Ausgedruckt

Der Aschendorff-Verlag stellt Ende April die Gratiszeitung „Hallo“ ein. Warum? Und wie geht es dann weiter, für die Mitarbeiter:innen, die Leserschaft und die Werbekunden? Ein Rückblick und ein Ausblick.
TEXT: CONSTANZE BUSCH
LEKTORAT: ANTONIA STROTMANN
FOTO: NIKOLAUS URBAN
Am 3. April 2016 veröffentlichte der Aschendorff-Verlag eine Sonderausgabe seines Anzeigenblattes in Münster. Es gab etwas zu feiern: zehn Jahre „Hallo“. Das Blatt bekam zu dem Anlass ein neues Layout geschenkt (hier können Sie sich das alte anschauen, hier das neue). Die Leser:innen bekamen, wie bei solchen Jubiläen üblich, ein Heft mit Einblicken in den Verlag und die Zeitungsproduktion.
Die Sonderausgabe hangelt sich an der Entstehung einer „Hallo“-Ausgabe entlang. Vom Konferenzraum und dem Sekretariat der Verlagsleitung, wo alle Fäden zusammenlaufen, geht es zu den Anzeigenberater:innen, der Mediengestaltung und ins Druckhaus. Und es menschelt: Die Redaktion stellt den seinerzeit dienstältesten Zusteller vor und erzählt die Geschichten zweier Paare, deren Ehen so alt sind wie die Zeitung.
Ganz vorne stehen die üblichen Editorials, Verleger Benedikt Hüffer und das Redaktionsteam („Ihre Hallos“) bedanken sich bei den Leser:innen und Werbekunden und schreiben, dass sie sich „auf die nächsten zehn Jahre“ freuen. Weiter hinten beschreiben Redakteur:innen (ernst und weniger ernst gemeint), wie sie sich einen Tag bei der „Hallo“ zehn Jahre später vorstellen, im Jahr 2026. Chefredakteurin Claudia Bakker zum Beispiel hat zwei Ideen: Es gebe dann bestimmt eine „Hallo Malle“, mit exklusiven Geschichten vom Ballermann, und neben der gedruckten auch eine digitale Ausgabe, mit bewegten Fotos wie in „Harry Potter“.
Alles in dem Heft liest sich sehr motiviert und hoffnungsvoll. Aber eine „Hallo 2026“ wird es nicht mehr geben. Gut sieben Jahre nach der Jubiläumsausgabe, Ende April 2023, wird der Verlag seine Anzeigenblätter einstellen – nicht nur das in Münster, sondern alle Titel im ganzen Münsterland (Gesamtauflage: 362.000) und in Ostwestfalen (Gesamtauflage: 564.000).
Die „Hallo“ vor zehn Jahren: Anzeigen, so weit das Auge reicht
Das ist ein gewaltiger Schritt, ein solches flächendeckendes Aus gibt es in Deutschland zum ersten Mal. Kein Verlag macht so etwas ohne Not. Die Westfälische Medien-Holding, ein Zusammenschluss von Aschendorff und der Unternehmensgruppe Westfalen-Blatt in Bielefeld, erklärt auf Anfrage, dass es sich – kurz gesagt – einfach nicht mehr lohnt. Das Blatt trägt sich nicht mehr, Papier und Zustellung sind zu teuer geworden, auch die Coronakrise hatte der gesamten Branche zugesetzt.
Um ein Gefühl dafür zu bekommen, was das konkret für einen Verlag bedeutet, hilft ein Blick ins Archiv. Die ältesten „Hallo“-Ausgaben im Online-Archiv von Aschendorff sind im November 2013 erschienen und zeigen einen riesigen Kontrast zur „Hallo“ von heute.
Ende 2013 hatte das Blatt eine Auflage von 120.870 Exemplaren, die sonntags verteilt wurden – an einem Tag ohne Tageszeitung also, und diese Lücke sollte das Gratisblatt offenbar füllen. Dazu kam jede Woche noch eine zweite, dünnere Ausgabe am Mittwoch. Seit 2019 erscheint in Münster nur noch ein Anzeigenblatt pro Woche. Die Auflage gibt der Verlag mit 105.470 an, allein am Wochenende erscheinen also gut 15.000 Zeitungen weniger als vor zehn Jahren. Ein Grund dafür könnte sein, dass immer mehr Menschen per Aufkleber am Briefkasten die Gratiszeitung verweigern. Da die Preise für Werbeanzeigen und der Umsatz durch Prospektbeilagen an die Auflage gekoppelt sind, dürfte sich allein dieser Auflagenverlust deutlich bemerkbar machen. Dazu kommt ein weiterer Faktor: Es gibt heute viel weniger Anzeigen.
Die Ausgabe von Sonntag, dem 3. November 2013, sah so aus: eine bunte Titelseite fast ohne Text, fünf Lokalseiten, drei Seiten Weltnachrichten, je eine Seite Tipps und Termine sowie Unterhaltung, fünf Sportseiten, eine Sonderseite „Bauen und Wohnen“ mit Text und Anzeigen zum Thema, fünf Seiten Kleinanzeigen und Stellenmarkt und fünf ganzseitige Werbeanzeigen. Insgesamt 28 Seiten mit Inhalten, die denen in einer Tageszeitung sehr ähnlich waren. Diese vielen Seiten wurden gebraucht, um all die Anzeigen unterzubringen, die die „Hallo“-Berater:innen Woche für Woche verkauften. Auto- und Möbelhäuser, Schmuck- und Sportgeschäfte warben auf großen Flächen; neben den ganzseitigen Anzeigen gab es auch etliche, die halbe oder Drittelseiten und damit das Verlagskonto füllten.
Zum Vergleich die Ausgabe vom 14. Januar 2023: drei Lokalseiten (eine davon die Titelseite), zwei Seiten Tipps und Termine, eine Seite „Essen und Trinken“ mit einem Kochrezept, eine Filmseite, eine Seite „Kalender“ (nochmal Termintipps), zwei Seiten Kleinanzeigen, zwei ganzseitige Werbeanzeigen. Insgesamt zwölf Seiten; die heutige Wochenendausgabe (die ja gleichzeitig auch die einzige ist) hat damit etwa den Umfang einer Mittwochsausgabe von vor zehn Jahren.
Was ist da passiert?
Corona, Papierkrise, Mindestlohn
Rein mengenmäßig hatten die Anzeigenblätter in Deutschland ihren Höhepunkt im Jahr 2014. Damals erschienen laut dem Bundesverband Deutscher Anzeigenblätter (BVDA) insgesamt 1.406 Titel mit einer Gesamtauflage von 91,4 Millionen Exemplaren. In den Jahren danach knickten diese beiden Kurven nach unten ab, besonders stark ab 2020. Das Ergebnis nach zwei Jahren Coronakrise: Anfang 2022 waren noch 856 Titel mit einer Gesamtauflage von 58,9 Millionen Exemplaren übrig.
Die Verlage spürten diese Krise nicht nur beim Geschäft mit den Werbeanzeigen, die auf den Zeitungsseiten erscheinen. Auch die Einnahmen aus Prospektbeilagen, die bei vielen Verlagen rund 80 Prozent der kompletten Werbeerlöse ausmachen, brachen ein. Supermärkte und Drogerien durften zwar wie gewohnt öffnen und warben auch weiter für ihre Angebote. Baumärkte, Möbelhäuser und andere Geschäfte mussten aber erst einmal schließen, ihre Prospekte und Anzeigen fielen aus.
Auch unabhängig von der Coronakrise haben die Anzeigenblätter ein Einnahmenproblem, wie uns ein Gesprächspartner in einem Verlag sagt. Immer mehr große Handelsketten lassen sich von Agenturen vertreten, die mit den Verlagen möglichst niedrige Preise für die Zustellung der Werbeprospekte aushandeln. Für die Zeitungshäuser entsteht dadurch offenbar ein immer größerer finanzieller Druck.
Es fehlt also Geld, gleichzeitig müssen die Verlage viel mehr für die Her- und Zustellung der Gratiszeitungen ausgeben. Die Preise für Zeitungspapier haben sich von Sommer 2021 bis Sommer 2022 mehr als verdoppelt und nur leicht wieder erholt, der Mindestlohn ist im vergangenen Jahr deutlich gestiegen. Zwar werden Gratiszeitungen häufig von (minderjährigen) Schüler:innen ausgetragen, die keinen Mindestlohn bekommen müssen. Auch in Münster bekommen die jungen Bot:innen nach unseren Informationen einen Stundensatz deutlich unter dem Mindestlohn. Doch auch der wurde im vergangenen Jahr angehoben.
Noch ein Problem, das indirekt auch mit dem Geld zusammenhängen dürfte: Viele Verlage haben Schwierigkeiten, überhaupt Zusteller:innen zu finden. Aschendorff ist da wahrscheinlich keine Ausnahme, denn in sehr vielen „Hallo“-Ausgaben warb der Verlag auf den Kleinanzeigen-Seiten selbst um Personal für den Job. Möglicherweise ist das ein Grund dafür, dass regelmäßig viele Ausgaben gar nicht verteilt wurden, wie wir im vergangenen Jahr recherchiert hatten.
Weniger Seiten, weniger Anzeigen
Die Branche steckt also schon seit Jahren in Schwierigkeiten. Verlage müssen sparen, etwa beim Seitenumfang und in den Redaktionen; beides passierte auch bei der „Hallo“. Schon ab Frühjahr 2016 erschienen Sonntagsausgaben mit nur noch 10 bis 16 Seiten, mittwochs war das Blatt manchmal nur noch acht Seiten stark.
Auf den verbliebenen Seiten waren viel weniger Anzeigen als in den Jahren zuvor. Ob das daran lag, dass es weniger potenzielle Kunden gab oder dass der Verlag sich stärker auf das Geschäft mit den Prospektbeilagen konzentrierte, lässt sich schwer beurteilen. Es ist allerdings etwas überraschend, dass es auch ab der zweiten Jahreshälfte 2016 nicht wieder mehr Anzeigen wurden. Denn im Juli 2016 wurde das Konkurrenzprodukt „Kaufen + Sparen“ eingestellt (in den Räumen sitzt inzwischen die RUMS-Redaktion), das bis 2014 zum Lensing-Verlag (Münstersche Zeitung) gehörte und dann von einem Verlag in Rheine übernommen wurde.
Wie sich die „Hallo“ redaktionell und journalistisch verändert hat, lässt sich ganz gut an zwei Zahlen ablesen. In der Jubiläumsausgabe von 2016 tauchen die Namen von zehn Autor:innen der „Hallo Münster“ auf. Heute verantworten laut dem Journalistenverband NRW etwa zehn Redakteur:innen das komplette Verlagsgebiet, sieben von ihnen den Bereich Ostwestfalen, drei oder vier das Münsterland. Eine solche Entwicklung ist laut dem BVDA nicht ungewöhnlich, sehr viele Verlage haben im Laufe der Zeit ihre Redaktionen verkleinert. Und das macht sich natürlich inhaltlich stark bemerkbar: Die „Hallo“ in Münster ist von einer Zeitung mit eigenen Texten der Redaktion zu einem Blatt geworden, das fast ausschließlich aus Pressemitteilungen besteht.
Stellenabbau auch im Bereich der Druckerei
Welche Perspektive die verbliebenen Redakteur:innen ab Mai in ihrem Verlag haben, ist ungewiss. Klar ist dagegen, dass wohl alle Bot:innen ihren Job verlieren werden, laut der Gewerkschaft Verdi sind es im gesamten Verlagsgebiet rund 2.500.
Ein Fragezeichen gibt es mit Blick auf die Druckereien. Jeder Verlagsteil – die Aschendorff-Gruppe in Münster und das Westfalen-Blatt in Bielefeld – hat ein eigenes Druckzentrum, in dem die jeweiligen Tages- und Gratiszeitungen und Produkte für externe Auftraggeber gedruckt werden. Den beiden Druckereien gehen Ende April insgesamt knapp eine Million Zeitungsausgaben pro Woche verloren. Und das könnte ein Problem werden, denn die Maschinen lohnen sich für einen Verlag vor allem dann, wenn sie ständig laufen.
Der Aschendorff-Verlag schreibt auf Anfrage, tatsächlich brauche es ab Mai „einen Ausgleich der dann wegfallenden Druckaufträge“. Man bemühe sich gerade darum, aber es sei schon absehbar, „dass es Kapazitäten geben wird, die nicht mehr benötigt werden“. Auch im Bereich der Druckerei werde man also Stellen abbauen müssen. Wie viele das sein werden, hänge aber davon ab, welche neuen Aufträge man akquirieren könne.
Prospekte kommen auch anders zu den Menschen – und die Nachrichten?
Apropos Aufträge: Da werden ja im Mai eine Menge frei. Denn wenn die Gratiszeitung nicht mehr verteilt wird, werden sich die Handelsketten voraussichtlich eine andere Möglichkeit suchen, um ihre Prospekte zu den Kund:innen zu bringen. Eine solche Möglichkeit könnte sich auftun, indem ein anderer Verlag in Münster oder der ganzen Region ein neues Anzeigenblatt verlegt. Eine zweite sind so genannte Direktverteiler: Unternehmen beauftragen Bot:innen, die einfach nur Prospekte in die Briefkästen werfen, ohne Zeitung drumherum.
Eine dritte Möglichkeit wäre die Deutsche Post. Ihr Heft Einkauf aktuell wird schon jetzt in Münster verteilt, direkt von den Briefträger:innen. Es besteht aus einem Fernsehprogramm, in dem Kunden – ähnlich wie in der Zeitung – Anzeigen schalten können. Das Heft dient als Hülle für Werbeprospekte, je nach Stadtteil oder sogar Straße von bestimmten Supermärkten, Gartencentern oder Möbelhäusern; es sind andere Handelsketten oder Filialen als die, die bisher in der „Hallo“ werben.
Die Werbung wird die Menschen also voraussichtlich weiter erreichen, zumindest erst einmal auch in gedruckter Form. Und was ist mit den Nachrichten, die ja – wenn auch inzwischen sehr reduziert – immer noch in dem Anzeigenblatt stehen? Werden die Menschen die überhaupt vermissen oder lesen sie sie sowieso schon längst woanders? Kann das Ganze gesellschaftlich zu einem Problem werden, weil anderswo Nachrichten und Meldungen nicht einmal mehr mit journalistischem Blick aus glaubwürdigen Quellen ausgewählt werden?
Auf diese Fragen gibt es noch keine Antwort, denn was ab Mai in der Region passiert, gab es eben noch nirgendwo. Aber wir bleiben natürlich dran. Und jetzt geben wir zum Schluss noch einmal ab, an die frühere „Hallo“-Redakteurin Karina Linnemann. Sie schrieb in der Jubiläumsausgabe 2016 über ihre Idee für das Jahr 2026, und diese Idee war hauptsächlich: Da wird sich gar nicht viel ändern. Redakteure seien doch irgendwie „Spinner“, „so viel Stress, die ständige Rumgurkerei und das Woche für Woche“. Aber die Arbeit mache eben Spaß, und das werde sicher auch 2026 so sein. „Wer sollte denn sonst noch in zehn Jahren für die brühwarmen Nachrichten am Sonntagmorgen sorgen, wenn nicht wir ‚Spinner‘ von der Hallo.“ Tja. Wir wissen es noch nicht.
Dieser Beitrag ist in Zusammenarbeit mit dem Medienmagazin „Übermedien“ entstanden. Constanze Buschs Text für Übermedien finden Sie hier.
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Ich finde es spannend, dass Sie dieses Thema über eine längere Zeit verfolgen, und möchte eine Frage ansprechen, die mir durch den Kopf ging: Wie wirkt sich das Verschwinden einer Gratiszeitung mit vielen Prospektbeilagen auf Klima und Umwelt aus? An meinem eigenen Briefkasten habe ich einen Hinweis angebracht, dass ich keine Werbung erhalten möchte; und weil Gratis-Zeitungen nicht ohne einen Stapel Werbeprospekte zu haben sind, möchte ich diese auch nicht haben. Das ist mir zu viel Ressourcenverbrauch, zumal mich die Werbung nicht interessiert und ich all die Prospekte ungesehen entsorgen würde. Für redaktionelle Inhalte nutze ich andere Angebote. Deshalb war mein erster Impuls, zu denken: Dass die Hallo eingestellt wird, ist gut für Klima und Umwelt. Aber lässt sich mehr und fundierter etwas dazu sagen? Denn Unternehmen werden ja nicht darauf verzichten, für ihre Angebote zu werben, nur weil es keine Hallo mehr gibt, und z.B. Online-Werbung ist auch nicht klimaneutral oder frei von Ressourcenverbrauch. Deshalb würde es mich interessieren, mehr darüber zu erfahren und zu schauen, ob mein erster Impuls bei näherem Hinsehen noch passt oder nicht.
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