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Das große Wanken

Der Einzelhandel in Münster war immer stark. Doch dann kam Corona. Nun verschwinden sogar am Prinzipalmarkt die ersten Geschäfte. Sechs bis sieben Läden stehen vor dem Aus. Was ist passiert? Und wie geht es jetzt weiter? Ein Beitrag von Niklas Liebetrau.

von Eva Windhausen

Der Einzelhandel in Münster war immer stark. Doch dann kam Corona. Nun verschwinden sogar am Prinzipalmarkt die ersten Geschäfte. Sechs bis sieben Läden stehen vor dem Aus. Was ist passiert? Und wie geht es jetzt weiter?

Text: NIKLAS LIEBETRAU
Redaktion: RALF HEIMANN
Titelfoto: ANGELIKA WIESCHOLLEK

An diesem Freitagmorgen ist fast alles wie früher, wie in der Zeit vor Corona. Am Prinzipalmarkt sitzen die Straßenmusiker:innen in der Sonne und spielen „Hit the road Jack!“. Passant:innen schlendern unter den Giebelarkaden, manche mit Maske. Im Café an der St. Lamberti-Kirche sind nur noch wenige Stühle frei. Doch die Prachtstraße kränkelt. Auch in Münster, mit seiner starken und attraktiven Innenstadt, mit vielen inhabergeführten Geschäften. Denn der Einzelhandel ist bedroht. Und ist der Einzelhandel bedroht, dann ist es gleich die ganze Innenstadt.

RUMS liegt eine Liste von sechs Geschäften vor, die allein auf dem Prinzipalmarkt voraussichtlich schließen werden. Noch in diesem Jahr. So etwas hat es noch nie gegeben. Nicht in diesem Ausmaß.

Die Liste ist auf Grundlage mehrerer Gespräche mit Ladeninhaber:innen in der Innenstadt entstanden, mit Menschen aus der Stadtverwaltung und anderen, die ihre Stadt gut kennen. Da es bis zum heutigen Tag nicht möglich war, mit den betroffenen Ladeninhaber:innen oder den Immobilieneigentümer:innen zu sprechen, veröffentlichen wir die Liste jedoch nicht. RUMS möchte sich an Spekulationen nicht beteiligen.

Geschäfte stehen leer

Ein Wandel mit ungewissem Ausgang ist im vollen Gange. Das lässt sich kaum bestreiten. So bestätigt es Bernadette Spinnen, Leiterin von Münster Marketing, am Telefon. „Ich habe ebenfalls von sechs bis sieben Läden gehört, die auf dem Prinzipalmarkt schließen werden“, sagt sie. Um welche es sich handelt, möchte sie nicht verraten. Linus Weistropp, Geschäftsführer der Initiative Starke Innenstadt (ISI), sagt: „Das Ende der Fahnenstange ist noch lange nicht erreicht.“ Seiner Meinung nach könnte es durchaus sein, dass es noch mehr Läden erwischt.

Am nördlichen Ende des Prinzipalmarktes haben das Schuhgeschäft „Mephisto“ und der Damenmodeladen „Claudia Sträter“ bereits geschlossen. Die Geschäfte stehen leer. Das Modehaus Appelrath-Cüpper, ebenfalls mit einer Filliale am Prinzipalmarkt, steckt im Insolvenzverfahren. Bei Laurèl, gleich hinterm Roggenmarkt, läuft seit ein paar Tagen der Räumungsverkauf. Ende September sei hier Schluss, sagt eine Mitarbeiterin. Esprit in der Stubengasse schließt im November, schrieben die Westfälischen Nachrichten Mitte August. Und nun noch sechs bis sieben weitere Läden. Ob Corona der alleinige Grund dafür ist, oder ob das Geschäft in diesen Läden auch vorher schon schlecht lief, ist nicht bekannt.

Die Frage ist: Wie geht es weiter mit Münsters Innenstadt? Wie können sich angesichts hoher Mieten die kleinen inhabergeführten Geschäfte halten? Und wenn es schon in einer der teuersten Straßen so aussieht, wie wird die Situation dann erst in weniger begehrten Lagen sein?

Dass der Einzelhandel und damit die Innenstädte in eine schwere Krise geraten sind, ist seit Längerem zu beobachten. Der Online-Handel wird stärker. Es sind nicht mehr nur die Einkaufsmöglichkeiten, die Kund:innen in die Stadt locken, es ist das Erlebnis. Und in Münster ist der Erlebnisfaktor hoch. Weil es hübsch ist. Und weil es noch einige besondere und inhabergeführte Geschäfte gibt. Läden, in denen die Menschen sich gerne umsehen, selbst, wenn sie dann nichts kaufen. Läden, die es nicht noch ein zweites Mal gibt. Läden, wie das Luftschloss von Katja Pflüger in der Rothenburg.

Amazon verkauft keine Erlebnisse

Am Eingang mehrere Vitrinen mit Mickey-Mouse-Figuren. Weiter hinten viele bunte Kissen, Stühle aus Acryl, Kerzenständer in Schweineform, Hundeköpfe als Eierbecher, eine rot-weiß karierte Bank. Und überall Gartenzwerge. Das Luftschloss erinnert an Omas übervolles Wohnzimmer. Aber mit Stil. Ein bisschen schrill, ein bisschen urig. Wenn man hineinkommt, fragt man sich: Wie kann sich so ein Laden noch halten – vor allem jetzt, in dieser Zeit?

Katja Pflüger macht den Eindruck, als hätte sie sich diese Frage in den 38 Jahren seit der Eröffnung hin und wieder auch gestellt. Sie selbst ist schon ein kleines Kunstwerk mit ihren weißen Haaren, durch die sich Regenbogensträhnen ziehen, den gehäkelten Sportschuhen mit Blumenmuster und dem türkisfarbenen Kajal um die Augen. „Vermutlich ist die Sehnsucht der Menschen nach Erlebnissen größer, als wir glauben. Und bei Amazon gibt es eben keine Erlebnisse zu kaufen“, sagt sie an diesem Freitagmorgen kurz bevor sie ihren Laden öffnet.

Noch gibt es sie, diese individuellen Geschäfte im Zentrum von Münster. Was passiert, wenn es sie nicht mehr gibt, ist in anderen Städten bereits seit Jahrzehnten zu beobachten. In deutschen Fußgängerzonen reihen sich große Ketten wie H&M, C&A, Nordsee, McDonald’s und Deichmann aneinander. Dazwischen hier und da ein Ein-Euro-Shop. „Viele Innenstädte im Ruhrgebiet sind heute komplett austauschbar, das heißt, es gibt eigentlich keinen Grund mehr, sich eine bestimmte Stadt zum Einkaufen auszusuchen“, sagt Jens von Lengerke, Handelsexperte der Industrie- und Handelskammer Nord Westfalen im Telefongespräch. Wenn diese Ketten die Geschäfte verlassen, sei es sehr schwer, die Läden wieder zu vermieten. Für andere Händler:innen sei die Gegend nicht attraktiv. Um einer solchen Entwicklung entgegenzuwirken, ist es entscheidend, dass Immobilieneigentümer:innen an die richtigen Personen vermieten. Und das wiederum ist in Zeiten von zunehmendem Leerstand gar nicht so einfach.

Welche Möglichkeiten hat eine Stadt überhaupt, Geschäfte in die Innenstadt zu holen, die sie attraktiver machen?

Schäden fürs Niveau

Zu Besuch bei Tobias Viehoff in seinem Büro am Prinzipalmarkt. Viehoff, grau-blondes Haar, große Armbanduhr, ockerfarbener Anzug über grünem T-Shirt, ist der Sprecher der Initiative Starke Innenstadt, kurz ISI. Der Verein vertritt die Interessen von Eigentümer:innen, Kaufleuten und Gastronom:innen. Viehoff ist gleich mehrfach selbst vertreten. Er betreibt mehrere Franchise-Filialen am Prinzipalmarkt und in der Nähe. Und ihm gehört dort auch selbst eine Immobilie. Zusammen mit Linus Weistropp, dem Geschäftsführer der ISI, hat Viehoff erst vor Kurzem das Immobilienforum organisiert, eine Veranstaltung, bei der rund hundert Immobilieneigentümer:innen aus Münster zusammenkamen, um sich auszutauschen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

„Unser Ansatzpunkt sind die Eigentümer, weil die letztlich darüber entscheiden, wen sie in ihre Immobilie lassen“, sagt Viehoff. „Wenn jetzt auf den Prinzipalmarkt zum Beispiel ein McDonald’s käme, dann schadet das dem Niveau der Straße und langfristig gesehen auch wieder dem Eigentümer, weil seine Immobilie nach und nach entwertet wird. Dafür wollen wir sensibilisieren.“

Tobias Viehoff ist sich sicher, dass die Jahre nach Corona schwer werden, aber er glaubt auch, dass in der Krise eine Chance liegt, die Innenstadt weiterzuentwickeln. Mit neuen Ladenkonzepten, mehr Grünflächen und Aufenthaltsplätzen für die Fußgänger. „Münster wird auch in Zukunft ein schnuckeliger Ort zum Bummeln sein“, sagt er. „Corona und die Digitalisierung werden zu einigen Schließungen führen, ja. Aber es wird neue Formen von Handel geben, denn auch die digitalen Händler brauchen stationäre Präsenz. Schauen sie sich Mister Spex oder Zalando an.“

Doch ist es wirklich so, dass der Markt alles regelt, auch die Schäden, und dass am Ende alles gut wird? Was passiert zum Beispiel in den Lagen rund um den Prinzipalmarkt? Im städteplanerischen Jargon spricht man von 1B- oder 1C-Lagen. Jens von Lengerke, der Handelsexperte, sagt, es sei bislang eher selten vorgekommen, dass am Prinzipalmarkt Geschäfte frei geworden sind. Und dann gleich so viele. Er erzählt, es habe in der Vergangenheit sogar interne Wartelisten gegeben, auf denen Kaufleute mit Geschäften in schlechteren Lagen standen, die gern umziehen wollten. „Jetzt ist das für viele eine Chance zuzugreifen, zumal sicher auch die Mieten sinken werden. Aber wer geht dann in deren Geschäfte? Darum mache ich mir mehr Sorgen als um den Prinzipalmarkt“, sagt von Lengerke.

Beide Sphären brauchen sich

Eins dieser Geschäfte in einer 1B-Lage ist Salamon in der Windthorststraße. Es ist ein regnerischer Morgen ein paar Tage zuvor. Draußen donnern Lastwagen und Autos vorbei, drinnen spielt Jürgen Salamon auf seiner Gitarre. Noch ist der Laden zu. Ihm gegenüber sitzt seine Frau Gerlinde bei einer Tasse Kaffee. Seit 15 Jahren führen die beiden das Geschäft. An den Wänden des großen Ladenlokals hängen großformatige Kalender, an den übrigen Stellen stehen Postkartenständer und Regale mit Büchern. Dazwischen ein paar Dekopalmen. Wandkalender, Postkarten und Bücher. Funktioniert so ein Laden heute noch? Jürgen Salamon sagt: „Die Kunden schätzen es, dass sie bei uns eine gute Auswahl und eine freundliche Beratung bekommen.“ Tatsächlich füllt sich kurz nach Ladenöffnung der Raum mit Kund:innen. Eine Gruppe Niederländer kauft Postkarten, eine junge Frau kann sich zwischen zwei Taschenkalendern nicht entscheiden. Während Gerlinde an der Kasse steht, wuselt ihr Mann durch den Laden und verteilt Etiketten auf Büchern.

Corona hat die Salamons arg getroffen. Wie so viele Kaufleute in der Innenstadt machen sie sich Sorgen darüber, ob sie den Laden weiterführen können, wenn sie im Herbst noch einmal schließen müssen. In den Wochen des Lockdowns fuhr der bald 65-jährige Jürgen mit dem Fahrrad jeden Tag durch die Stadt, um Bücher auszuliefern. Eine Website, geschweige denn einen Online-Versand, haben die beiden nicht. Aber über Facebook und Instagram kamen einige Anfragen. Und jetzt, wo der Laden wieder offen ist? „Im Moment können wir nur von Woche zu Woche schauen“, sagt Jürgen, um dann nach einer kurzen Pause anzufügen, „aber es macht auch richtig Bock“.

Es sind zwei Welten: Hier der schmucke Prinzipalmarkt mit seinen Hochglanzgeschäften, dort die kleinen Läden in den Lagen drum herum, die ihre Kund:innen kennen und die es in anderen Städten nicht gibt. Doch beide Sphären können nicht ohne einander. Die großen Ketten und Edelgeschäfte in der zentralen Innenstadt ziehen die Kund:innen an, die kleinen Läden in den Seitenstraßen sorgen dafür, dass sich die Kund:innen wohlfühlen und bleiben.

16.000 Euro Miete im Monat

Die gebürtigen Münsteraner:innen Jürgen und Gerlinde Salamon träumen von einem Laden in einer besseren Lage. Am liebsten mit ihren Nachbargeschäften zusammen und mit einem kleinen integrierten Café. Doch wie sollten sie sich das leisten? Über die Höhe ihrer Miete wollen die beiden nicht sprechen. Aber in ihrer Gegend, so ist von anderen Ladeninhaber:innen zu hören, liegt der übliche Satz bei ungefähr 40 Euro pro Quadratmeter. Am Prinzipalmarkt sind es locker 160 bis 200 Euro. Der Laden, in dem bis vor kurzem Mephisto war, hat eine Fläche von 97 Quadratmetern. Er sollte im Monat 15.660 Euro kosten (Bruttowarmmiete). So stand es in einer Anzeige im Internet. Mittlerweile scheint es einen neuen Mieter zu geben.

„Klar“, sagt Tobias Viehoff, in seinem Büro am Prinzipalmarkt, „hier kaufen Sie eben die Frequenz der Straße mit. So viel kann ich gar nicht werben, wie hier Leute durch den Standort herkommen.“ Die hohen Mieten seien seiner Meinung nach nicht das drängende Problem am Prinzipalmarkt, eher seien es die Coronasituation, die Digitalisierung und „bei dem ein oder anderen sicher auch ein Modell, was in zwei Jahren ohnehin zur Schließung geführt hätte“. Doch klar ist auch, hohe Mieten ziehen nur eine bestimmte Interessentengruppe an. Juweliere zum Beispiel. Von ihnen gibt es gleich fünf am Prinzipalmarkt. Und teure Modemarken. Junge Firmen mit kreativen Geschäftskonzepten können solche Summen selten aufbringen. Dabei würden gerade sie die Innenstadt attraktiver machen.

Die Ausgangssituation auf dem Markt ist nicht für alle gleich. Das hört man immer wieder. Einige Vermieter:innen verlangen keine oder eine reduzierte Miete, teilweise bis Ende des Jahres. Andere Vermietende wollen nicht verzichten. Die Salamons sind zufrieden. Ihre Vermieterin habe ihnen eine Monatsmiete erlassen, sagt Jürgen Salamon. Katja Pflüger möchte darüber nichts sagen.

Doch ihren Laden, das Luftschloss, ihr Kunstwerk, will Pflüger, die eigentlich selbst immer Künstlerin werden wollte, so lange fortführen, wie es nur irgend geht. „Ich hatte nie ein Konzept“, sagt sie, „außer, dass ich etwas machen wollte, das sonst noch keiner gemacht hat.“ Für die Zukunft der Innenstadt von Münster ist sie optimistisch, ein bisschen auch, weil sie es sein muss, für ihren eigenen Laden – und weil Münster eben Münster sei. „Wobei“ sagt sie dann noch, „eine Situation wie diese hat es auch noch nie gegeben.“ —


Niklas Liebetrau ist einer von elf Reporter:innen an der Reportageschule Reutlingen, die Ende August in Münster Geschichten für RUMS recherchiert und geschrieben haben. Dabei wurden sie von den drei Fotograf:innen Laura Schenk, Angelika Wieschollek und Nikolaus Urban begleitet. Die Reportagen, Interviews und Features veröffentlichen wir in unregelmäßigen Abständen.

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