Carla Reemtsmas erste Kolumne | Was nach der Krise möglich wird

Müns­ter, der 24.05.2020

Lie­be Leser:innen,

am Mitt­woch haben wir pro­tes­tiert. In Dat­teln, in Ber­lin und in Müns­ter. Am Sams­tag erneut. In der Stu­ben­gas­se, vor dem Schloss, am Hafen-, Ser­va­tii- und am Bre­mer Platz. Was vor ein paar Wochen kei­ne zwei Zei­len in den Nach­rich­ten wert gewe­sen wäre, ruft in die­sen Zei­ten direkt ein befremd­li­ches Gefühl her­vor. Pro­test und das Hoch­hal­ten der Ver­samm­lungs­frei­heit bringt einem vor allem ein Bild in den Sinn: dicht­ge­dräng­te Men­schen­mas­sen, die sich nicht ein­mal durch Abstands­re­geln von Rechts­extre­mis­ten und Anti­se­mi­tin­nen abgrenzen. 

Natür­lich haben wir, die Akti­vis­tin­nen von „Fri­days For Future“, Green­peace, See­brü­cke und Co. nicht gegen eine ver­meint­li­che Impf­pflicht oder eine Dik­ta­tur von Bill Gates pro­tes­tiert. Statt­des­sen tra­gen wir die The­men auf die Stra­ßen, über die wir vor Coro­na noch alle gemein­sam dis­ku­tiert haben: die Kli­ma­kri­se.Die Situa­ti­on in den Geflüch­te­ten­la­gern auf den grie­chi­schen Inseln. Das Kraft­werk Dat­teln 4. Der Aus­bau der B51 bei Müns­ter. Die­se Pro­ble­me ver­schwin­den in der Pan­de­mie zwar aus dem poli­ti­schen Blick­feld, aber sie sind damit nicht weg. Im Gegen­teil: Durch unser Weg­se­hen blei­ben sie wei­ter­hin unge­löst und unbe­ant­wor­tet. Wer in die­ser Zeit Pro­test orga­ni­siert – mit Abstand, in klei­nen Grup­pen, ohne Ver­schwö­rungs­er­zäh­lun­gen – kann sich zwei Din­gen sicher sein: der an Drang­sa­lie­rung gren­zen­den Auf­merk­sam­keit der Ord­nungs­be­hör­den und dem Gefühl der Aus­sichts­lo­sig­keit, jetzt poli­tisch Gehör zu finden. 

In den ver­gan­ge­nen Wochen hat das Coro­na­vi­rus nicht nur das Ver­ständ­nis von Gesell­schaft durch­ein­an­der­ge­wir­belt, son­dern auch das Instru­men­ta­ri­um erprob­ter poli­ti­scher Kri­sen­be­wäl­ti­gungs-Maß­nah­men. Ein Virus lässt sich eben weder weg­re­gu­lie­ren noch diplo­ma­tisch weg­ap­pel­lie­ren. Sel­ten wur­de der Ziel­kon­flikt zwi­schen Frei­heit (tun und las­sen, was man will) und Sicher­heit (Aus­brei­tung des Coro­na-Virus ver­hin­dern) deut­li­cher sicht­bar. Sel­ten war aber auch genau die­ser Kon­flikt zwi­schen Frei­heit (alles so wie vor Coro­na) und Sicher­heit (alles so wie vor Coro­na) so verworren. 

Inmit­ten der Coro­na-Pan­de­mie wird immer deut­li­cher, dass wir die­se Kri­se nur gemein­schaft­lich bewäl­ti­gen wer­den. Weder Ord­nungs­amts­mit­ar­bei­ter noch Poli­zis­tin­nen kön­nen Hän­de­wa­schen oder Abstands­re­geln durch­set­zen. Hier brau­chen wir alle die Mün­dig­keit und Soli­da­ri­tät unse­rer Mit­men­schen. Plötz­lich ist es jeder Ein­zel­ne, der durch umsich­ti­ges Han­deln im Pri­va­ten die Gesell­schaft ent­we­der wei­ter in die Kri­se stür­zen – oder aber mit her­aus­füh­ren kann. Wie genau das aus­se­hen muss und kann, hat Ruprecht Polenz bereits ver­gan­ge­ne Woche an die­ser Stel­le beschrieben. 

Doch bei all den Debat­ten über das Virus und sei­ne Fol­gen kann ein Fak­tor schnell zu kurz kom­men: Nie haben wir stär­ker gemerkt, was uns als Gesell­schaft eigent­lich aus­macht. Dass wir mehr sind als die Anein­an­der­rei­hung von Arbei­ten, Schla­fen und Essen zeigt sich dort, wo es in die­sen Wochen gespens­tisch still bleibt. Die Din­ge, die dem Prin­zi­pal­markt Leben ein­hau­chen, den Geist in Uni­ge­bäu­de tra­gen, Ver­eins­hei­me mit Kin­der­ge­brüll fül­len, sind jetzt aus unse­rem All­tag gestri­chen – mit ver­hee­ren­den Fol­gen für unse­re Zivilgesellschaft.

Wenn Gesell­schaft mehr sein will als eine zufäl­li­ge Anhäu­fung von Men­schen an einem bestimm­ten Ort, brau­chen wir gemein­sa­me Erleb­nis­se in rea­len Räu­men. Auch wenn es abge­dro­schen klingt: Gesell­schaft ist das, was wir dar­aus machen – auch und gera­de wäh­rend der Pan­de­mie. Wie viel das sein kann, haben Müns­te­ra­ne­rin­nen und Müns­te­ra­ner immer wie­der gezeigt. Der gemein­sa­me Bau neu­er Sport­an­la­gen, Pro­tes­te für die Auf­nah­me Geflüch­te­ter und gegen die Fäl­lung der Pla­ta­nen am Han­sa­ring, stu­den­ti­sche Nach­hil­fe für alle, Pro­me­na­den­floh­märk­te, Fahr­rad­re­pair-Cafés und, und, und. 

Jetzt zeigt sich, was politisch möglich ist

Ihr soli­da­ri­sches Gesicht hat die Gesell­schaft zu Beginn der Kri­se schnell gezeigt: Nach­bar­schafts­netz­wer­ke, Ein­kaufs­hil­fen, Gesprächs­hot­lines tauch­ten von Müns­ter bis Mün­chen, von Chem­nitz bis Gre­ven in rasen­der Geschwin­dig­keit über­all auf. Das Mas­ken­nä­hen wur­de zum Volks­sport und enga­gier­te Leh­re­rin­nen brach­ten Schü­lern ohne Zugang zu Com­pu­ter oder Dru­cker Mate­ria­li­en nach Hau­se. In der aku­ten ers­ten Pha­se der Kri­se hat die Zivil­ge­sell­schaft an vie­len Stel­le Unglaub­li­ches geleis­tet.

Wer­den wir in der Lage sein, uns nun vor­sich­tig auch die öffent­li­chen Räu­me gemein­sam wie­der anzu­eig­nen, die vor der Kri­se Räu­me des Aus­tau­schens, Begeg­nens, Gedan­ken­an­sto­ßens, Zusam­men­kom­mens waren?

In der Pan­de­mie zeigt sich, was poli­tisch mög­lich ist, wenn die Dring­lich­keit vor der eige­nen Nase ange­kom­men ist. Dann eröff­nen sich Mög­lich­kei­ten – sei­en es Geset­ze oder finan­zi­el­le Mit­tel –, die vor weni­gen Wochen noch unvor­stell­bar gewe­sen wären. Und plötz­lich erkennt auch eine Gesell­schaft gezwun­ge­ner­ma­ßen, dass es neben ihrer Lie­be zum Sta­tus Quo auch ande­re Wege gibt. Und es zei­gen sich Hand­lungs­mög­lich­kei­ten für eine Gesell­schaft, die sich sonst vor­nehm­lich mit maxi­mal zag­haf­ten Varia­tio­nen des Sta­tus Quo auseinandersetzt. 

Gera­de des­halb sind inmit­ten der Kri­se die gesell­schaft­li­chen Auf­ga­ben grö­ßer und wich­ti­ger denn je. Einer­seits, weil kei­ne Lan­des­re­gie­rung dafür gesorgt, dass Leh­rer und Schü­le­rin­nen mit den tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten für digi­ta­len Unter­richt aus­ge­stat­tet sind, Behelfs­mas­ken in sozia­len Ein­rich­tun­gen zur Ver­fü­gung ste­hen oder Sport­ver­ei­ne Mög­lich­kei­ten für das Coro­na-kon­for­me Außen­trai­ning haben. Noch immer hängt die Inter­pre­ta­ti­on amt­li­cher Ver­ord­nun­gen und ver­klau­su­lier­ter Vor­ga­ben maß­geb­lich von uns ab. Wir erin­nern uns: Gesell­schaft ist das, was wir draus machen. 

Ande­rer­seits wer­den neu­er­dings fast im Minu­ten­takt poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen getrof­fen, deren Trag­wei­te erst im Nach­hin­ein deut­lich wird. Wäh­rend im letz­ten Jahr der Groß­teil der wis­sen­schaft­li­chen For­de­run­gen zur Ein­däm­mung der Kli­ma­kri­se abge­sagt wur­den, lässt sich die Bun­des­re­gie­rung in die­sen Tagen nur zu gern auf die Wün­sche der Auto­lob­by ein. Wäh­rend die Auto­lob­by mit einem dreis­ten Selbst­be­wusst­sein öko­lo­gisch, sozi­al und wirt­schaft­lich unsin­ni­ge Kauf­prä­mi­en for­dert, ste­hen die städ­ti­schen Bus- und Bahn­be­trei­ber vor exis­ten­zi­el­len Finan­zie­rungs­pro­ble­men. Wäh­rend an der tür­kisch-grie­chi­schen Gren­ze vor weni­gen Wochen Geflüch­te­te von Grenz­po­li­zei erschos­sen wur­den, nimmt Deutsch­land 47 Kin­der aus den über­füll­ten Lagern auf. Wäh­rend die Luft­han­sa mit neun Mil­li­ar­den Euro Steu­er­gel­dern ohne öko­lo­gi­sche oder sozia­le Bedin­gun­gen geret­tet wird, sol­len sich Pfle­ge­kräf­te mit fei­er­abend­li­chen Klatsch­kon­zer­ten zufrie­den­ge­ben, weil sich die Gro­ße Koali­ti­on bei der Finan­zie­rung nicht einig wird. Die­se Ent­schei­dun­gen fal­len nicht vom Him­mel, sie wer­den von Minis­te­rin­nen im Regie­rungs­vier­tel getrof­fen. Wir kön­nen den Lob­by­is­ten mit dem bes­ten Draht ins Kanz­ler­amt das Feld über­las­sen, oder wir kön­nen uns ein­mi­schen. Und wie­der: Gesell­schaft ist das, was wir draus machen.

Unerwartete Allianzen formen sich

Pas­sen­der­wei­se ent­schei­det die Bun­des­re­gie­rung in der kom­men­den Woche über ein mil­li­ar­den­schwe­res Wirt­schafts­be­le­bungs­pa­ket. Es wird eine Wei­chen­stel­lung für den Weg aus der Coro­na­kri­se sein und maß­geb­lich dar­über ent­schei­den, ob wir mit Steu­er­mil­li­ar­den krampf­haft an den Struk­tu­ren und Gewohn­hei­ten der Vor-Coro­na-Zei­ten fest­hal­ten, oder ob wir uns tat­säch­lich ernst gemein­te Gedan­ken über eine sozi­al, öko­no­misch und öko­lo­gisch nach­hal­ti­ge und kri­sen­fes­te Welt nach der Pan­de­mie machen. 

Es for­mie­ren sich uner­war­te­te Alli­an­zen in die­sen Tagen, wenn etwa die Flug­be­glei­ter-Gewerk­schaft UFO bei den Ver­hand­lun­gen über die Ret­tung der Luft­han­sa nicht nur den Man­gel an Garan­tien für die Mit­ar­bei­ten­den moniert, son­dern auch die feh­len­den Klimaziele. 

Den Erfolg der Maß­nah­men an schnel­lem Wachs­tum bemes­sen zu wol­len, ver­kennt die Dra­ma­tik und All­um­fas­sen­heit der Kri­se. Wenn kurz­fris­ti­ger wirt­schaft­li­cher Erfolg ande­re Kri­sen ver­schärft, drin­gend not­wen­di­ge Trans­for­ma­ti­on ver­un­mög­licht und nicht nur auf Kos­ten des Kli­mas son­dern auch der wach­sen­den sozia­len Ungleich­heit geht, dann haben die Maß­nah­men gar nichts für eine nach­hal­ti­ge Kri­sen­be­wäl­ti­gung geleis­tet. Dann haben sie vor allem Kos­ten in unvor­stell­ba­rer Höhe für die kom­men­den Gene­ra­tio­nen ver­ur­sacht – in Form von Schul­den, ver­schlepp­ten Inves­ti­tio­nen und auf der Stre­cke geblie­be­nen poli­ti­schen Problemen. 

„Phy­si­cal distancing“ hat die zivil­ge­sell­schaft­li­chen Räu­me viel­fach leer­ge­fegt. Es braucht Krea­ti­vi­tät und Umsicht, um sie wie­der zurück­zu­er­obern. In Anbe­tracht der Ent­schei­dun­gen der kom­men­den Wochen ist es aber umso wich­ti­ger, sie mit den Stim­men für eine zukunfts­fä­hi­ge Kri­sen­po­li­tik zu fül­len, die im Gewirr der­viel­fach lau­te­ren Lob­by­is­tin­nen und Coro­na-Skep­ti­ker nicht so ein­fach aus­ge­blen­det wer­den kön­nen. Die Maß­stä­be, die wir jetzt set­zen, wer­den dar­über ent­schei­den, ob wir auch in eini­gen Jah­ren noch von erfolg­rei­cher Kri­sen­be­wäl­ti­gung spre­chen können. 

Poli­tisch ist Unge­ahn­tes mög­lich in die­sen Zei­ten. Machen wir was draus.

Ihre
Car­la Reemtsma

Über Carla Reemtsma

Im Janu­ar 2019 hat Car­la Reemts­ma den ers­ten Kli­ma­streik in Müns­ter orga­ni­siert. Es war eine klei­ne Kund­ge­bung im Nie­sel­re­geln vor dem his­to­ri­schen Rat­haus am Prin­zi­pal­markt. Weni­ge Wochen spä­ter sprach das gan­ze Land über die Kli­ma-Pro­tes­te der „Fri­days For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Müns­ter beschloss das Ziel Kli­ma­neu­tra­li­tät 2030. Inzwi­schen ist Car­la Reemts­ma eine der bekann­tes­ten deut­schen Kli­ma­ak­ti­vis­tin­nen. Gebo­ren wur­de sie in Ber­lin. In Müns­ter lebt sie seit 2016. Sie stu­diert Poli­tik und Wirt­schaft. Und wenn sie kei­ne Kli­ma­streiks orga­ni­siert, trai­niert sie den Ver­eins­nach­wuchs im Geräteturnen.