Carla Reemtsmas Kolumne | Abwarten ist unbequemer

Müns­ter, 30. Sep­tem­ber 2020

Lie­be Leser:innen,

die Bil­der, die in die­sen Tagen die Titel­sei­ten der Zei­tun­gen und die Nach­rich­ten­sen­dun­gen bestim­men, sind apo­ka­lyp­tisch. Wohin man schaut – die Welt brennt. Die Wäl­der Kali­for­ni­ens, das Geflüch­te­ten­la­ger Moria auf Les­bos, der Regen­wald im Ama­zo­nas. Längst sind es nicht mehr nur die Auslandskorrespondent:innen vor Ort, die die­sen The­men ihre Auf­merk­sam­keit wid­men: Bürger:innen dis­ku­tie­ren und pro­tes­tie­ren, und auch die Poli­tik scheint plötz­lich han­deln zu wol­len. Von allen Ecken des Erd­balls, auf Twit­ter und im Fern­se­hen sind Soli­da­ri­täts­be­kun­dun­gen zu hören. Man wol­le sich des The­mas anneh­men, Ver­ant­wor­tung über­neh­men, Lösun­gen fin­den. Der Zeit­punkt scheint zu pas­sen, es wirkt mensch­lich, prag­ma­tisch – rich­ti­ge Anpacker:innen eben. 

Dabei kom­men die Hil­fe und die Suche nach Lösun­gen Jah­re oder sogar Jahr­zehn­te zu spät. Der aktu­ell wie­der über­all zu beob­ach­ten­de Aktio­nis­mus als Ant­wort auf Kata­stro­phen den Namen Poli­tik kaum ver­dient. Was wir gera­de erle­ben, sind alle­samt Kata­stro­phen mit Ansa­ge: Seit Jahr­zehn­ten klä­ren Wissenschaftler:innen über die Ursa­chen und Fol­gen der Kli­ma­kri­se und über mög­li­che Bekämp­fungs­maß­nah­men auf. Und nicht nur die Kli­ma­kri­se kommt mit Ansa­ge. Die Zustän­de in Moria waren schon vor dem Brand für alle offen sicht­bar men­schen­un­wür­dig – jetzt sind sie lebensgefährlich. 

Betroffene werden zum Spielball

Die­ser Reflex, zu war­ten, bis das Aus­hal­ten unmög­lich wird, und zu hof­fen, dass der Kata­stro­phen­fall nicht ein­tritt, ist so falsch wie gefähr­lich. Gefähr­lich ist er – offen­sicht­lich –, weil das Ein­tre­ten von ver­meid­ba­ren oder zumin­dest abzu­mil­dern­den Kata­stro­phen nicht nur in Kauf genom­men, son­dern ein­kal­ku­liert wird. 

Die Beweg­grün­de dahin­ter sind erst­mal neben­säch­lich; das bewuss­te Ris­kie­ren ver­meid­ba­rer Kata­stro­phen ist im Grund­satz schon falsch und wider­spricht dem Kern­ge­dan­ken demo­kra­ti­scher Poli­tik. Denn nur sel­ten kom­men poli­ti­sche Kata­stro­phen so plötz­lich wie die Reak­tor­ka­ta­stro­phe in Fuku­shi­ma. In den meis­ten Fäl­len kom­men sie schlei­chend, ihre Fol­gen tref­fen eini­ge frü­her und hef­ti­ger als ande­re. Die Betrof­fe­nen wer­den zum Spiel­ball über­ge­ord­ne­ter poli­ti­scher Interessen. 

Die Kli­ma­kri­se und der Brand in Moria ent­spre­chen – wie vie­le ande­re soge­nann­te „Kata­stro­phen“ – inso­fern nicht der eigent­li­chen Vor­stel­lung von Kata­stro­phen als unvor­her­seh­ba­re Ereig­nis­se, auf die man nur reagie­ren kann, auf die man sich aber nicht prä­ven­tiv vor­be­rei­ten könn­te, um sie zu ver­hin­dern. Wenn Politiker:innen aller­dings die immer wei­ter vor­an­schrei­ten­den Kri­sen so lan­ge aus­hal­ten, bis apo­ka­lyp­ti­sche Fotos den Hand­lungs­druck maxi­mal gestei­gert haben, dann fes­ti­gen sie damit genau die­sen Ein­druck. Die sich anbah­nen­den Pro­ble­me wer­den durch die Igno­ranz der Mäch­ti­gen in den Hin­ter­grund gerückt, bis sie in einem tra­gi­schen Kata­stro­phen­er­eig­nis gip­feln und sich Politiker:innen durch anpa­ckend-beherzt wir­ken­des Han­deln als empa­thi­sche Macher:innen, die Ver­ant­wor­tung über­neh­men, pro­fi­lie­ren können. 

Die Politik muss mehr als nur reagieren

Die Per­fi­di­tät die­ser Art von Kata­stro­phen­po­li­tik liegt in genau die­sem schein­ba­ren Wider­spruch, den wir auch in der Coro­na-Pan­de­mie erle­ben konn­ten: Der­je­ni­ge, der bis zur Kata­stro­phe abwar­tet und dann aktio­nis­tisch Poli­tik macht, kommt bes­ser weg als der­je­ni­ge, der früh auf sich abzeich­nen­de Kri­sen reagiert, Kata­stro­phen abwen­det und gestal­ten­de Poli­tik macht. 

Die dahin­ter­ste­hen­de Fra­ge dar­über, wie wir Poli­tik machen wol­len, wird manch­mal als Ent­schei­dung zwi­schen „chan­ge by design or chan­ge by desas­ter“ bezeich­net. Dabei ist klar: Das soll­te eigent­lich kei­ne „oder“-Frage, „chan­ge by desas­ter“ soll­te kei­ne Opti­on sein. Die Auf­ga­be von Poli­tik ist mehr als nur aku­tes Reagie­ren auf Kri­sen, sie soll­te Gesell­schaft gestal­ten, und das nicht erst, wenn die Zustän­de untrag­bar sind. Es ist ja nicht so, dass nur aktio­nis­ti­sche Poli­tik gemacht wird. Aber gera­de in den gro­ßen, viel debat­tier­ten Fra­gen der Kli­ma­po­li­tik und der Migra­ti­ons­po­li­tik ist ein beträcht­li­cher Teil der poli­ti­schen Maß­nah­men ent­we­der reak­ti­ve Kata­stro­phen­po­li­tik oder zemen­tiert den Sta­tus quo fest. 

Dabei hat unse­re Gesell­schaft mehr ver­dient: eine Poli­tik, die die Umbrü­che mit den und für die Men­schen gestal­tet, „chan­ge by design“ eben. Trans­for­ma­ti­ve Poli­tik mag viel­leicht weni­ger Bei­fall und Leit­ar­ti­kel brin­gen – sie kommt aber ihren demo­kra­ti­schen Auf­ga­ben nach, die Gesell­schaft für die Bürger:innen zum Bes­se­ren zu gestal­ten, Frei­hei­ten und Men­schen­rech­te zu schüt­zen und Gefah­ren und Unge­rech­tig­kei­ten anzu­ge­hen, anstatt sie abzuwarten. 

Politik braucht den Einsatz von Bürger:innen

Das Wis­sen dazu ist in den aller­meis­ten Fäl­len da. Gefähr­li­che Kreu­zun­gen sind auch vor schwe­ren Unfäl­len bekannt, die zer­stö­re­ri­schen Fol­gen der Kli­ma­kri­se schon vor mas­sen­haf­ten Natur­ka­ta­stro­phen, die Gefah­ren der Flucht übers Mit­tel­meer auch ohne ertrun­ke­ne Kin­der. Und nicht nur das Wis­sen ist da, viel­fach machen Bürger:innen auch auf die sich anbah­nen­den Kri­sen und ihre oft schon weit vor der eigent­li­chen Kata­stro­phe ein­tre­ten­den Pro­ble­me aufmerksam. 

Die Umbrü­che und Kri­sen, die die Mega­trends des 21. Jahr­hun­derts – Glo­ba­li­sie­rung, Digi­ta­li­sie­rung, Indi­vi­dua­li­sie­rung – mit sich brin­gen wer­den, wird auch eine noch so ambi­tio­nier­te Poli­tik nicht ver­hin­dern kön­nen. Aber anstatt so lan­ge am bekann­ten Sta­tus quo fest­zu­hal­ten, bis Han­deln alter­na­tiv­los scheint und die Han­deln­den als Macher:innen erschei­nen lässt, könn­te eine Poli­tik, die sich der Pro­ble­me früh­zei­tig annimmt, all die­se Ver­än­de­run­gen im Sin­ne der Men­schen gestalten. 

Erfah­rungs­ge­mäß reicht es dabei nicht, alle paar Jah­re sein Kreuz bei einer der Wah­len bei den Kandidat:innen zu set­zen, die sich Wan­del auf die Fah­ne oder bes­ser Wahl­pla­ka­te schrei­ben. Im Rück­blick auf die ver­gan­ge­nen Jah­re zeigt sich, dass eine men­schen­freund­li­che­re, zukunfts­ge­stal­ten­de Poli­tik den uner­müd­li­chen Ein­satz der Bürger:innen braucht. Sei es in der Schüler:innenvertretung, im Rad­ver­ein oder auf den Stra­ßen – ohne den Druck, ohne das stän­di­ge Auf­merk­samm­a­chen, ist das Aus­har­ren im Sta­tus quo für die Entscheidungsträger:innen oft­mals zu bequem. Dabei ist klar: Abwar­ten ist auf Dau­er viel unbequemer. 

Ich wün­sche Ihnen noch eine schö­ne Woche. 

Vie­le Grüße

Ihre Car­la Reemtsma


Über die Autorin

Im Janu­ar 2019 hat Car­la Reemts­ma den ers­ten Kli­ma­streik in Müns­ter orga­ni­siert. Es war eine klei­ne Kund­ge­bung im Nie­sel­re­geln vor dem his­to­ri­schen Rat­haus am Prin­zi­pal­markt. Weni­ge Wochen spä­ter sprach das gan­ze Land über die Kli­ma-Pro­tes­te der „Fri­days For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Müns­ter beschloss das Ziel Kli­ma­neu­tra­li­tät 2030. Inzwi­schen ist Car­la Reemts­ma eine der bekann­tes­ten deut­schen Kli­ma­ak­ti­vis­tin­nen. Gebo­ren wur­de sie in Ber­lin. In Müns­ter lebt sie seit 2016. Sie stu­diert Poli­tik und Wirt­schaft. Und wenn sie kei­ne Kli­ma­streiks orga­ni­siert, trai­niert sie den Ver­eins­nach­wuchs im Geräteturnen.