RUMS stellt vor: Ein Rucksack voll Hoffnung – für Münster (#5)

Zeit und Offen­heit sind noch wich­ti­ger als Geld­spen­den, so Timo Blaszc­zyk vom Ver­ein Ein Ruck­sack voll Hoff­nung“. Eva Streh­l­ke hat mit ihm in der Rei­he „Enga­ge­ment in Müns­ter“ genau dar­über gespro­chen und war­um sein Ehren­amt ihn in den letz­ten Jah­ren mehr geprägt hat als Schu­le und Medi­zin­stu­di­um zusam­men. Das Gespräch wur­de im Rah­men unse­rer Mar­ke­ting­ak­ti­on auf dem Weih­nachts­markt 2021 geführt.

Inter­view: Eva Strehlke

Timo, euer Ver­ein heißt „Ein Ruck­sack voll Hoff­nung“, aber ihr ver­teilt ja nicht mehr nur Ruck­sä­cke. Wie kommt das?

Wir haben damals mit Ruck­sä­cken ange­fan­gen, in die wir war­me Klei­dung, Lebens­mit­tel und ande­re Din­ge des täg­li­chen Bedarfs gepackt haben. Die haben wir in der Stadt an woh­­nungs- und obdach­lo­se Men­schen ver­teilt. Sie wur­den sehr gut ange­nom­men und haben vie­len Men­schen gehol­fen. Aber irgend­wann haben wir fest­ge­stellt, dass wir mit die­sem Ange­bot immer die­sel­ben Leu­te erreicht haben – und ande­re Men­schen dage­gen qua­si gar nicht errei­chen konn­ten, weil nicht alle direkt in der Innen­stadt und auf unse­ren Rou­ten zu fin­den waren. Des­halb haben wir unser Kon­zept umgestellt.

Was bie­tet ihr woh­­nungs- und obdach­lo­sen Men­schen jetzt an?

Inzwi­schen haben wir am Dom­platz 8 einen Spen­den­kel­ler als fes­te Anlauf­stel­le für Bedürf­ti­ge – nicht unbe­dingt nur Obdach- und Woh­nungs­lo­se aus Müns­ter, auch wenn unser Fokus nach wie vor auf die­sen Men­schen liegt. In unse­rem Kel­ler sam­meln wir alles, was man für das Leben auf der Stra­ße braucht, von ver­pack­ten Lebens­mit­teln und Hygie­ne­ar­ti­keln über Schals, Müt­zen, Hand­schu­he bis zu Schlaf­sä­cken und Iso­mat­ten. An jedem letz­ten Sonn­tag im Monat öff­nen wir den Spen­den­kel­ler, damit sich Men­schen, die Hil­fe brau­chen, das abho­len kön­nen, was sie brau­chen. Meis­tens kom­men um die 70 Leu­te, zumeist Obdach- und Woh­nungs­lo­se, aber auch immer mehr ande­re Bedürf­ti­ge. Men­schen, bei denen es am Ende des Monats ein­fach knapp wird oder die all­ge­mein schwie­ri­ge Lebens­um­stän­de haben und dann bei uns Hil­fe suchen.

Seid ihr nur an die­sem einen Tag im Monat erreichbar?

Nein, wir sind auch offen dafür, uns mal spon­tan mit jeman­dem zu tref­fen. Was macht man zum Bei­spiel, wenn man auf der Stra­ße lebt und einem alles geklaut wur­de? Dann steht man da, es sind nachts Minus­gra­de und man hat gar nichts, kein Zelt, kein Schlaf­sack, nur sei­ne Jacke und eine Ikea-Tasche, in der fünf Sachen drin sind. Das ist schon ein paar Mal vor­ge­kom­men. In sol­chen Situa­tio­nen kön­nen Men­schen uns ger­ne anru­fen, dann machen wir den Spen­den­kel­ler natür­lich auch außer der Rei­he auf. Außer­dem sind wir ja auch jeden Sonn­tag­nach­mit­tag im Raum neben­an erreichbar.

Was bie­tet ihr dort an?

Wer möch­te, kann sich zwi­schen 13 und 15 Uhr etwas zu essen abho­len und sich dann auch ein­fach mal hin­set­zen und sich mit uns unter­hal­ten. Wir möch­ten den Men­schen auch ein­fach eine schö­ne Zeit ermög­li­chen und Raum für Aus­tausch und Kon­tak­te bie­ten. In die­ser Zeit neh­men wir übri­gens auch Spen­den an. Wer etwas geben möch­te, ruft am bes­ten vor­her kurz an und fragt, was wir gera­de beson­ders brauchen.

Wie vie­le Men­schen kom­men an einem ganz nor­ma­len Sonn­tag zu euch?

Meis­tens 40 bis 50 Leu­te, gera­de jetzt im Win­ter sind es manch­mal auch ein paar mehr. Wenn es käl­ter wird, vor allem bei Minus­gra­den, wird das Leben auf der Stra­ße immer här­ter. Auch die Nach­fra­ge nach Klei­dung und Schlaf­sä­cken steigt dann natür­lich, aber zum Glück auch die Spen­den­be­reit­schaft der Münsteraner:innen.

Muss man einen Nach­weis mit­brin­gen, um Unter­stüt­zung zu bekommen?

Nein, gar kei­nen. Unse­re Hil­fe ist nicht an Bedin­gun­gen geknüpft. Es gibt ja auch kei­nen „Obdach­lo­sen­aus­weis“ oder so etwas, und das soll­te es mei­ner Mei­nung nach auch gar nicht geben. Wir haben den Anspruch, jedem Men­schen zu hel­fen, der zu uns kommt – unvor­ein­ge­nom­men und auf indi­vi­du­el­le Art und Wei­se. Das heißt nicht, dass wir jeden von der Stra­ße holen wol­len, weil auch nicht unbe­dingt jeder von der Stra­ße möch­te. Son­dern, dass wir auf die Men­schen zuge­hen und mit ihnen dar­über spre­chen, was sie brau­chen und wie wir hel­fen kön­nen. Es ist nicht immer der Schlaf­sack, manch­mal wird auch etwas ganz ande­res gebraucht.

Es gibt euren Ver­ein ja schon seit 2014. Kannst du kurz erzäh­len, wie das Pro­jekt damals ent­stan­den ist?

Im Prin­zip fing das Gan­ze im Sozi­al­­wis­­sen­­schaf­­ten-Unter­richt in der Schu­le an. Unser Grün­der Sebas­ti­an Jei­sing hat sich in dem Kurs mit Obdach- und Woh­nungs­lo­sig­keit beschäf­tigt. Und mit der Fra­ge: Wie kann es sein, dass in unse­rer Welt und auch in einer rei­chen Stadt wie Müns­ter Men­schen auf der Stra­ße leben? Sebas­ti­an hat zu dem The­ma ein Essay geschrie­ben und im Stra­ßen­ma­ga­zin „drau­ßen!“ ver­öf­fent­licht. Unser zwei­ter Grün­der Aure­li­us Thoß hat die­sen Arti­kel gele­sen und Sebas­ti­an dar­auf­hin kon­tak­tiert. Er hat­te von einem Ham­bur­ger Pro­jekt gehört, bei dem Ruck­sä­cke an Bedürf­ti­ge auf der Stra­ße ver­teilt wur­den. Gemein­sam mit ande­ren Mitstreiter:innen haben Sebas­ti­an und Aure­li­us die­se Idee dann nach Müns­ter gebracht.

Alle Gründer:innen waren ja damals 14 oder 15 Jah­re alt und gin­gen noch zur Schu­le. Wie seid ihr denn mit den Her­aus­for­de­run­gen umge­gan­gen, die mit der Grün­dung einer sol­chen Initia­ti­ve einhergehen?

Zunächst ein­mal haben Sebas­ti­an und Aure­li­us zum Glück schnell Mitstreiter:innen gefun­den, also ande­re Jugend­li­che, die Lust hat­ten, mit­zu­hel­fen und sich zu enga­gie­ren. So bin ich auch zu dem Pro­jekt gekom­men. Und auch die Spen­den­be­reit­schaft der Bevöl­ke­rung war damals schon sehr, sehr gut und ist es heu­te nach wie vor, gera­de auch in Corona-Zeiten.
Eine gro­ße Her­aus­for­de­rung am Anfang war, uns zu eta­blie­ren und als 14- oder 15-Jäh­ri­­ge in die­se Sze­ne zu kom­men. Und dabei haben wir natür­lich auch Gegen­wind erfahren.

Inwie­fern?

Eini­ge Men­schen sag­ten uns zum Bei­spiel: ‚Ihr als Schüler:innen könnt das gar nicht, ihr habt das nicht gelernt. Euer Enga­ge­ment ist nicht nach­hal­tig!‘ Umso stol­zer sind wir jetzt natür­lich dar­auf, dass wir durch­ge­hal­ten und wei­ter­ge­macht haben, sodass wir heu­te tat­säch­lich eta­bliert sind. Wir arbei­ten mitt­ler­wei­le mit allen Insti­tu­tio­nen zusam­men, die sich in dem Bereich in Müns­ter engagieren.

Gehst Du durch die­ses Ehren­amt inzwi­schen mit ande­ren Augen durch Münster?

Ja, ich schaue anders auf die Stadt. Wenn man sich enga­giert, hat man einen ande­ren Blick für Men­schen, denen es nicht so gut geht und die es schwe­rer haben als man selbst. Dadurch hat mich das Ehren­amt sehr stark geprägt, mehr als mein Stu­di­um und alles ande­re, was ich in den letz­ten Jah­ren gemacht habe. Es geht ja nicht nur ums Hin­schau­en. Man han­delt auch anders.

Wie denn?

Man geht auf Men­schen zu, die viel­leicht Hil­fe brau­chen. Und das wür­de ich mir eigent­lich von allen Münsteraner:innen wün­schen. Das ist auch Teil unse­rer „Mis­si­on“: die­se Bar­rie­re auf­zu­bre­chen, die vie­le Men­schen davon abhält, zu hel­fen oder Hil­fe anzu­bie­ten. Dass es die­se Bar­rie­re gibt, haben wir damals selbst erlebt, als wir ange­fan­gen haben, Ruck­sä­cke zu ver­tei­len. Des­halb kann ich das sehr gut nach­voll­zie­hen und wür­de das nie­man­dem übelnehmen.

Was habt ihr damals erlebt?

Es hat uns gro­ße Über­win­dung gekos­tet, auf obdach- und woh­nungs­lo­se Men­schen zuzu­ge­hen und ihnen einen Ruck­sack anzu­bie­ten. Das ist ja eine sehr unge­wohn­te Situa­ti­on und wir muss­ten erst ein­mal Mut fas­sen, obwohl wir ja an unse­re Idee geglaubt haben.

Hast du einen Tipp für die Münsteraner:innen, wie sie jeman­den am bes­ten anspre­chen und Hil­fe anbie­ten können?

Sie kön­nen ein­fach auf die Per­son zuge­hen und ein paar Minu­ten mit ihr oder ihm reden, ein biss­chen Small Talk, ein paar net­te Wor­te. Und sie kön­nen fra­gen: ‚Kann ich Ihnen etwas aus dem Super­markt mit­brin­gen?‘ Ich weiß, das ist beim ers­ten Mal nicht so leicht. Aber man hat eigent­lich nichts zu ver­lie­ren, höchs­tens fünf Minu­ten, die man viel­leicht spä­ter dran ist. Und für die Per­son, die man anspricht, kann das eine Men­ge bedeu­ten und den Tag schö­ner machen. Für sie ist es sehr viel wert, wenn ande­re Men­schen nicht blind vor­bei­lau­fen, son­dern hin­schau­en und sich etwas Zeit nehmen.

Was kön­nen die Münsteraner:innen sonst noch tun?

In man­chen Loka­len in der Stadt haben wir soge­nann­te Bonus­ta­feln auf­ge­hängt. Dort kön­nen Gäs­te, die ein Pro­dukt oder Gericht bestel­len, ein zwei­tes bezah­len. Und jemand, der sich das Essen sonst nicht leis­ten kann, kann spä­ter die zwei­te Por­ti­on ein­lö­sen. Sol­che Tafeln hän­gen zum Bei­spiel schon bei Al Hayat und bei der Bäcke­rei Els­hoff. Wir suchen aber noch wei­te­re Loka­le, die eine Bonus­ta­fel auf­hän­gen würden.

Dar­über hin­aus ist es wich­tig, offen und auf­merk­sam durch die Stadt zu lau­fen. Wer im Win­ter jeman­den auf der Stra­ße sieht, kann die Per­son fra­gen, ob sie einen Platz zum Schla­fen hat oder nachts Pro­ble­me bekom­men könn­te. Und wer unsi­cher ist, ob und was zu tun ist, kann uns anru­fen oder sich an die Käl­­te-Num­­mer des Hau­ses der Woh­nungs­lo­sen­hil­fe wen­den. Das ist viel wert.

Und zum Schluss: Wer möch­te, kann natür­lich auch bei uns mit­ma­chen. Wir suchen eigent­lich immer ehren­amt­li­che Helfer:innen, die sich regel­mä­ßig enga­gie­ren oder auch ein­fach nur ein­mal im hal­ben Jahr bei einer grö­ße­ren Akti­on hel­fen und ein biss­chen Zeit spen­den wollen.

Gespräche auf dem X-MS-Markt 2021

Im Rah­men unse­rer Wei­h­­nachts­­markt-Mar­ke­­tin­g­ak­­ti­on auf dem X-MS-Markt 2021 in Müns­ter woll­ten wir Men­schen vor­stel­len, die sich in der Stadt enga­gie­ren. Lei­der konn­ten wir wegen der Coro­­na-Beschrän­­kun­­gen die­se Gesprä­che, bei denen wir ver­schie­de­nen Ehren­amts­or­ga­ni­sa­tio­nen eine Büh­ne gebo­ten haben, nicht vor Publi­kum füh­ren. Aber wir haben sie auf­ge­nom­men und ver­öf­fent­li­chen sie nun in gekürz­ter Ver­si­on als schrift­li­che Interviews.

Die Inter­views mit den ande­ren Orga­ni­sa­tio­nen, mit denen wir auf dem Weih­nachts­markt gespro­chen haben, fin­den Sie auf die­ser Sei­te.