„Die meisten Kinder brauchen mehrere Anläufe, um über sexualisierte Gewalt zu sprechen“

Der Kin­der­schutz­bund Müns­ter ist einer der ältes­ten Ver­ei­ne in der Stadt, die sich für die Inter­es­sen von jun­gen Men­schen ein­set­zen. Der Vor­sit­zen­de Chris­toph Heidbre­der und Geschäfts­füh­rer Tor­ben Ober­hell­mann spre­chen im Inter­view dar­über, wie sie und ihre Mitarbeiter:innen Kin­dern und Fami­li­en hel­fen und wie sich das im Lau­fe der Jah­re ver­än­dert hat.

TEXT: VANESSA BOREVAC, JASMIN MAYA, JULIA WAHL
REDAKTION: CONSTANZE BUSCH
TITELFOTO: MERLE TRAUTWEIN

Der Vor­sit­zen­de Chris­toph Heidbre­der und der Geschäfts­füh­rer Tor­ben Ober­hell­mann des Kin­der­schutz­bun­des Müns­ter. Foto: Mer­le Trautwein

Herr Heidbre­der, Herr Ober­hell­mann, die Kri­mi­nal­sta­tis­tik der Poli­zei Müns­ter für das Jahr 2020 zeigt, dass es in dem Jahr viel mehr Fäl­le von Kin­des­wohl­ge­fähr­dung und Kin­des­miss­brauch gab als sonst. Wor­an lag das?

Chris­toph Heidbre­der: Seit Beginn der Pan­de­mie haben sich bereits bestehen­de Pro­blem­la­gen in Fami­li­en ver­schärft. Gleich­zei­tig hat­ten in den Lock­­down-Pha­­sen die Betreuer:innen und Lehr­kräf­te in den Kin­der­ta­ges­stät­ten und Schu­len die Kin­der nicht im Blick und konn­ten ent­spre­chend auch nicht auf frü­he Warn­zei­chen reagie­ren, bevor es zu Gewalt kam. Aller­dings wur­de 2020 auch der Miss­brauchs­kom­plex von Müns­ter ermit­telt, dadurch wur­den deut­lich mehr Fäl­le ent­deckt als in ande­ren Jahren.

Tor­ben Ober­hell­mann: Die Bericht­erstat­tung über den Miss­brauchs­kom­plex hat außer­dem dazu geführt, dass vie­le Münsteraner:innen auf­merk­sa­mer auf Signa­le von Kin­dern geach­tet und sich an unse­re Bera­tungs­stel­le gewandt haben. Beson­ders in der ers­ten Zeit muss­ten unse­re Fach­kräf­te vie­le Anfra­gen bewältigen.

Wie setzt sich Ihr Ver­ein neben die­ser Bera­tung noch für Kin­der ein?

Chris­toph Heidbre­der: Unser Fokus liegt auf den The­men Gewalt gegen Kin­der, Kin­der­schutz und Kin­der­rech­te. Wir bera­ten jun­ge Men­schen und ihre Eltern, klä­ren an Kitas, in Schu­len und Sport­ver­ei­nen über Gewalt gegen Kin­der auf und beglei­ten die­se Ein­rich­tun­gen vor Ort. Die haupt­amt­li­chen Mitarbeiter:innen unse­rer Bera­tungs­stel­le ent­wi­ckeln zum Bei­spiel gemein­sam mit den Ange­stell­ten und Fach­kräf­ten prä­ven­ti­ve Schutz­kon­zep­te. Das Ziel ist, dass sie recht­zei­tig auf poten­zi­el­le Täter:innen auf­merk­sam wer­den und bei mög­li­chen Über­grif­fen sicher auf­ge­stellt sind. Sie müs­sen wis­sen, wie sie sich ver­hal­ten soll­ten und an wen sie sich wen­den können.

Beim Kin­der­schutz­bund enga­gie­ren sich auch vie­le Men­schen ehren­amt­lich. Wel­che Auf­ga­ben neh­men sie wahr?

Chris­toph Heidbre­der: Sie über­neh­men zum Bei­spiel die Erst­be­ra­tung über das Kin­­der- und Jugend­te­le­fon. Das ist eine kos­ten­lo­se und anony­me Anlauf­stel­le, die vie­len Betrof­fe­nen den ers­ten Kon­takt erleich­tert. Unse­re ehren­amt­li­chen Mitarbeiter:innen hören zu und ver­mit­teln bei Bedarf an die Fach­kräf­te in der Bera­tungs­stel­le weiter.

Mit wel­chen Anlie­gen mel­den sich Kin­der bei Ihnen – und was pas­siert dann?

Chris­toph Heidbre­der: Wenn Kin­der sich an unse­re Berater:innen am Kin­­der- und Jugend­te­le­fon wen­den, spre­chen sie oft zum ers­ten Mal über belas­ten­de und grenz­über­schrei­ten­de Erfah­run­gen. Vie­len fällt es in die­sem Rah­men leich­ter, davon zu erzäh­len, weil sie sich erst ein­mal anonym jeman­dem anver­trau­en kön­nen. Es kom­men aber auch Kin­der bei Ver­an­stal­tun­gen in Schu­len auf unse­re haupt­amt­li­chen Mitarbeiter:innen zu. Ein Kind hat­te zum Bei­spiel über einen lan­gen Zeit­raum sexua­li­sier­te Gewalt erfah­ren. Es wuss­te aber gar nicht, dass dies eine Straf­hand­lung ist, die es nicht erdul­den muss. Erst durch unser Prä­ven­ti­ons­pro­jekt hat es die sexua­li­sier­te Gewalt als sol­che wahr­ge­nom­men und unse­re Fach­kraft ange­spro­chen – so etwas erfor­dert natür­lich viel Mut. Wir konn­ten in Zusam­men­ar­beit mit der Schu­le und Sozialarbeiter:innen die nächs­ten Schrit­te ein­lei­ten und die sexua­li­sier­te Gewalt beenden.

Kön­nen Sie beschrei­ben, wie ein sol­ches Prä­ven­ti­ons­pro­jekt aus­sieht? Es ist ja sicher nicht ein­fach, mit Kin­dern über ein so sen­si­bles The­ma zu sprechen.

Chris­toph Heidbre­der: Ein kon­kre­tes Bei­spiel ist das „SpürSinn“-Projekt, mit dem sich unse­re Fach­kräf­te für Kin­der­rech­te und Prä­ven­ti­on von sexua­li­sier­ter Gewalt für Kin­der mit unter­schied­li­chen För­der­be­dar­fen ein­set­zen. Das Team unse­rer Bera­tungs­stel­le setzt außer­dem zusam­men mit der Thea­ter­päd­ago­gi­schen Werk­statt – unse­rem Koope­ra­ti­ons­part­ner für Prä­ven­ti­ons­pro­jek­te an Grund­schu­len – das Thea­ter­pro­jekt „Mein Kör­per gehört mir“ um. Damit fin­den Kin­der einen leich­te­ren Zugang zum The­ma. Und natür­lich beglei­ten wir die Schü­le­rin­nen und Schü­ler, Lehr­kräf­te und Eltern vor und nach dem Pro­jekt inten­siv. Für die Schüler:innen bie­ten wir in die­sem Rah­men eine offe­ne Sprech­stun­de an, um sofort hel­fen zu kön­nen, wenn ein Kind Bera­tung braucht.

Und wie kön­nen Sie Kin­dern hel­fen, die anonym bei Ihnen anrufen?

Tor­ben Ober­hell­mann: Wenn Mäd­chen oder Jun­gen zum ers­ten Mal… beim Kin­­der- und Jugend­te­le­fon anru­fen, ist es sehr wich­tig, dass unse­re Mitarbeiter:innen ihnen zei­gen, dass sie ernst genom­men wer­den, und dass sie ihnen ver­si­chern, dass ein Erwach­se­ner zuhört, ihnen glaubt und es Unrecht ist, was ihnen widerfährt.Wir bestär­ken sie dar­in, dass es gut ist, sich uns anzu­ver­trau­en. Und wir moti­vie­ren sie nach Mög­lich­keit dazu, wei­ter­zu­ge­hen und eine per­sön­li­che Bera­tung bei uns wahr­zu­neh­men. Ein Kind braucht vie­le Anläu­fe, um sich zu offen­ba­ren, wenn es sexua­li­sier­te Gewalt erfährt. Und lei­der kommt es auch häu­fig vor, dass ein Kind zwar mit vie­len Erwach­se­nen dar­über spricht, es aber sehr lan­ge dau­ert, bis jemand dem Kind Glau­ben schenkt und han­delt. Des­halb sind nie­der­schwel­li­ge Ange­bo­te so wichtig.

Was mei­nen Sie damit?

Tor­ben Ober­hell­mann: Kin­der und auch ihre Ange­hö­ri­gen brau­chen eine Anlauf­stel­le, wenn sie ein ungu­tes Gefühl haben und nicht wis­sen, mit wem sie sonst dar­über spre­chen sol­len. Denn für die Betrof­fe­nen, aber auch für ihre Fami­li­en ist die Schwel­le natür­lich hoch, sich Men­schen aus ihrem Umfeld zu öff­nen. Vie­le schä­men sich oder haben Angst davor, was pas­siert, wenn sie über eine nega­ti­ve Erfah­rung oder einen Ver­dacht spre­chen. Aus die­sem Grund ist ein ers­ter, ein­fa­cher Kon­takt so wich­tig, ob tele­fo­nisch, durch per­sön­li­che Gesprä­che oder vor Ort in Kitas, Schu­len und Ver­ei­nen. Wir bera­ten immer kos­ten­los und auch anonym, solan­ge das Kin­des­wohl noch nicht gefähr­det ist.

Sie haben auch die Ange­hö­ri­gen und Lehr­per­so­nen ange­spro­chen. Spie­len sie eine gro­ße Rol­le oder liegt der Fokus in der Prä­ven­ti­ons­ar­beit eher dar­auf, Kin­der aufzuklären?

Tor­ben Ober­hell­mann: Da hat sich über die Jah­re eine span­nen­de Ent­wick­lung gezeigt. Frü­her gab es noch vie­le Pro­gram­me mit der Ziel­set­zung: „Kin­der müs­sen Nein und Stopp sagen kön­nen“. Es ist natür­lich nach wie vor wich­tig, Kin­der auf­zu­klä­ren und sie über ihr Recht auf kör­per­li­che Selbst­be­stim­mung zu infor­mie­ren. Die Haupt­ver­ant­wor­tung dafür, Über­grif­fe zu ver­hin­dern, liegt aller­dings in jedem Fall bei den Erwachsenen.

Chris­toph Heidbre­der: Umso mehr, weil see­li­sche, emo­tio­na­le, kör­per­li­che oder sexua­li­sier­te Gewalt tat­säch­lich in ers­ter Linie inner­halb der Fami­lie oder im nähe­ren Ver­­­wan­d­­ten- und Freun­des­kreis statt­fin­det. Das kön­nen wir gar nicht oft genug beto­nen. Vie­le den­ken immer noch an Täter:innen, die in einem ran­zi­gen wei­ßen Lie­fer­wa­gen vor der Schu­le lau­ern. Sol­che Fäl­le machen aber gera­de ein­mal einen ein­stel­li­gen Pro­zent­satz aus. Meis­tens ist es bei­spiels­wei­se der Onkel, die Tan­te, der Trai­ner oder die Trai­ne­rin. Daher ist es wich­tig, die Erwach­se­nen zu sen­si­bi­li­sie­ren und zu schu­len, die im All­tag der Kin­der sehr prä­sent sind.

Und wie sieht so eine Sen­si­bi­li­sie­rung aus?

Tor­ben Ober­hell­mann: Ins­be­son­de­re Lehrer:innen und Erzieher:innen müs­sen die weni­ger offen­sicht­li­chen, indi­rek­ten Anzei­chen früh­zei­tig erken­nen und ver­ste­hen ler­nen. Denn oft spre­chen Kin­der die Wahr­heit eher zwi­schen den Zei­len aus.

Haben Sie ein Bei­spiel dafür?

Chris­toph Heidbre­der: Das kann etwa eine Ver­hal­tens­än­de­rung sein, ein Kind zieht sich viel­leicht stark zurück oder wird aggres­siv. Es ist dann die Auf­ga­be der Erwach­se­nen, die Grün­de dafür zu hinterfragen.

Was ist aus Ihrer Sicht die größ­te Hür­de für die Arbeit des Kinderschutzbundes?

Chris­toph Heidbre­der: Das sind lei­der die finan­zi­el­len Ein­schrän­kun­gen, die wir zeit­wei­se haben. Wir müs­sen uns immer wie­der etwas Neu­es ein­fal­len las­sen, um Unterstützer:innen zu fin­den. Denn wir kön­nen kei­ne Stel­le ein­rich­ten, wenn wir wis­sen, dass die Gel­der weg­bre­chen könn­ten. Da müs­sen wir auf Num­mer sicher gehen, weil wir sonst den gesam­ten Ver­ein gefähr­den wür­den. Auch das so wich­ti­ge ehren­amt­li­che Enga­ge­ment mit unse­ren über 100 akti­ven Mitarbeiter:innen benö­tigt finan­zi­el­le Res­sour­cen, zum Bei­spiel für die pro­fes­sio­nel­le Aus­bil­dung und die Ver­wal­tung und Koor­di­na­ti­on. Aber im Sin­ne des Kin­der­schut­zes ist uns ein mög­lich brei­tes Hilfs­an­ge­bot beson­ders wich­tig, des­halb bemü­hen wir uns immer dar­um, die finan­zi­el­len Mit­tel dafür lang­fris­tig zu sichern.

Der Kinderschutzbund Münster

Der Kin­der­schutz­bund Müns­ter wur­de 1977 als klei­ner Orts­ver­band gegrün­det und ist heu­te ein gemein­nüt­zi­ger Ver­ein mit mehr als hun­dert ehren­amt­li­chen und zehn haupt­amt­li­chen Mitarbeiter:innen der Fach­be­ra­tungs­stel­le. Wäh­rend die Ehren­amt­li­chen bei den nie­der­schwel­li­gen Bera­tungs­an­ge­bo­ten wie dem Kin­­der- und Jugend- oder dem Eltern­te­le­fon unter­stüt­zen, küm­mern sich die haupt­amt­li­chen Kräf­te um pro­fes­sio­nel­le Bera­tung und Prä­ven­ti­ons­maß­nah­men sowie um Eltern­kur­se und Lob­­by- oder Vorstandsarbeit.

Zu den Ange­bo­ten des Kin­der­schutz­bun­des zäh­len auch die bekann­te „Num­mer gegen Kum­mer“, die Grup­pe „Kind und Kran­ken­haus“, die jun­ge Patient:innen in der Uni­kli­nik oder im Cle­mens­hos­pi­tal in Müns­ter betreut, sowie eine Rechts­be­ra­tung für Kin­der und Jugendliche.

Kooperation mit der Hochschule der Medien

Die­ser Text ist im Rah­men eines Aus­bil­dungs­pro­jek­tes in Koope­ra­ti­on mit der Hoch­schu­le der Medi­en in Stutt­gart ent­stan­den. Stu­die­ren­de eines inter­na­tio­na­len Kur­ses zum kon­struk­ti­ven und dia­log­ori­en­tier­ten Jour­na­lis­mus haben für RUMS Inter­views geführt und geschrie­ben. Die Redak­ti­on hat zusam­men mit den Dozent:innen die Stu­die­ren­den bei der The­men­fin­dung, Inter­view­vor­be­rei­tung und Text­be­ar­bei­tung unter­stützt. Die Inter­views ver­öf­fent­li­chen wir nun in unre­gel­mä­ßi­gen Abstän­den hier auf unse­rer Web­site.

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