Die Kolumne von Juliane Ritter | Eine Reform, aber eine enttäuschende

Müns­ter, 25. Dezem­ber 2022

Guten Tag,

ich hof­fe, Sie hat­ten einen schö­nen Hei­lig­abend und fin­den etwas Zeit für Ihre Fami­lie. Und viel­leicht ist auch gera­de jetzt Zeit, sich Gedan­ken über etwas zu machen, das uns alle betrifft. Die Medi­en der ver­gan­ge­nen Tage sind wie­der ein­mal voll mit Berich­ten über die zusam­men­bre­chen­de Gesund­heits­in­fra­struk­tur. Dies­mal schla­gen die Ret­tungs­diens­te und Kin­der­in­ten­siv­sta­tio­nen Alarm.

Ich habe mit Kin­der­kran­ken­pfle­ge­rin­nen von Inten­siv­sta­tio­nen gespro­chen und sie zu ihrer aktu­el­len Situa­ti­on befragt. Sie berich­ten, dass sie sich auch hier in Müns­ter durch die Infek­ti­ons­wel­le mit dem RS-Virus und Influ­en­za an der Gren­ze ihrer Kapa­zi­tä­ten sehen. Mehr­mals täg­lich kämen Anfra­gen zur Über­nah­me von Patient:innen in einem kri­ti­schen Zustand aus ande­ren Kran­ken­häu­sern, die dann quer durchs gan­ze Land geflo­gen wer­den müs­sen; immer wie­der gibt es auch Absa­gen. Die Anzahl der Anfra­gen habe ein neu­es Hoch erreicht. Sub­jek­tiv, so berich­ten die Pfle­ge­rin­nen, füh­le es sich an, als sei­en die Kin­der im Durch­schnitt auch jün­ger und die Infek­tio­nen hef­ti­ger als frü­her. Vie­le von ihnen müs­sen iso­liert wer­den, weil ihre Infek­te anste­ckend sind. Das macht die Arbeit wie­der­um aufwändiger. 

Und sie berich­ten, es gebe nun eine War­nung – die Ein­ar­bei­tung müs­se aus­fal­len, da man die Sta­tio­nen über­be­le­gen müss­te, wenn klei­ne­re Kli­ni­ken an ihre Ver­sor­gungs­gren­zen kom­men. Zuletzt arbei­te­te teil­wei­se auch weni­ger Per­so­nal auf den Sta­tio­nen, als Unter­gren­zen es vor­schrei­ben. Die­se Gren­zen sind gesetz­lich fest­ge­leg­te Min­dest­gren­zen. Sie sol­len Gefahr von Per­so­nal und Patient:innen abwen­den. Und die Gren­zen ste­hen bereits seit ihrer Ein­füh­rung in der Kri­tik, weil sie in vie­len Berei­chen der Pfle­ge zu nied­rig ange­setzt sind.

Es geht zu Lasten der Menschen

Die Unter­schrei­tung die­ser Gren­zen in Kri­sen­zei­ten, bis hin zu einer Tria­ge, egal in wel­chem deut­schen Kran­ken­haus, wird für Kin­der gefähr­lich und kann sogar töd­lich aus­ge­hen. Doch die der­zei­ti­ge Lösung des Gesund­heits­mi­nis­ters ist es, Sank­tio­nen bei einer Unter­schrei­tung in allen Berei­chen aus­zu­set­zen. Ope­ra­tio­nen wer­den abge­sagt, um Bet­ten­ka­pa­zi­tä­ten zu schaf­fen. Es geht alles zu Las­ten der chro­nisch kran­ken Kinder.

Die Pfle­ge­rin­nen erzäh­len mir: Jeden Tag, ob in einer Kri­se oder im nor­ma­len All­tag, der längst nicht mehr nor­mal ist, schaue man, wie viel Per­so­nal ver­füg­bar ist und wie vie­le Bet­ten belegt wer­den kön­nen. Die Fra­ge ist jeden Tag: Was kön­nen wir per­so­nell leis­ten? Und wird ein lebens­be­droh­lich kran­kes Kind war­ten müs­sen und mög­li­cher­wei­se ster­ben? Oder neh­men wir es auf und neh­men in Kauf, dass das Per­so­nal sich tei­len muss und wie­der ein­mal weni­ger Zeit bleibt für alle ande­ren Kin­der auf der Sta­ti­on, die in einem lebens­be­droh­li­chen Zustand sind? 

Meh­re­re Kol­le­gin­nen berich­ten, sie hät­ten es seit einem knap­pen Jahr­zehnt nicht erlebt, dass alle ver­füg­ba­ren Bet­ten ihrer Kin­der­in­ten­siv­sta­tio­nen zur Ver­fü­gung stan­den. Aktu­ell sind es wegen des Pfle­ge­not­stands weni­ger als die Hälf­te. Wenn eine Infek­ti­ons­wel­le kommt, zei­gen sich die Ver­säum­nis­se. Dann ste­hen die Kli­ni­ken mit dem Rücken zur Wand.

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Karl Lau­ter­bachs zwei­ter Vor­schlag, Pfle­gen­de auf die Sta­tio­nen zu ver­set­zen, die von der Kri­se betrof­fen sind, ist nicht neu. Bereits in den ers­ten Coro­na­wel­len soll­ten Pfle­gen­de von ande­ren Sta­tio­nen die Inten­siv­sta­ti­on ent­las­ten und die Kran­ken­häu­ser sich so „selbst helfen“.

Nun sol­len Pfle­gen­de, wel­che in ihren drei- bis fünf­jäh­ri­gen Aus­bil­dun­gen die Pfle­ge von Erwach­se­nen und derer sich doch sehr unter­schei­den­den Krank­heits­bil­der erlernt haben, auf Kin­der­in­ten­siv­sta­tio­nen aus­hel­fen. Eini­ge Kran­ken­häu­ser machen das, ande­re leh­nen es ab. 

Kolleg:innen aus der Erwach­se­nen­pfle­ge zu ver­set­zen ist nicht die Lösung des eigent­li­chen Pro­blems, son­dern nur eine Symptomtherapie.

Personalnot in allen Bereichen

In mei­nen Gesprä­chen hör­te ich von einer Kol­le­gin, die aus dem Inten­siv­be­reich für Erwach­se­ne in die Kin­der­in­ten­siv­pfle­ge gewech­selt ist. Bis sie voll­stän­dig ein­ge­ar­bei­tet gewe­sen sei, sei­en meh­re­re Mona­te ver­gan­gen, sag­te sie. Es habe viel Zeit gekos­tet, auf die­sem doch sehr frem­den Gebiet sicher zu werden.

Einen Feh­ler zu machen, der den Tod eines Kin­des zur Fol­ge hat, ist eine stän­di­ge Sor­ge. Dazu kommt, dass die Pfle­ge in allen Berei­chen unter mas­si­vem Per­so­nal­not­stand lei­det und Pfle­gen­de es leid sind, als Ver­fü­gungs­mas­se von einem Kri­sen­ge­biet ins nächs­te ver­scho­ben zu wer­den, nur weil die media­le und poli­ti­sche Auf­merk­sam­keit sich wendet.

Statt­des­sen for­dern Pfle­gen­de, Ärz­tin­nen und Ärz­te, Bünd­nis­se, Gewerk­schaf­ten und Ver­bän­de seit Jah­ren eine Abkehr vom pro­fit­ori­en­tier­ten Finan­zie­rungs­sys­tem. Der Anreiz soll nicht sein, Kos­ten zu sen­ken, um die Gewin­ne zu maxi­mie­ren. Wie viel Geld zur Ver­fü­gung steht, soll sich dar­an ori­en­tie­ren, wie viel für eine ange­mes­se­ne Behand­lung gebraucht wird. 

Die­se Grup­pen schla­gen seit Jah­ren Alarm. Beson­ders in die­sen Wochen häu­fen sich die Pres­se­mit­tei­lun­gen und State­ments, denn Karl Lau­ter­bach hat sei­ne Kran­ken­haus­re­form­plä­ne vor­ge­stellt. Er selbst nennt sie die „Revo­lu­ti­on der Kran­ken­haus­fi­nan­zie­rung“, doch eigent­lich hält der Minis­ter wei­ter­hin an dem von ihm mit­ein­ge­führ­ten Sys­tem fest, das auf Pro­fi­te fixiert ist und Men­schen­le­ben zu einem Kos­ten­fak­tor macht.

Die Kos­ten für Per­so­nal wer­den auch in Zukunft nicht sicher gedeckt sein. Die soge­nann­te Selbst­kos­ten­de­ckung soll für wei­te­re Berufs­grup­pen neben einem Teil der Pfle­ge aus­drück­lich nicht erwei­tert wer­den. Das bedeu­tet: Man zahlt wei­ter­hin geschätz­te Pau­schal­be­trä­ge, die unter Umstän­den nicht aus­rei­chen. Wie vie­le Ärz­tin­nen und Ärz­te, Ver­wal­tungs­be­schäf­tig­te, Physiotherapeut:innen und Pfle­gen­de in Not­auf­nah­men, Ope­ra­ti­ons­sä­len oder ande­ren Berei­chen der Kli­ni­ken beschäf­tigt wer­den, ent­schei­den die Krankenhausbetreiber:innen wei­ter­hin selbst.

Mit der Reform wird die Ver­sor­gung sogar schlech­ter: Kran­ken­häu­ser sol­len wei­ter­hin nicht grund­sätz­lich dafür bezahlt wer­den, dass Gesund­heits­ver­sor­gung auch Daseins­für­sor­ge ist. Geld bekom­men sie nur, wenn pro­fi­ta­ble Ope­ra­tio­nen oder Behand­lun­gen statt­fin­den. Dazu wird es wei­ter Fäl­le geben, für die es viel Geld gibt, und ande­re, die nicht ganz so lukra­tiv sind, etwa eine nor­ma­le Geburt. Des­halb schlie­ßen schon jetzt vie­le Kreiß­sä­le oder Geburts­sta­tio­nen. Sie ren­tie­ren sich ein­fach nicht. 

Die Reform ist keine Reform

Kin­der waren in die­sem Sys­tem schon immer ein Minus­ge­schäft. Sie benö­ti­gen mehr Zuwen­dung, mehr Per­so­nal, mehr Zeit. Im bestehen­den Sys­tem kann man das schlecht abrechnen.

Karl Lau­ter­bachs Reform ist kei­ne Revo­lu­ti­on. Die Spre­che­rin des „Bünd­nis­ses Kli­ni­k­ret­tung“ nann­te sie eine „neo­li­be­ra­le Neu­auf­la­ge“. Das passt schon eher, denn ihre Wir­kung ist deut­lich: Es sol­len wei­ter­hin Anrei­ze bestehen, Per­so­nal­kos­ten zu sen­ken. So erwirt­schaf­tet man wei­ter mit der Gesund­heit und dem Wohl der Men­schen Pro­fi­te. Und wenn Kli­ni­ken am Per­so­nal spa­ren, macht das einen Kran­ken­haus­auf­ent­halt immer gefährlicher.

Ich habe einen deut­schen Pfle­ger ken­nen­ge­lernt, der ein­mal in Oslo auf einer Kin­der­in­ten­siv­sta­ti­on hos­pi­tiert hat­te. Dort habe es zwei Pfle­ge­kräf­te für ein früh­ge­bo­re­nes Kind gege­ben. Die Auf­ga­ben sei­en klar ver­teilt gewe­sen: Eine Per­son habe sich um die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung geküm­mert, die ande­re Per­son sei durch­ge­hend an der Sei­te des Kin­des gewe­sen, um direkt ein­grei­fen zu kön­nen, wenn es unru­hig wur­de, Schmer­zen hat­te oder es Kom­pli­ka­tio­nen gab.

Wir als Bevöl­ke­rung müs­sen uns fra­gen: Was ist uns eine men­schen­wür­di­ge Gesund­heits­ver­sor­gung wert? Und was kön­nen wir machen, um die Poli­tik an ihrem Wort zu mes­sen? Wie kön­nen wir errei­chen, dass sich etwas ändert – für unse­re Liebs­ten, für die schwächs­ten Mit­glie­der unse­rer Gesell­schaft, auch für uns selbst? 

Ich wün­sche Ihnen schö­ne Weih­nachts­ta­ge, einen guten Start ins neue Jahr und vor allem: Gesundheit! 

Herz­li­che Grü­ße
Ihre Julia­ne Ritter

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Über die Autorin

Unse­re Kolum­nis­tin arbei­tet als Pfle­ge­kraft in einem Kran­ken­haus in Müns­ter. Sie schreibt in die­ser Kolum­ne dar­über, war­um sie ihren Beruf liebt. Und dar­über, wo es hakt und was in der Pfle­ge bes­ser lau­fen müss­te – grund­sätz­lich und in Müns­ter. Julia­ne Rit­ter ist nicht ihr rich­ti­ger Name. Sie schreibt unter einem Pseud­onym, damit sie frei über Schwie­rig­kei­ten und Miss­stän­de erzäh­len kann.

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