Die Kolumne von Marina Weisband | Die zweite Welle der Aufklärung

Müns­ter, 22. August 2021

Lie­be Leser:innen,

am 26. Sep­tem­ber ist die Bun­des­tags­wahl. Und vie­le freu­en sich dar­auf nicht so sehr. Sie sagen: „Es ist doch irgend­wie egal, wen ich wäh­le. Es kommt doch eh immer das­sel­be her­aus.“ Das erin­nert mich sehr an eini­ge mei­ner Schüler:innen. Sie sagen: „War­um soll ich mich denn betei­li­gen? Die Lehrer:innen machen doch eh, was sie wollen.“

Mei­ne Schüler:innen? Oh ja. Ich arbei­te beim Ver­ein poli­tik-digi­tal am Schü­ler­be­tei­li­gungs­pro­jekt aula. Wir eta­blie­ren an Schu­len in ganz Deutsch­land mit Hil­fe einer Online­platt­form, didak­ti­scher Begleit­ma­te­ria­li­en und eines Ver­trags ein schul­wei­tes Betei­li­gungs­kon­zept ein Es ist ein Werk­zeug, das dabei hilft, Din­ge selbst zu ver­än­dern. Die Schüler:innen kön­nen auf ihrem Han­dy oder an einem Com­pu­ter Ideen ein­stel­len, die das Schul­le­ben ver­bes­sern sol­len. Sie kön­nen über die­se Anstö­ße dis­ku­tie­ren, über sie abstim­men, und sie kön­nen sie auch selbst umsetzen.

Das Pro­blem ist: Es dau­ert manch­mal eine Wei­le, bis die Schüler:innen das wahr­neh­men. Vor allem den älte­ren unter ihnen fehlt manch­mal das Ver­trau­en, dass ihre Mühe sich lohnt. Oder sie sehen gleich zu Beginn so vie­le Hür­den, dass ihre Ideen klein und unam­bi­tio­niert ausfallen.

Es ist also ähn­lich wie mit Wähler:innen, die davon über­zeugt sind, dass ihre Stim­me eh nichts ver­än­dern wird – und die den­ken, dass poli­ti­sches Enga­ge­ment sich nicht lohnt, weil Kor­rup­ti­on, Lob­by­is­mus und Vet­tern­wirt­schaft ohne­hin stär­ker sind als jede Bürgerbeteiligung.

Wir wer­den in Müns­ter ein knap­pes Ren­nen um das Direkt­man­dat haben? Geschenkt. Jahr­hun­dert­wahl an einem kri­ti­schen Zeit­punkt für das Kli­ma? Na ja. So rich­tig kämp­fe­risch sind die wenigs­ten Leute.

Frust fördert Hilflosigkeit 

Haben die­se bei­den Phä­no­me­ne – also die Wahl­mü­dig­keit und die Resi­gna­ti­on der Schüler:innen – etwas mit­ein­an­der zu tun? Aller­dings! Bei­des ist ein Zei­chen erlern­ter Hilf­lo­sig­keit. Das ist ein psy­cho­lo­gi­scher Fach­be­griff. Erlern­te Hilf­lo­sig­keit ent­steht, wenn Men­schen so lan­ge in einem Sys­tem nichts aus­rich­ten kön­nen, dass sie sich dar­an gewöh­nen. Gibt man ihnen dann ech­te Ent­schei­dungs­frei­heit, haben sie weder die Fähig­kei­ten noch die Moti­va­ti­on, wirk­lich etwas zu verändern.

Wenn ich mich also zehn Jah­re lang jeden Mor­gen früh aus dem Bett quä­len muss, um alle 45 Minu­ten ein neu­es mir vor­ge­schrie­be­nes Fach zu pau­ken, wenn dann noch beno­tet wird, wie viel ich mir von alle­dem gemerkt habe, und wenn davon mei­ne Zukunft abhängt, dann kann es durch­aus pas­sie­ren, dass ich kei­ne zu gro­ße Erwar­tung an mei­ne Fähig­keit ent­wick­le, die Welt gestal­ten zu können.

Jede Vor­schrift von oben, jeder Frust­mo­ment, jede Wahl­ent­täu­schung tra­gen zu die­ser erlern­ten Hilf­lo­sig­keit bei. Das Ergeb­nis des­sen wäre eine Bevöl­ke­rung, der im Grun­de alles egal ist, weil man ja doch nichts ändern kann. Wir Men­schen schüt­zen uns so vor wie­der­hol­tem Frust.

Zum Glück gibt es aber auch einen Gegen­ent­wurf, näm­lich die Über­zeu­gung, dass wir schon etwas aus­rich­ten kön­nen in der Welt – und sei es nur in unse­rer direk­ten Umwelt. Die­se Über­zeu­gung heißt Selbst­wirk­sam­keit. In unse­rem Pro­jekt aula ver­su­chen wir, sie bei jun­gen Men­schen zu stärken.

Es fängt oft ganz klein ein. Anne fällt zum wie­der­hol­ten Male der Hau­fen Fahr­rä­der vor dem Haupt­ein­gang der Schu­le auf. Sie zückt ihr Han­dy, öff­net die App und schreibt: „Fahr­rad­stän­der am Haupt­ein­gang.“ Nur eine kur­ze Notiz.

Prävention gegen erlernte Hilflosigkeit

In der aula-Stun­de (sie fin­det an ihrer Schu­le wäh­rend der Klas­sen­rats­stun­de statt) stellt sie ihre Idee münd­lich vor. Paul schreibt einen Ver­bes­se­rungs­vor­schlag: „Fahr­rad­stän­der ja, aber dann für min­des­tens 60 Fahr­rä­der, sonst gibt es doch nur wie­der Streit.“ Ines fügt hin­zu: „Bit­te in der Idee ergän­zen, wer ver­ant­wort­lich ist und bis wann das fer­tig sein soll.“ Anne ändert ihre Idee immer wie­der und ver­voll­stän­digt die Ver­bes­se­rungs­vor­schlä­ge. Aus einer Notiz wird ein gan­zer Projektplan.

Anne bit­tet ihren Vater, ihr dabei zu hel­fen, Ange­bo­te von Bau­fir­men ein­zu­ho­len. Alle Fra­gen sind beant­wor­tet. Nach zwei Wochen ist die Idee aus­ge­ar­bei­tet. Nun kommt sie auf den Schreib­tisch der Schul­lei­tung. Die prüft: Ist die Idee ver­ein­bar mit dem Ver­trag, den die Schul­kon­fe­renz beschlos­sen hat? Das wür­de bedeu­ten: Sie bricht nicht das Schul­ge­setz, regelt ihre eige­ne Finan­zie­rung durch Kuchen­ver­kauf und bewegt sich inner­halb des Kom­pe­tenz­rah­mens, der den Schüler:innen zuge­stan­den wird. Die Idee kriegt grü­nes Licht, die Schüler:innen dür­fen nun dar­über abstim­men. Wenn sie eine Mehr­heit bekom­men, wird der Fahr­rad­stän­der gebaut.

Das Schö­ne dar­an ist: Immer wenn Anne, Paul und Ines spä­ter an ihm vor­bei­lau­fen, erin­nert er sie dar­an, dass er ihr Werk war. Sie haben an die­ser Stel­le die Welt ein klein wenig ver­än­dert. Das ist ein Anreiz, es wie­der zu pro­bie­ren. Die Selbst­wirk­sam­keits­er­war­tung wächst. Und das ist die bes­te Prä­ven­ti­on gegen erlern­te Hilf­lo­sig­keit und ihre Fol­gen: eine Kon­sum- oder Opfer­hal­tung gegen­über der Gesell­schaft, Anfäl­lig­keit für Popu­lis­mus oder Men­schen­hass, Demokratieverdruss.

Das Pro­jekt aula gibt es seit fünf Jah­ren, zur­zeit an knapp 20 Schu­len, auch in außer­schu­li­schen Grup­pen. Schüler:innen haben Bäu­me gepflanzt, ihren Unter­richt ver­än­dert, ein Stu­fen­früh­stück ein­ge­führt, Ver­an­stal­tun­gen geplant und ihre Schu­len kli­ma­neu­tral gemacht. Sie bau­en an einer Zukunft und ändern dabei ihre Selbst­wahr­neh­mung sowie ihre Rol­le in der Gesell­schaft. Sie kon­su­mie­ren nicht nur, sie gestalten.

War­um ist das so wich­tig? Klar, Demo­kra­tie ist gut und rich­tig. Aber es kommt noch ein ganz aktu­el­ler Grund hin­zu: Glo­ba­li­sie­rung und Digi­ta­li­sie­rung machen unse­re Welt sehr viel kom­ple­xer. Und nicht alle Men­schen kön­nen Kom­ple­xi­tät aushalten.

Einfallstor für Menschenhass

Um sie zu redu­zie­ren, schaf­fen Men­schen sich ein­fa­che Erzäh­lun­gen, in denen es die Guten und die Bösen gibt. Die Guten, das sind sie selbst, das ist das „Wir“. Die Bösen, das sind wahl­wei­se Mus­li­me, Juden, die „Finanz­eli­te“ (meist eben­falls die Juden), die Chi­ne­sen oder wer auch immer. Es ist ein Ein­gangs­tor für Popu­lis­mus und Menschenhass.

Gefühlt hilf­lo­se Men­schen seh­nen sich nach einer Per­son, die ihnen ein­fa­che Ant­wor­ten, Sta­bi­li­tät und Sicher­heit gibt. Und das endet schnell in einer Auto­kra­tie. Digi­ta­li­sie­rung kann die­sen Trend ver­stär­ken: Durch Mas­sen­über­wa­chung, zen­tra­le, gro­ße Platt­for­men und Des­in­for­ma­ti­on kann das Digi­ta­le dazu bei­tra­gen, dass wir in Abhän­gig­keits­ver­hält­nis­se gera­ten und Bür­ger­rech­te verlieren.

Gleich­zei­tig macht Digi­ta­li­sie­rung uns aber auch mäch­ti­ger. Wir sind so gut infor­miert wie nie zuvor. Wir kön­nen uns so leicht zusam­men­tun wie noch nie und unse­re Stim­me hör­bar machen. Wir kön­nen uns ver­net­zen, gemein­sam klu­ge Ent­schei­dun­gen tref­fen (zum Bei­spiel mit­hil­fe von Platt­for­men wie aula) und län­der­über­grei­fend über Wer­te und Nor­men spre­chen. Wir kön­nen die Mäch­ti­gen bes­ser kon­trol­lie­ren und ihnen leich­ter öffent­lich in die Para­de fahren.

Macht uns das Inter­net jetzt also demo­kra­ti­scher oder weni­ger demo­kra­tisch? Weder noch. Das Inter­net macht es uns leich­ter, unse­ren ein­ge­schla­ge­nen Kurs zu ver­fol­gen. Es ist ein Verstärker.

Geben wir uns der erlern­ten Hilf­lo­sig­keit hin, also pfei­fen wir auf alles und zie­hen uns ins Pri­va­te zurück – dann macht das Inter­net es uns leicht, all unse­re pri­va­ten Daten zu ver­kau­fen, dann las­sen wir uns bereit­wil­lig über­wa­chen, dann las­sen wir uns mit den Infor­ma­tio­nen oder Spie­len füt­tern, die wir brau­chen, um im Klei­nen glück­lich zu sein.

Miniatur-Druckerpresse-deluxe in unserer Hosentasche

Füh­len wir uns hin­ge­gen als akti­ve Bürger:innen, ach­ten auf unse­re Umge­bung und gestal­ten unse­re Welt – dann macht das Inter­net es uns leicht, uns zu ver­net­zen, Demos zu orga­ni­sie­ren, Wahl­auf­ru­fe zu ver­brei­ten, Initia­ti­ven vor­an­zu­brin­gen und mehr Bürger:innenbeteiligung zu entwickeln.

Es liegt alles in unse­rer Hand. Eine ande­re Bevöl­ke­rung gibt es ja nicht, so ein­fach ist das. Dies ist ein his­to­risch ein­ma­li­ger Zeit­punkt. Wir haben eine bahn­bre­chen­de neue Tech­no­lo­gie zur Kom­mu­ni­ka­ti­on. Es ist an uns, zu ent­schei­den, was das bedeutet.

Die Buch­pres­se, also die Mög­lich­keit, güns­tig Kopien von Büchern zu erstel­len, wur­de nicht bloß genutzt, um Pro­pa­gan­da der Herr­schen­den an ihr Volk zu ver­tei­len. Ihr folg­te die Bewe­gung der Auf­klä­rung. Aus der Tech­nik wur­de der Anspruch, dass alle gebil­det sein dür­fen, dass alle die Kraft ihres Ver­stan­des nut­zen kön­nen – dar­aus folgt schließ­lich die Demo­kra­tie. Heu­te haben wir eine Minia­tur-Dru­cker­pres­se-delu­xe in unse­rer Hosen­ta­sche, eine voll­kom­men neue Tech­nik. Was wir jetzt brau­chen, ist nichts Gerin­ge­res als eine zwei­te Wel­le der Aufklärung.

Das klingt alles zu kom­pli­ziert? Gut, dann begin­nen wir nicht mit inter­na­tio­na­ler Poli­tik. Begin­nen wir mit dem Fahr­rad­stän­der. Begin­nen wir mit dem Hafen­markt. Begin­nen wir mit der Bun­des­tags­wahl, reden wir mit unse­ren Eltern, Groß­el­tern oder Kolleg:innen über Poli­tik. Das ist die Macht, die wir haben. Es ist eine ganz rea­le Macht. Wenn wir sie nut­zen, bau­en wir sie aus. Das dür­fen wir. Und es lohnt sich.

Vie­le lie­be Grüße

Ihre Mari­na Weisband


Über die Autorin

Mari­na Weis­band ist Diplom-Psy­cho­lo­gin und in der poli­ti­schen Bil­dung aktiv. Beim Ver­ein „poli­tik-digi­tal“ lei­tet sie ein Pro­jekt zur poli­ti­schen Bil­dung und zur Betei­li­gung von Schü­lern und Schü­le­rin­nen an den Regeln und Ange­le­gen­hei­ten ihrer Schu­len („aula“). Außer­dem ist sie Co-Vor­sit­zen­de des digi­tal­po­li­ti­schen Ver­eins D64. Von Mai 2011 bis April 2012 war sie poli­ti­sche Geschäfts­füh­re­rin der Pira­ten­par­tei Deutsch­land. Heu­te ist sie Mit­glied der Grü­nen. Sie lebt in Münster.

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