Die RUMS-Kolumne von Marion Lohoff-Börger | Masematte sterben lassen?

Porträt von Marion Lohoff-Börger
Mit Marion Lohoff-Börger

Guten Tag,

bei dem Bemühen, altes Brauchtum und Denkmäler für die Nachwelt zu erhalten, stellt sich bei der Masematte, Münsters Sondersprache, eine Frage, die sich grundsätzlich diskutieren lässt. Warum sollten wir die Masematte überhaupt pflegen? Ist sie erhaltenswert? 

Welchen Gewinn bringt sie für die Zukunft der Menschen, die heute Kinder oder noch gar nicht geboren sind? Werden die Menschen in hundert Jahren noch sagen „Dat is heute hamel an Meimeln“ (Es ist heute sehr am Regnen) oder „Wat knallt der Lorenz heute wieder, lass mal inne Öle plümpsen gehen.“ (Was scheint die Sonne heute wieder schön, lasst uns im Kanal baden gehen.) 

Als ich 2021 den Antrag stellte, Masematte als immaterielles Kulturerbe anerkennen zu lassen, musste ich die Frage beantworten, ob jemand oder eine Gruppe von Menschen durch die Weitergabe und Pflege des Kulturguts Schaden nehmen könnte. Ich denke, das ist eine sehr wichtige Frage, denn in der Masematte wimmelt es nur so von Wörtern, die sexistisch, menschenfeindlich, diskriminierend und verletzend sein können. 

Wäre es richtig, der nachfolgenden Generation einen Teil der Wörter vorzuenthalten, weil sie den gesellschaftlichen Standards, die mühsam und langsam erkämpft wurden, nicht mehr entsprechen? Oder geht es eher darum, grundsätzlich eine Sprachsensibilität zu entwickeln, die einen kritischen Umgang mit menschenverachtenden Inhalten garantiert? Ginge das überhaupt? Oder liegt es nicht in der Natur unserer Gesellschaftsordnung, neue Subkulturen zu entwickeln und damit bestehende festgefahrene Strukturen zu untergraben und zu hinterfragen? 

Der alte Geist der Nazis

Genau diese Funktion hatte die Masematte in den sechziger Jahren, nur zwanzig Jahre nach der Beendigung des Nationalsozialismus und seinen verheerenden Folgen für unsere Welt. Die jungen Menschen aus Münster und Umgebung entdeckten die Masematte, einen Mischmasch aus fremdklingenden Wörtern aus dem Jiddischen, dem Romanes und dem Rotwelschen für sich als Ausdrucksmittel, um sich gegen die verkrusteten Strukturen in Universität, Schule und Verwaltung aufzulehnen. 

Dort herrschte oft noch der alte Geist der Nazis, denn dort saßen dieselben Leute wie zwischen 1933 und 1945. 

Es war die Sprache der kleinen Leute in den berüchtigten Vierteln des Vorkriegsmünsters, die jetzt so gut zum Zeitgeist zu passen schien. Also entwickelte sich die Masematte zu einer regionalen Jugendsprache in Münster und dem Münsterland, eben zu einer Subkultur. 

Umso spannender zu sehen, wie diese Subkultur sich dann nur zwanzig Jahre später zur bürgerlichen Kultur entwickelte und die Masematte Ende der Siebziger und in den Achtzigern Einzug hielt in die prächtigen Karnevalsveranstaltungen und als Glossen in die etablierten Zeitungen der Region. 

Die einstigen „revoltierenden“ Studierenden waren inzwischen so weit, dass sie sich im bürgerlich-konservativen Münster etabliert oder sich im Umland mit einem Einfamilienhäuschen eine sichere Zukunft geschaffen hatten. Ab jetzt hatte die Masematte ihren Nostalgiefaktor weg („Wisst ihr noch damals, samstagmittags am Lambertibrunnen? Dat war jovel!“).

Der Fachbegriff: Pseudomasematte

Auf die Spitze getrieben wird diese Entwicklung bis heute mit den Büchern von Wolfgang Schemann, dem ehemaligen Lokalchef der Westfälischen Nachrichten, die jährlich Anfang Dezember pünktlich zum Weihnachtsgeschäft in Münsters Buchhandlungen stapelweise ausliegen. 

Viele Menschen, die zu meinen Lesungen und Vorträgen kommen, bringen eins seiner Bücher mit, um mit stolzgeschwellter Brust zu behaupten, sie kennen die Masematte, weil sie diese Bücher lesen. Manche Leute passen tatsächlich auf, dass ich nicht heimlich etwas von Schemanns Texten vortrage. Schließlich bin ich nur eine Zugezogene und dann auch noch eine Frau. Früher war ich beleidigt deswegen, heute amüsiert mich das. 

Herr Schemann ist ein Mann des Wortes und geht kreativ mit Sprache um. Ob man dieses allerdings ohne Achtsamkeit und Sprachsensibilität für die ursprünglichen Sprecher:innen tun sollte, sei dahingestellt. Auf Schemann gehen meines Wissens Wörter zurück wie „transpanimurmelbeis“ für Überwasserkirche und „tackoachilenkabache“ für Schnellimbissbude. 

Für diese neuen Masemattebegriffe existiert ein Fachausdruck. Das ist die sogenannte „Pseudomasematte“, die sich an modernen Formen der Wortbildung, wie zum Beispiel das Bilden von Komposita, um neue Inhalte beschreiben zu können, orientiert. 

Ob das allerdings dem ursprünglichen Duktus der Primärmasematte, also der, die vor 1945 in Münster gesprochen wurde, entspricht, halte ich für fraglich. 

Die Masematte ging immer schon ihren eigenen Weg. Ohne jegliche Verschriftlichung, weil mündlich weitergegeben, führte sie eigentlich ein freies und anarchisches Leben, ganz im Sinne des Rotwelschen, der alten Räubersprache aus dem Mittelalter. 

Am besten gedeiht die Masematte im Verborgenen und bei Menschen, die ihren Sprachgebrauch nicht reflektieren. Sie hat es immer wieder geschafft, irgendwo irgendwann neu aufzutauchen und dann wieder abzutauchen. Sie wird benutzt, weil sie den Sprechenden etwas gibt, womit sie sich abgrenzen und sie ihre eigene Identität wahren können. 

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Deswegen ist und bleibt der Gebrauch der Masematte immer ein zweischneidiges Schwert. Die einen fühlen sich ausgegrenzt, die anderen in ihrer Identität bestätigt. Das ist der rote Faden, der sich von den Anfängen 1850 in den kleinen Vierteln Münsters bis heute auf Preußen zu den Ultras durchzieht. 

Der zweite rote Faden ist der, dass sich die Masematte immer im Verborgenen entwickelt hat. Masematte ist nichts, das laut und deutlich vernehmbar ist, es wird immer wieder von den Menschen gesprochen, die sich eher am Rande der Gesellschaft befinden (je nach Perspektive). 

Irgendwo blüht die Masematte plötzlich wieder auf, sei es auf einer Pflegestation in einem Seniorenheim in Emsdetten, sei es beim Jugendfußball in Mecklenbeck oder beim Doppelkoppspielen in der zugigen Bäckerei an der Ecke der Wolbeckerstraße. Das ist ihre natürliche Art und Weise sich fortzuentwickeln. 

Die üblichen Methoden der Brauchtumspflege wie Heimatvereine und Museen sie betreiben, erscheinen diskussionswürdig. 

Bücher, Wörterbücher, Workshops, Schreibwettbewerbe, Kulturlesungen, Ausstellungen und all diese üblichen Dinge passen für die Masematte einfach nicht. Denn sie ist von ihrem Wesen her eine Subkultur mit Kellerdasein und steht damit den Menschen zu, die eine Sprache für ihre Identität und Abgrenzung brauchen, um in einer Gesellschaft, in der sie sich kaum willkommen fühlen, zu bestehen. 

Das Schlimmste, was ich in dieser Hinsicht erlebt habe, war die Idee, die in einem Kreis von Brauchtumsbewahrern geäußert wurde, dass man parallel zu den niederdeutschen Lesewettbewerben in den Grundschulen, so etwas auch mit der Masematte machen könnte. 

Natürlich nicht (das ist jetzt Ironie!), damit sich alte weiße Männer vor Lachen auf die Schenkel klopfen, wenn zehnjährige Kinder sexistische und homophobe Sprüche auf Masematte kloppen, sondern selbstverständlich nur, weil das alte Sprachgut an die folgenden Generationen weitergegeben werden muss. 

Reste einfach stehen lassen

Muss es das wirklich? Ich denke schon lange über die These nach, ob wir die Masematte, falls sie keiner mehr braucht, nicht besser in Würde sterben lassen sollten, anstatt sie mit akademischen Methoden in das konservative gutbürgerliche Denken hineinquetschen zu wollen. 

Ich denke symbolisch an die alte Blutbuche an der ehemaligen Boniburg im Dyckburgwald bei Handorf. Dort hatte man sich auch entschlossen, die Reste einfach stehen- und sie dem natürlichen Verfall zu überlassen, als der Baum zusammenbrach. 

In Würde sterben, anstatt bis zur Unkenntlichkeit missbraucht zu werden, ist das eine Option für die Masematte? 

Wer meine Aktivitäten in Sachen Masematte kennt, weiß, dass ich nach alternativen didaktischen Konzepten suche, um die Sondersprache angemessen und kreativ weiterzuentwickeln. Die Frage ist nur, welchen Sinn hat all das künstliche Vermitteln, wenn die Masematte sich aufgrund ihrer ureigenen Art genau dem eigentlich entzieht? 

Ein Paradox, das für mich immer wieder eine einfühlsame und kreative wie auch würdevolle Herangehensweise an die Sprache und vor allem ihren Sprecher:innen nötig macht. 

Herzliche Grüße

Ihre Marion Lohoff-Börger

Porträt von Marion Lohoff-Börger

Marion Lohoff-Börger

… ist die Frau mit der Masematte und den alten Schreibmaschinen. Auf letzteren schreibt sie Gedichte und verkauft diese in ihrem Atelier an der Wolbecker Straße 105 als Postkarten. Die Masematte möchte die freie Autorin in Münster zu einem lebendigen Sprachdenkmal machen und versucht, dieses mit Kursen, Vorträgen, Lesungen, Büchern und Artikeln für Zeitungen und Onlinemagazine umzusetzen. 2021 stellte sie beim Land Nordrhein-Westfalen den Antrag „Masematte als Immaterielles Kulturerbe“, der abgelehnt wurde mit dem Hinweis, die Stadtgesellschaft Münster müsse sich noch mehr für dieses Kulturgut engagieren.

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