„Du glaubst nicht, dass so etwas wirklich passieren kann.“

Am Mor­gen des 24. Febru­ar 2022 über­fiel Russ­land die Ukrai­ne. Die Aus­wir­kun­gen sind nun unmit­tel­bar auch im Müns­ter­land zu spü­ren. Nach meh­re­ren Mona­ten Krieg beherr­schen stei­gen­de Ener­gie­kos­ten und die Sank­tio­nen gegen Russ­land die Nach­rich­ten. Aber wie geht es den Men­schen, die aus der Ukrai­ne geflo­hen sind – und wie den Münsteraner:innen, die sie auf­ge­nom­men haben oder sie beruf­lich unter­stüt­zen? Wie gestal­tet sich ihr Zusam­men­le­ben und mit wel­chen Her­aus­for­de­run­gen haben bei­de Sei­ten zu kämp­fen? Vier Student:innen der Hoch­schu­le Stutt­gart haben für RUMS zwei ukrai­ni­sche Fami­li­en und ihre neu­en Mitbewohner:innen und Kolleg:innen in Müns­ter besucht.

TEXT UND VIDEOS: EVELYN FADE, MAR GARCÍA VINADER, RAQUEL ALONSO TEULER, ANTOINE BOUTHORS
FOTOS: NIKOLAUS URBAN
LEKTORAT: LAURA BADURA

HUMANITY – Ukrainerinnen treffen auf Münsteraner Solidarität Am Morgen des 24. Februar 2022, sind wir in einer anderen Welt er- wacht. Bis zu diesem Zeitpunkt war es für die meisten Europäer un- vorstellbar, dass mitten in Europa ein Krieg toben könnte. Seither be- schäftigt der russisch-ukrainische-Konflikt vor allem die Gemüter der jungen und wohlbehüteten Generation Europas. Die Auswirkungen des Krieges waren auch unmittelbar im schönen Münsterland zu spüren. Nach mehr als drei Monaten Krieg beherr- schen eher steigende Energiekosten und mögliche Sanktionen die Nachrichten. Aber wie geht es den geflüchteten Ukrainern und den Münsteranern, deren Solidarität sich im Gewand der Gastfreundschaft geäußert hat? Wie gestaltet sich das Zusammenleben und mit welchen Herausforderungen haben beide Seiten zu kämpfen? Mit diesen Fragen hat sich eine Gruppe internationaler Kommunikati- ons-Studenten beschäftigt und einige der Betroffenen in Münster inter- viewt.

Uta und Tho­mas Dirk­sen aus Müns­ter enga­gie­ren sich seit Jah­ren in Eri­trea (Ost­afri­ka) in der NGO „Arche­med – Ärz­te für Kin­der in Not e. V“. Das Paar und sei­ne Kin­der haben zudem schon oft die Türen ihres Hau­ses für Besucher:innen und Student:innen aus ver­schie­de­nen Län­dern geöff­net. So haben die Onko­lo­gin und der Psych­ia­ter zum Bei­spiel auch krebs­kran­ken Kin­dern aus dem Aus­land eine Unter­kunft und die nöti­ge Pfle­ge angeboten.

Nach­dem die Dirk­sens von ihren Nach­barn, die ursprüng­lich aus der Ukrai­ne kom­men, gefragt wur­den, ob sie Geflüch­te­te aus der Ukrai­ne auf­neh­men könn­ten, zöger­ten sie kei­ne Sekun­de. Sie boten der 42-jäh­ri­gen Nata­lia* und ihren bei­den Töch­tern Vik­to­ria und Sla­ta ihre Hil­fe an.
(*Die Fami­lie möch­te nicht, dass ihr Nach­na­me ver­öf­fent­licht wird.)

„Als der Krieg begann, hat­te ich nur eines im Kopf – mei­ne Töch­ter. Ich woll­te sie ret­ten, damit sie nie­mand ernied­ri­gen kann!“

Nata­lia

Die Mut­ter aus Luzk – eine Stadt in der nord­west­li­chen Ukrai­ne – ist froh und dank­bar, in Müns­ter ein Zuhau­se auf Zeit gefun­den zu haben. Ihre momen­tan größ­te Sor­ge gilt ihrem Mann, den sie zurück­las­sen muss­te, damit er ihre Hei­mat ver­tei­di­gen kann. 

„Ich habe geschla­fen, als mei­ne Mut­ter ins Zim­mer gelau­fen kam und sag­te: ‚Vika, steh auf, wir haben Krieg!‘ Das war einer der schlimms­ten Momen­te in mei­nem Leben.“ 

Vik­to­ria

Vor Beginn des Krie­ges war Vik­to­ria gera­de dabei, ihren Schul­ab­schluss zu machen. Durch die Flucht nach Deutsch­land lässt sich die 17-Jäh­ri­ge aber nicht auf­hal­ten, sie been­det ihren Abschluss online.

„Es ist wie in einem Traum. Du glaubst nicht, dass so etwas wirk­lich pas­sie­ren kann.“ 

Vik­to­ria

Um die Schre­cken des Krie­ges zu ver­ar­bei­ten und ihrer Zukunft eine Per­spek­ti­ve zu geben, hat Vik­to­ria ein Prak­ti­kum im Tat­too-Stu­dio „Fif­ty Fif­ty“ in Müns­ter-Roxel ange­fan­gen. Für ihren Traum, Tat­too-Meis­te­rin zu wer­den, bringt die jun­ge Ukrai­ne­rin gute Vor­aus­set­zun­gen mit. In ihrer Hei­mat hat sie par­al­lel zur Schu­le eine Kunst­schu­le besucht und zusätz­li­che Kur­se in Gra­fik und Design belegt. 

„Mein Leben ist also schon immer mit Malen und Zeich­nen verbunden.“ 

Vik­to­ria

Für ihren Traum ver­bringt die 17-Jäh­ri­ge viel Zeit im Tat­too-Stu­dio und zeich­net ihre Wer­ke auf Kunst­haut. Men­schen darf sie erst täto­wie­ren, wenn sie voll­jäh­rig ist. Damit Vik­to­ria sich noch bes­ser inte­grie­ren und neue Freund:innen fin­den kann, möch­te sie so schnell wie mög­lich die deut­sche Spra­che lernen.

Stef­fen*, der Inha­ber des Tat­too-Stu­di­os „Fif­ty Fif­ty“, unter­stützt Vik­to­ria gerne.

(*Er möch­te nicht, dass sein Nach­na­me ver­öf­fent­licht wird.)

„Ich freue mich, dass ich Vik­to­ria mit die­sem Prak­ti­kum hel­fen kann. Sie ist eine außer­ge­wöhn­lich begab­te jun­ge Frau. Sobald sie voll­jäh­rig ist und anfängt, ihre Kunst auf ech­ter Haut zu ver­ewi­gen, gebe ich ihr kei­ne zwei Mona­te, bis sie ihr eige­nes Tat­­too-Stu­­dio eröffnet.“

Stef­fen

„Ich habe so gehofft, dass die Angrei­fer uns nur erschre­cken wollen.“

Sla­ta

Seit ihrer Ankunft in Müns­ter besucht Sla­ta die 5. Klas­se. Die eher schüch­ter­ne Elf­jäh­ri­ge freut sich, dass die Schü­le­rin­nen und Schü­ler – trotz der Sprach­bar­rie­re – mit ihr spie­len und malen. Manch­mal gelingt die Ver­stän­di­gung mit ihren Mitschüler:innen nicht so gut, dann neh­men die Kin­der den Goog­le-Über­set­zer zu Hilfe.

„In der Ukrai­ne habe ich als Leis­tungs­sport Vol­ley­ball gespielt. Hier möch­te ich nicht zum Sport zu gehen, weil ich Angst habe, dass man mich auf­grund der Sprach­bar­rie­re nicht mögen könnte.“

Sla­ta

Damit Sla­ta in Müns­ter schnel­ler Fuß fas­sen und einen ver­trau­te­ren All­tag erle­ben kann, hofft ihre Mut­ter Nata­lia, dass die jüngs­te Toch­ter ihre Angst über­win­det und schon bald wie­der das Vol­ley­ball­spie­len aufnimmt.

„Wir kön­nen nur erah­nen, was das für sie bedeutet“

Uta Dirk­sen

Weil Uta Dirk­sen als Pro­fes­so­rin an der Uni­kli­nik in Essen arbei­tet, ist haupt­säch­lich Tho­mas Dirk­sen der Ansprech­part­ner für die drei Frau­en. Von Anfang an hat er der ukrai­ni­schen Fami­lie mit Rat und Tat zur Sei­te gestan­den und sie bei den Behör­den­gän­gen unterstützt. 

Geflüch­te­te auf­zu­neh­men, ist kei­ne ein­fa­che Sache. Dass plötz­lich drei wei­te­re Per­so­nen mit Fami­lie Dirk­sen unter einem Dach leben, kann den All­tag schon mal auf den Kopf stellen. 

„Natür­lich läuft nicht alles glatt, da gibt es eini­ges an Gewohn­hei­ten, kul­tu­rel­len Unter­schie­den und sprach­li­chen Bar­rie­ren, die es zu über­win­den gilt. Aber ich wür­de es immer wie­der tun.“

Tho­mas Dirksen

„Ich bin sehr dank­bar, dass Tho­mas und Uta uns auf­ge­nom­men haben. Nicht jeder kann so was, es ist echt schwer!“ 

Nata­lia

Nata­lia ist es sehr wich­tig, die deut­sche Spra­che zu erler­nen – und sie fügt hinzu:

„In Müns­ter geht es uns sehr gut und mit etwas gutem Wil­len kann sich hier jeder integrieren.“ 

Nata­lia

„In solchen Situationen leiden die Kinder am meisten.“

Bei Dari­ia Oprysh­ko sieht die Lage ein wenig anders aus. Die Anwäl­tin und zwei­fa­che Mut­ter ist eben­falls aus der Ukrai­ne geflüch­tet, lebt aber dank eines befreun­de­ten deut­schen Anwalts bereits gemein­sam mit ihren Kin­dern in einer eige­nen Woh­nung in Müns­ter. Nach deut­schem Recht darf die pro­mo­vier­te Medi­en­recht­le­rin ihrem Beruf hier­zu­lan­de nicht nach­ge­hen. Den­noch hat die 33-Jäh­ri­ge mit einem Job an der Uni­ver­si­tät Müns­ter eine gute Mög­lich­keit gefun­den, um selbst für ihren Unter­halt zu sor­gen. Außer­dem ist die sprach­li­che Hür­de für die Juris­tin deut­lich gerin­ger, weil sie Eng­lisch spricht und sich damit gut ver­stän­di­gen kann. 

Ihren Mann aber muss­te auch Dari­ia Oprysh­ko in der Ukrai­ne zurück­las­sen. Seit­her bangt sie jeden ein­zel­nen Tag um ihn. Und doch betont sie: 

„In sol­chen Situa­tio­nen lei­den die Kin­der am meisten.“ 

Dari­ia Opryshko

Umso mehr hat sie sich gefreut, als sie nach all den Stra­pa­zen end­lich eine Woh­nung in Müns­ter bezie­hen konn­te. Aller­dings war sie anfangs über­rascht, als bei einer frü­hen Besich­ti­gung der Ver­mie­ter Beden­ken bezüg­lich der Grö­ße der Woh­nung äußer­te. Er hat­te die Sor­ge geäu­ßert, dass sei­ne Woh­nung even­tu­ell zu klein für eine drei­köp­fi­ge Fami­lie sein könn­te. Für Dari­ia Oprysh­ko hin­ge­gen erschien die Woh­nung per­fekt – ihr ging es dar­um, über­haupt ein Dach über dem Kopf und Pri­vat­sphä­re für ihre Fami­lie zu haben.

Trotz aller anfäng­li­cher Schwie­rig­kei­ten hat Dari­ia Oprysh­ko aber auch posi­ti­ve Erfah­run­gen gemacht:

„All­ge­mein in Deutsch­land und ins­be­son­de­re in Müns­ter habe ich tol­le Men­schen getrof­fen, die uns sehr gehol­fen haben. All die­se Men­schen sind wah­re Engel für mich.“

Dari­ia Opryshko

Jan Kalb­henn hat Dari­ia Oprysh­ko und ihre Fami­lie von Anfang an beglei­tet. Das The­ma Flucht war für den 37-jäh­ri­gen Anwalt eben­so neu wie für vie­le ande­re Helfer:innen auch. Aber wie vie­le Jurist:innen hat auch Kalb­henn gute Kon­tak­te zu ande­ren Kolleg:innen, die ihn bera­ten kön­nen. Die Zusam­men­ar­beit mit den Behör­den in Müns­ter funk­tio­niert gut.

„Bei all mei­nen Behör­den­gän­gen waren die Mit­ar­bei­ter sehr nett und hilfsbereit.“

Jan Kalb­henn

Mit Blick auf Dari­ia Oprysh­ko und das Arbeits­ge­neh­mi­gungs­ver­fah­ren in Deutsch­land ver­weist Jan Kalb­henn auf die Geset­zes­la­ge, die dadurch beein­flusst wird, dass die Ukrai­ne nicht Mit­glied in der Euro­päi­schen Uni­on ist. 

„Dari­ia ist über einen befreun­de­ten bri­ti­schen Medi­en­recht­ler auf unser Insti­tut auf­merk­sam gemacht wor­den. Als pro­mo­vier­te Medi­en­recht­le­rin und mit ihrem fach­li­chen Wis­sen zu Des­in­for­ma­ti­on passt sie per­fekt ins Team. Sie hat zum Bei­spiel bereits eine Web­site zum ukrai­ni­schen Medi­en­recht erstellt und einen Work­shop zum The­ma ‚Rus­si­sche Des­in­for­ma­ti­on in der Ukrai­ne‘ orga­ni­siert. Im Ver­gleich zu ande­ren Geflüch­te­ten hat­te sie es durch die­se Fügung wahr­schein­lich ein­fa­cher, einen Job in Deutsch­land zu fin­den. Denn in der Euro­päi­schen Uni­on wird nicht jeder im Aus­land erlern­te Beruf auto­ma­tisch aner­kannt. Teil­wei­se bedarf es einer behörd­li­chen Ent­schei­dung. Ein EU-Bei­­tritt der Ukrai­ne wür­de das wahr­schein­lich ändern.“

Jan Kalb­henn

Für Dari­ia Oprysh­ko gibt es nun noch eine neue, posi­ti­ve Per­spek­ti­ve: Sie hat gera­de die Zusa­ge für das renom­mier­te Phil­ip-Schwartz Sti­pen­di­um für geflo­he­ne Wissenschaftler:innen bekom­men und kann damit 18 Mona­te lang zu den The­men Medi­en­recht und Des­in­for­ma­ti­on forschen.