Ruprecht Polenz schreibt | Vier Wochen in Quarantäne | Erste Familienkonferenz

Müns­ter, 05.04.2020

Einen schö­nen Sonntag,

wün­sche ich Ihnen.

Seit dem 9. März, also seit jetzt vier Wochen, sind mei­ne Frau und ich in häus­li­cher Qua­ran­tä­ne. Das hat Grün­de, denn ich gehö­re gleich drei­fach zu den Risi­ko­grup­pen. Ich bin 73, habe ein vor­ge­schä­dig­tes Herz und ein geschwäch­tes Immun­sys­tem. Des­halb wer­de ich wohl so lan­ge zuhau­se blei­ben müs­sen, bis ein wirk­sa­mes Medi­ka­ment gegen das Coro­na­vi­rus ver­füg­bar ist oder man sich – wie gegen die Grip­pe – imp­fen las­sen kann. Das War­ten dar­auf fie­le mir leich­ter, wenn ich mir nicht Sor­gen machen müss­te um die Jün­ge­ren und um alle, die jetzt um Ihren Arbeits­platz oder ihren Betrieb ban­gen. Hof­fent­lich schaf­fen es die For­scher, schnell Medi­ka­men­te oder Impf­stof­fe zu entwickeln. 

Von uns Älte­ren, vor allem von unse­rem Ver­hal­ten, wird es ent­schei­dend abhän­gen, wann die übri­ge Gesell­schaft schritt­wei­se in die Nor­ma­li­tät zurück­keh­ren kann. Denn wenn wir uns anste­cken, ist die Wahr­schein­lich­keit eines schwe­re­ren Ver­laufs der Krank­heit deut­lich höher als bei Jün­ge­ren. Das bedeu­tet, dass vor allem Älte­re im Kran­ken­haus behan­delt wer­den müs­sen, wenn sie sich mit dem Coro­na­vi­rus ange­steckt haben. Weil unser Gesund­heits­sys­tem nicht über­for­dert wer­den darf, wenn jede und jeder Erkrank­te opti­mal behan­delt und ver­sorgt wer­den soll, müs­sen wir Älte­re es ent­las­ten, indem wir uns mög­lichst nicht anstecken.

Schulden zur Rettung sind richtig

Unse­re Situa­ti­on ist – dar­über bin ich mir sehr im Kla­ren – kom­for­ta­bel im Ver­gleich zu den aller­meis­ten ande­ren. Mei­ne Frau und ich leben in einem Rei­hen­haus, haben einen klei­nen Gar­ten und kön­nen uns Lie­fer­diens­te leis­ten oder Nach­barn um Ein­kaufs­hil­fe bit­ten. Ich muss mir als Pen­sio­när nicht die Sor­gen um unser Ein­kom­men machen wie Selbst­stän­di­ge, Gast­wir­te, Ein­zel­händ­ler oder Beschäf­tig­te, die um ihren Arbeits­platz fürchten.

Die Bun­des­re­gie­rung und unse­re Lan­des­re­gie­rung in NRW haben unter­schied­li­che Pro­gram­me auf­ge­legt, um die­sen wirt­schaft­lich beson­ders Betrof­fe­nen mög­lichst gut durch die Kri­se zu hel­fen. Dank der frei­wil­li­gen Wochen­end­ar­beit von 160 Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­tern der Bezirks­re­gie­rung Müns­ter konn­ten tau­sen­de Anträ­ge in Rekord­zeit bewil­ligt wer­den. Alle Betei­lig­ten, an der Spit­ze die Regie­rungs­prä­si­den­tin Doro­thee Fel­ler, haben hier Groß­ar­ti­ges geleistet. 

Es ist rich­tig, dass sich Bund und Land für die­se Ret­tungs­schir­me und Finanz­hil­fen ver­schul­den. Zum Glück hat die Poli­tik der „schwar­zen Null“ in den ver­gan­ge­nen Jah­ren dazu bei­getra­gen, dass jetzt die Spiel­räu­me für eine „Coro­na-Ver­schul­dung“ vor­han­den sind. 

Wenn es nach der Kri­se dar­um gehen wird, dar­über zu spre­chen, wie die­se Schul­den getilgt wer­den sol­len, müs­sen die Las­ten gerecht ver­teilt und sozia­le Här­ten mög­lichst aus­ge­gli­chen wer­den. Das wird für Men­schen in mei­ner eher pri­vi­le­gier­ten Situa­ti­on höhe­re Steu­ern bedeu­ten. Ich fin­de das richtig.

Ein Straßenbild vor dem Haus

Am schwers­ten fällt mei­ner Frau und mir, dass wir jetzt unse­re Kin­der und Enkel nicht mehr sehen kön­nen. Ich den­ke, das geht den meis­ten so, die jetzt in häus­li­cher Qua­ran­tä­ne leben. Zum Glück müs­sen wir uns um ihre Gesund­heit nicht so gro­ße Sor­gen machen, weil sie nicht zu den Risi­ko­grup­pen gehö­ren und im Fall einer Anste­ckung mit einem „mil­den Ver­lauf“ rech­nen kön­nen, wie die Viro­lo­gen sagen.

„Nicht mehr sehen kön­nen…“ ist zum Glück nur halb rich­tig. Denn wir sky­pen viel mit­ein­an­der. Mei­ne Frau liest den jün­ge­ren Enkeln in Düs­sel­dorf, Mün­chen und Müns­ter abends per Video­kon­fe­renz vor. Alle kön­nen nicht nur ihre Oma, son­dern auch die Bil­der in den Büchern sehen.

Auch beim Home­schoo­ling sind wir „ein­ge­spannt“. Mei­ne Frau macht mit dem sie­ben­jäh­ri­gen Erik die Mathe­auf­ga­ben, und ich fri­sche mit dem 13-jäh­ri­gen Jan Phil­ipp mei­ne Geschichts­kennt­nis­se auf. Auf­ga­ben zur Indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on und den Ansich­ten von Karl Marx und Adam Smith haben wir zusam­men erle­digt. Jetzt ist der Deut­sche Bund dran und die Ent­wick­lung zum Deut­schen Reich 1871.

Vor­ges­tern fan­den wir ein schö­nes Stra­ßen­bild vor unse­rem Haus. Unse­re Enke­lin­nen Pia und Anni­ka, die in Müns­ter woh­nen, waren mit ihrer Mama vor­bei­ge­kom­men und hat­ten mit Mal­krei­de Blu­men auf den Bür­ger­steig vor unse­rem Haus gemalt und einen lie­ben Gruß dazu geschrieben. 

Trotz Qua­ran­tä­ne ist es wich­tig, an die fri­sche Luft zu kom­men. Das bringt nicht nur auf ande­re Gedan­ken, son­dern stärkt auch die Immun­ab­wehr. Außer­dem soll man sich gera­de auch als älte­rer Mensch genug bewe­gen. Wir gehen meist mit unse­rem Dackel Min­na in den Park Sent­ma­ring. Viel­leicht täu­sche ich mich. Aber frü­her sind mir die vie­len Väter nicht auf­ge­fal­len, die jetzt mit ihren klei­nen Kin­dern unter­wegs sind. Anders als noch vor eini­gen Wochen tref­fen wir heu­te aber nur ein­zel­ne Jog­ger oder Spa­zier­gän­ger, die wie wir ihre Hun­de aus­füh­ren. In grö­ße­ren Grup­pen steht oder sitzt schon seit Tagen nie­mand mehr zusammen. 

Für Face­book und Twit­ter habe ich jetzt noch mehr Zeit. Zwar schrei­be ich nach wie vor zu so ziem­lich allen The­men. Aber der Schwer­punkt liegt jetzt ein­deu­tig bei Coro­na. Ich tei­le fach­lich fun­dier­te Infor­ma­tio­nen und ver­su­che vor allem, zu einem gesell­schaft­li­chen Kli­ma bei­zu­tra­gen, das uns hilft, die Kri­se bes­ser durch­zu­ste­hen. Es macht näm­lich einen him­mel­wei­ten Unter­schied, ob wir die Her­aus­for­de­run­gen soli­da­risch ange­hen, oder ob jede oder jeder ego­is­tisch nur auf sich schaut. Und wir kom­men bes­ser durch mit Zuver­sicht als mit über­trie­be­nen Ängsten.

Nie wurde die Freiheit so eingeschränkt

Manch­mal kom­me ich mir vor wie ein klei­nes Teil­chen in einem gro­ßen Expe­ri­ment. Das Coro­na­vi­rus bedroht alle Län­der die­ser Welt mehr oder weni­ger gleich­zei­tig. Das bedeu­tet: Man kann nicht weg­lau­fen. Es wäre wie beim Wett­ren­nen zwi­schen Hase und Igel: Wohin wir auch kämen, der Igel wäre schon da. Wahr­schein­lich sieht das Virus des­halb so sta­che­lig aus. 

Seit das Grund­ge­setz gilt, wur­den unse­re Grund- und Frei­heits­rech­te noch nicht in dem Maß ein­ge­schränkt wie jetzt. Wir dür­fen uns nicht mehr mit ande­ren tref­fen. Restau­rants und Buch­lä­den wer­den geschlos­sen. Kein Spiel­be­trieb mehr im Sport. Got­tes­diens­te nur noch gestreamt. Das alles in atem­be­rau­ben­der Geschwin­dig­keit beschlos­sen, ver­fügt und durch­ge­setzt. Geset­ze dafür wer­den mit hei­ßer Nadel gestrickt, denn jeder Tag zählt.

Wir akzep­tie­ren die­se Maß­nah­men, tra­gen sie mit und hal­ten uns dran, weil wir hof­fen, dass wir so bes­ser durch die Kri­se kom­men. Aber wir soll­ten dar­auf bestehen, dass die neu­en Geset­ze, die den Staat zu so weit­rei­chen­den Maß­nah­men ermäch­ti­gen, nach dem Ende der Kri­se auto­ma­tisch wie­der außer Kraft tre­ten. Nur so kön­nen wir aus­schlie­ßen, dass die „Coro­na-Ermäch­ti­gun­gen“ irgend­wann vom Staat für ganz ande­re Zwe­cke miss­braucht wer­den. Den unga­ri­schen Weg darf Deutsch­land nicht gehen.

Auch wenn die Kri­se man­che Vor­sor­ge-Lücke deut­lich gezeigt hat, müs­sen wir sorg­fäl­tig und in Ruhe Bilanz zie­hen, um das Rich­ti­ge aus Coro­na zu ler­nen. Das geht nur in Gesetz­ge­bungs­ver­fah­ren, in denen alle Aspek­te sorg­fäl­tig mit­ein­an­der abge­wo­gen wer­den. Nur so las­sen sich unwill­kom­me­ne Neben­wir­kun­gen eini­ger­ma­ßen ver­mei­den. Sol­che Gesetz­ge­bungs­ver­fah­ren brau­chen Zeit, die wir jetzt nicht haben. 

Die jet­zi­gen Ein­schrän­kun­gen die­nen unse­rer Gesund­heit. Aber lebens­wert bleibt unser Leben nur, wenn wir es so frei gestal­ten kön­nen, wie unse­re Ver­fas­sung es garantiert. 

In einer Woche ist Ostern. Wir wer­den nicht so fei­ern kön­nen wie sonst. Es wird Kar­frei­tag kei­ne Staus auf den Auto­bah­nen geben, weil wir zu Hau­se blei­ben müs­sen. Statt uns wie jede Ostern mit Kin­dern, Enkeln und der Fami­lie unse­rer Geschwis­ter zu tref­fen, berei­ten wir eine Zoom-Kon­fe­renz vor. Es sind ganz neue Erfah­run­gen mensch­li­cher Nähe, die wir in die­sen Zei­ten phy­si­scher Distanz machen können.

Dazu gehört auch das „Fens­ter-Kon­zert“ von Jean Clau­de Sefe­ri­an, gege­ben aus dem Fens­ter sei­ner Wohnung.

Ich wün­sche Ihnen damit einen schö­nen Sonn­tag und dann auch fro­he Ostern.

Blei­ben wir Demo­kra­ten – und blei­ben Sie gesund.

Ihr

Ruprecht Polenz