Klaus Brinkbäumers Brief aus New York | Münster ist hoffentlich klüger

Porträt von Klaus Brinkbäumer
Mit Klaus Brinkbäumer

Münster, 03.05.2020

Liebe Leserin, lieber Leser,

die Stadt, in die ich diesen Brief schreibe, wirkt aus der Ferne robust. Wenn ich mit meinen Freunden und meinen Eltern in Münster spreche und wenn ich die Texte Katrin Jägers und Ralf Heimanns lese, dann stelle ich mir ein solidarisch diszipliniertes oder diszipliniert solidarisches Münster vor, das die Corona-Krise verstanden hat, ernst nimmt und deshalb vergleichsweise milde davon getroffen ist.

Ist mein Bild idealisiert? Ist die Wirklichkeit brüchiger?

Die Stadt, aus der ich Ihnen diesen Brief in die Heimat eigentlich schreiben wollte, existiert nicht mehr.

Die Stadt, aus der ich Ihnen nämlich heute schreibe, ist nicht mehr New York City, mein Sehnsuchtsort, ist oder wird nun etwas anderes, noch nicht exakt Definiertes, jedenfalls aber eine Trauerstadt.

New York erinnert mich in diesen Wochen tatsächlich an Bagdad, 2003, natürlich ohne die Bombenlöcher, ohne der zerschossenen Fassaden. Aber es gibt die Massengräber, draußen auf Hart Island im Osten der Bronx: Leiche neben Leiche in weißen Säcken, namenlose Opfer von Covid-19, Obdachlose, Menschen, die niemand identifizieren konnte oder für deren Beerdigung niemand zahlen wollte.

Es gibt diese Familien in der Bronx: der Vater weg, die Mutter schwer erkrankt, sechs Kinder allein daheim.

New York 2020 ist still, verzagt und ängstlich. Die Stunde Null, dieser berühmte Moment eines Aufbruchs, in dem alles möglich ist und noch niemand weiß, was da gerade entsteht, wird vielleicht irgendwann kommen, aber noch sind wir mittendrin in der Krise.

Und die USA versagen.

Sie schaffen das nicht.

Sie sind ein überfordertes Land, das sich selbst in die politische Handlungsunfähigkeit manövriert hat und nun ehrlich darüber staunt, aber nicht herausfindet. Mit ihren Ablenkungsmanövern und glatten Lügen, mit all den Verschwörungstheorien und Verharmlosungen hat die Regierung in Washington, D.C., flankiert von der republikanischen Mehrheit im Senat, flankiert von Medien wie FOX News und Breitbart, die ersten acht Wochen der Corona-Krise schlicht verplempert und verplappert, und dieser Rückstand ist nicht aufzuholen.

Die unentdeckte Tote

Am späten Donnerstag waren es in den USA 1,07 Millionen bestätigte Covid-19-Infektionen und 72.000 Todesfälle; und im Bundesstaat New York 300.000 Infektionen und 18.000 Todesfälle. Und alle Menschen hier wussten, dass sie noch immer nichts wussten, denn zwei Nachrichten erschütterten uns alle, die wir uns mit dem Thema befassen:

Eine Studie in New York legt nahe, dass 21 Prozent der Bevölkerung Antikörper gegen SARS-CoV-2 gebildet hatten, also mutmaßlich infiziert gewesen waren, das wären dann rund 2,4 Millionen Menschen. Kann das stimmen? Und falls es stimmt, was bedeutet es? Die USA haben noch immer keine Daten, noch immer keine belastbaren Erkenntnisse über das, was auf ihrem Territorium geschieht. Es ist nun der vierte Monat der Pandemie, die USA testen noch immer nur 150.000 Menschen pro Tag (bei 328 Millionen Einwohnern), es müsste mindestens die dreifache Menge sein.

Die zweite Nachricht war die, dass die 57-jährige Wirtschaftsprüferin Patricia Dowd, die am 6. Februar in Santa Clara in Kalifornien an „grippeähnlichen Symptomen“ gestorben war,in Wahrheit an Covid-19 erkrankt war; sie war also das mutmaßlich erste Todesopfer in den USA, das haben Untersuchungen jetzt, im April, ergeben.

Das bedeutet, dass das Virus wochenlang, vielleicht monatelang unentdeckt durch die USA wandern konnte, denn obwohl die chinesische Regierung den Rest der Welt am 31. Dezember informiert hatte, wurde erst am 29. Februar der erste Corona-Todesfall in den USA gemeldet; und erst danach kamen Reiseeinschränkungen, erst danach begannen die hektisch wirren Abwehrkämpfe im Weißen Haus, und selbst zu jenem Zeitpunkt noch sagte Donald Trump, alles sei „total unter Kontrolle“, und bald „wird es vorbei sein“.

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