah­re ich mit dem Auto hin und mit dem Taxi zurück. Und am nächs­ten Mor­gen muss ich das Auto nicht abholen. 

In Ber­lin und Ham­burg gibt es sol­che Ange­bo­te. In Müns­ter gibt es das Stadt­teil­au­to. Das ist gut, aber es gin­ge noch eine Spur zeitgemäßer. 

In Müns­ter müs­sen Men­schen, die auf das Auto ver­zich­ten, auf öffent­li­che Ver­kehrs­mit­tel umstei­gen. Auch dabei gibt es Hin­der­nis­se. In Gesprä­chen mit Freund:innen habe ich fest­ge­stellt: Wer mit einem Auto in der Fami­lie auf­ge­wach­sen ist, fühlt sich eher ein­ge­schränkt und gebun­den, wenn Fahr­plä­ne die Rei­se­zei­ten vor­ge­ben. Wenn man es nicht gewohnt ist, mit dem Bus oder der Bahn zu fah­ren, kann das abschre­cken. Doch Gewohn­hei­ten las­sen sich ändern. Natür­lich liegt es auch am Ange­bot, wie fle­xi­bel man mit öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln ist. Auch das Ange­bot soll­te sich ändern. 

Dabei geht es um Anrei­ze. Vie­le Men­schen, die auf dem Land leben, kämen ohne Auto kaum in die Stadt. Ich möch­te nicht, dass die­sen Men­schen die Mög­lich­keit genom­men wird, ein Auto zu nut­zen. Aber ich möch­te, dass Men­schen, die auf ihr Auto ver­zich­ten könn­ten, bes­se­re Anrei­ze haben, das auch zu tun. Wenn wir Autos im öffent­li­chen Raum so behan­deln wür­den wie ande­re Gegen­stän­de, die auf der Stra­ße her­um­ste­hen, wäre das sicher ein Anreiz. Ich kann nur dort dau­er­haft ein Sofa in den öffent­li­chen Raum stel­len, wo der Raum mir gehört. Autos kann ich über­all parken. 

Jede Ver­än­de­rung, jede Prio­ri­sie­rung ande­rer Fort­be­we­gungs­mög­lich­kei­ten wird natür­lich Wider­stand erfah­ren. Egal, ob man an klei­nen Schrau­ben dreht oder an gro­ßen, es gibt Wider­stän­de. Daher ist es sinn­vol­ler, gleich an den gro­ßen zu dre­hen. Den­ken wir die Stadt neu. Was wäre, wenn wir die Stadt so pla­nen wür­den, dass sie für Men­schen gedacht ist, nicht für Autos? Wie sähe die­se Stadt aus?

Gehen wir doch von die­sem Ide­al­bild aus. Es ist kei­ne Ideo­lo­gie, auf alle Rück­sicht zu neh­men und nicht nur auf eine Inter­es­sen­grup­pe – Men­schen, die mit dem Auto fah­ren. Auf dem Weg zu die­ser Stadt soll­ten wir uns rück­ver­si­chern, auf alle ach­ten, vor allem auch auf die Min­der­hei­ten. Zum Bei­spiel Men­schen mit Behin­de­rung, die ein Auto brau­chen, um mobil zu sein. Auch die­sen Grup­pen kann es hel­fen, wenn in der Stadt weni­ger Autos her­um­ste­hen. Es wird leich­ter für sie, Park­plät­ze in der Nähe ihres Ziels zu finden. 

Ein größeres Gefühl von Freiheit

Das Leit­bild soll­te nicht sein: Schafft das Auto ab. Es soll­te lau­ten: Gestal­tet die Stadt für Menschen. 

Die­ses Umden­ken beginnt schon bei der Spra­che. Wird eine Stra­ße umfunk­tio­niert, sagen wir: Die Stra­ße wird gesperrt. Im Zen­trum unse­res Den­kens steht das Auto. Wir könn­ten auch sagen: Die Stra­ße wird geöff­net – für Men­schen, die zu Fuß unter­wegs sind oder mit dem Fahrrad. 

Die­ses Umden­ken ist der visio­nä­re Teil der Mobi­li­täts­wen­de. Es wird viel Zeit brau­chen. Abs­trak­te Erklä­run­gen und Plä­ne rei­chen nicht aus, um das Den­ken zu erneu­ern. Es muss sich mit kon­kre­ten Vor­stel­lun­gen und Erfah­run­gen fül­len. Beim (Non)-Parking Day am Han­sa­ring haben wir gese­hen, wie so etwas funk­tio­nie­ren kann. Men­schen sehen und erle­ben, wie es wäre, wenn es anders wäre.

Kunst und Kul­tur kön­nen dabei hel­fen. Ver­än­de­run­gen sind ein­fa­cher, wenn wir wis­sen, was kommt, wenn die Unge­wiss­heit mög­lichst gering ist, wenn der neue Zustand greif­bar wird. 

Um in die Zukunft zu sehen, kön­nen wir in die Ver­gan­gen­heit schau­en. Es gibt wun­der­schö­ne Auf­nah­men aus der Zeit der Jahr­hun­dert­wen­de, die digi­tal auf­be­rei­tet wur­den. Dar­auf erle­ben wir magi­sche Sze­nen, wie die Leu­te auf gro­ßen, brei­ten Stra­ßen durch­ein­an­der­lau­fen, wie sie die­sen Raum ein­neh­men. Es gibt Stra­ßen­mu­sik, Kin­der ren­nen her­um. Die­se Bil­der zei­gen ein viel grö­ße­res Gefühl von Freiheit. 

Vie­le lie­be Grü­ße
Mari­na Weisband


Über die Autorin

Mari­na Weis­band ist Diplom-Psy­cho­lo­gin und in der poli­ti­schen Bil­dung aktiv. Beim Ver­ein „poli­tik-digi­tal“ lei­tet sie ein Pro­jekt zur poli­ti­schen Bil­dung und zur Betei­li­gung von Schü­lern und Schü­le­rin­nen an den Regeln und Ange­le­gen­hei­ten ihrer Schu­len („aula“). Außer­dem ist sie Co-Vor­sit­zen­de des digi­tal­po­li­ti­schen Ver­eins D64. Von Mai 2011 bis April 2012 war sie poli­ti­sche Geschäfts­füh­re­rin der Pira­ten­par­tei Deutsch­land. Heu­te ist sie Mit­glied der Grü­nen. Sie lebt in Münster.