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Baulücke Grevener Straße

Bauen auf Lücken

Münster braucht mehr bezahlbaren Wohnraum. Der könnte zum Beispiel auf Baulücken entstehen. Bloß: Wie viele solcher unbebauten Grundstücke es in der Stadt gibt und wo sie liegen, weiß bisher niemand so genau. Warum eigentlich nicht? Und warum stehen überhaupt Grundstücke leer, obwohl die Nachfrage doch so groß ist?

von Johanne Burkhardt • Redaktion: Constanze Busch • Fotos: Nikolaus Urban

Die Grevener Straße in Münster-Neutor. Rechts und Links reihen sich vier- bis fünfstöckige Wohnhäuser. Nur zwischen den Hausnummern 37 und 53 klafft eine Lücke. Ein leeres Grundstück, etwa 15 mal 25 Meter Augenmaß. Durch den Bauzaun erkennt man das Gras und Unkraut, das sich durch den bröckelnden Asphalt drängt.

„Da soll jetzt auch bald so ein Haus hingebaut werden“, erzählt eine Anwohnerin und deutet auf die umliegenden Häuser. Seit sie 2012 hergezogen ist, wohnt sie neben der Lücke. Stünde hier ein Haus, das so groß wäre wie die Nachbargebäude, könnten mindestens acht neue Wohnungen vermietet oder verkauft werden.

Baulücke Grevener Straße
Eine Baulücke an der Grevener Straße. Hier soll demnächst ein neues Haus gebaut werden. Foto: Nikolaus Urban

Das ist kein Einzelfall. In Münster gibt es etliche solcher „Baulücken“. So nennen Expert:innen leere oder minimal bebaute Grundstücke, für die der städtische Bebauungsplan eigentlich Wohngebäude vorsieht. Diese Grundstücke sind schon voll erschlossen. Sie haben also einen Strom- und Wasseranschluss und eine Anbindung an die Straße. Dort Wohnungen zu bauen, wäre im Vergleich zu völlig neuen Baugebieten kein großer Aufwand.

Und neue Wohnungen braucht es dringend: In Münster werden in den nächsten 20 Jahren nicht nur immer mehr Menschen leben, sondern auch immer mehr Menschen, die allein in eine Wohnung ziehen und so mehr Platz benötigen. So sagt es jedenfalls der Wohnungsmarktbericht NRW 2020 voraus.

Die Baulücken könnten eine Chance sein: Studien zufolge schlummert in den unbebauten Flächen großes Potenzial, das häufig unterschätzt wird und mit jeder Lücke ungenutzt bleibt. Kann die Stadt sich das leisten? Und wie groß ist das Potenzial in Münster tatsächlich?

Münster hat kein Baulückenkataster – der Überblick fehlt

Um diese Fragen zu beantworten, wäre es nützlich zu wissen, wie viele Baulücken es in Münster überhaupt gibt. Aber die spielen für die Wohnraumplanung bisher keine große Rolle. Kommunen, in denen sie eine Rolle spielen, haben meistens ein sogenanntes Baulückenkataster: eine Art Katalog, der einen Überblick über die Anzahl, die Standorte und die Flächen der Baulücken bietet.

Im besten Fall steht auch darin, wem die Grundstücke gehören. Expert:innen halten ein solches Kataster für eine entscheidende Maßnahme, um das Potenzial von Baulücken zu erkennen und auszunutzen. Denn bevor eine Kommune die Lücken schließen (also bebauen) kann, muss sie ja zuerst wissen, wo die unbebauten Grundstücke sind und wem sie gehören.

Dortmund hat im vergangenen Jahr in einem Modellversuch ein solches Baulückenkataster für den Stadtteil Huckarde angelegt und Platz für 250 potenzielle Wohnungen gefunden. Im gesamten Stadtgebiet könnte es auf den Baulücken Platz für 5.000 Wohnungen geben, schätzt die Dortmunder Stadtverwaltung. Ganz ohne neue Flächen zu erschließen, Wasser- und Stromleitungen zu legen und Straßen zu bauen.

So ein Überblick fehlt bisher in Münster. Ein Baulückenkataster gibt es hier nicht. Weil viele Grundstücke Privatpersonen gehören, erfordert es ein wenig Spürsinn und Aufwand, alle Grundstücke in Münster zu prüfen. Mit einem Mix aus Geodaten und Vor-Ort-Begehungen müssten die Baulücken erst gefunden und dann ihre Eigentümer:innen ausfindig gemacht werden.

Ein Aufwand, den die Stadt aktuell nicht aufbringen kann, sagt Mattias Bartmann vom Stadtplanungsamt Münster. Dafür sei schlicht kein Personal da: „Wir sind der Auffassung, dass man die personellen Kapazitäten eher in die konkrete Bauprojektentwicklung stecken sollte.“ Zum Beispiel auf den Flächen der ehemaligen Kasernen Oxford und York, die zu neuen Wohnvierteln umgestaltet werden. Ein Prozess, der viele Jahre dauert, bei dem dafür aber zusammen rund 4.000 Wohneinheiten herauskommen sollen.

Die Preise steigen, Abwarten lohnt sich

Wer in Münster seine Baulücke bebauen oder verkaufen wolle, melde sich ohnehin von sich aus bei der Stadt, sagt Bartmann: „Die Verdienstmöglichkeiten sind für den einzelnen Eigentümer wegen der in den letzten Jahren stark gestiegenen Bodenwerte sehr hoch“.

In Zukunft werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit allerdings noch höher. Wer Zeit hat, wartet also möglicherweise lieber ab und spekuliert auf steigende Bodenpreise. Schon jetzt gehört das Bauland in Münster zu den teuersten in Nordrhein-Westfalen. Über 350 Euro kostete der Quadratmeter 2020 (hier nachzulesen auf Seite 72).

Tendenz steigend, sagt Stefan Siedentop, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Landes- und Stadtentwicklungsforschung an der TU Dortmund. „Das sind leistungslose Gewinne, die Eigentümer:innen tun nichts und werden immer reicher“. Siedentop schätzt, dass die Spekulation auf höhere Gewinne einer der Hauptgründe dafür ist, dass Baulücken nicht geschlossen werden. Das sei zwar legitim, doch er halte es trotzdem für problematisch, wenn Grundstücke bei Wohnungsnot zurückgehalten würden.

In manchen Fällen stecken aber auch andere Gründe hinter leeren Bebauungsflächen. Etwa Erbengemeinschaften, die sich nicht einigen können, was sie mit einem Grundstück anfangen wollen. Oder Eigentümer:innen, die eigentlich gerne bauen würden, aber nicht genügend Geld haben. Manchmal wüssten die Menschen auch einfach nicht, was alles möglich sei, erzählt Siedentop. Da helfe ein bisschen Druck oder schlicht eine Anfrage.

Wenn durch das Baulückenkataster klar ist, wem das Grundstück gehört, kann die Stadtverwaltung direkt auf die Menschen zugehen. Gemeinsam könnten dann die Möglichkeiten ausgelotet werden: Macht die Stadt ein Kaufangebot? Können die Eigentümer:innen selbst bauen? Welche Fördermöglichkeiten gibt es? In manchen Fällen sei dies schon die Lösung, so Siedentop.

Ein Kataster könnte helfen, die Eigentümer:innen zu erreichen

Das sieht man wohl auch beim Ratsbündnis so. Die Koalition bevorzuge „einvernehmliche Arrangements“ mit den Eigentümer:innen, schreibt Ludger Steinmann, planungspolitischer Sprecher der SPD-Ratsfraktion, auf RUMS-Anfrage. Deshalb sehe sie ein Baulückenkataster nicht als zwingend notwendig an.

Das leuchtet ein. Doch gerade ein Kataster würde diese Absprachen mit den Eigentümer:innen erleichtern. Die planungspolitische Sprecherin der Grünen-Ratsfraktion, Annika Bürger, schreibt, es solle zumindest geprüft werden, ob ein Kataster dabei helfen könnte, die Baulücken in Münster zu schließen. Das Bündnis wolle dazu zeitnah den Austausch mit der Stadtverwaltung verstärken.

Ginge es nach Stefan Siedentop, würde die Antwort „Ja“ lauten. Der Nutzen sei höher als die Kosten: Mit einer Viertel- oder einer halben Planstelle ließe sich ein Baulückenkataster in Münster erstellen und weiterführen, schätzt Siedentop: „Das wäre gut investiertes Geld.“

Aber auch ohne Baulückenkataster und Eigentümer:innenansprachen würden immer wieder Baulücken in Münster geschlossen, erklärt Mattias Bartmann vom Stadtplanungsamt. Etwa die Hälfte der rund 2.100 Wohnungen, die im Jahr 2020 gebaut wurden, seien durch Baulückenschließungen, Aufstockung (ein Leichtbau wird auf ein bestehendes Gebäude aufgesetzt) oder Nachverdichtung etwa auf bisher unbebauten Grundstücksteilen. Wie viele der 1.050 Wohnungen auf Baulücken gebaut wurden, kann Bartmann aber nicht genau sagen.

Wie ein Computerprogramm Baulücken finden soll

Wie viele Baulücken es in Münster noch gibt, könnte immerhin bald klar sein: Das Startup Syte aus Münster hat eine Software entwickelt, die das Potenzial für Nachverdichtung auf Grundstücken analysieren kann. Mithilfe von Laserdaten, die die Erdoberfläche abbilden, hat Syte eine Karte erstellt, die ähnlich wie Google Maps alle Grundstücke und ihre Bebauung abbildet. Ein Algorithmus soll beim Klick auf ein Grundstück das Bebauungspotenzial ermitteln können. Noch befindet sich die Software in der sogenannten Beta-Phase. Das bedeutet: Das Team von Syte muss den Algorithmus noch trainieren und die Ergebnisse nachprüfen, die er in seinen Trainingseinheiten ausgibt. Ab Mitte des Jahres soll aber alles komplett automatisch ablaufen.

Syte-Gründer
Die Syte-Gründer David Nellessen, Matthias Zühlke und Pascal Maas. Foto: Nikolaus Urban

Einen kleinen Vorgeschmack liefert die Software jetzt schon. Sie hat die Baulücken in Münster gezählt: Es sind 53. Diese Zahl wirkt auf den ersten Blick etwas ernüchternd. 5.000 Wohneinheiten wie in Dortmund lassen sich dort wohl nicht unterbringen. Aber die Zahl ist eben doch nur ein Vorgeschmack und könnte noch höher werden: Weil der Algorithmus sehr genaue Anweisungen braucht, habe er erst einmal nur eine Art von Baulücken gezählt, erklärt Syte-Geschäftsführer Matthias Zühlke. Und zwar solche nach dem klassischen „Haus-Lücke-Haus“-Prinzip. Die seien für den Algorithmus relativ leicht zu erkennen.
Unbebaute Grundstücke, die nur an einer Seite an ein anderes Haus angrenzen, wurden also noch nicht mitgezählt. Auch die Grundstücke nicht, die nur minimal bebaut sind, weil beispielsweise ein Schuppen darauf steht. Stefan Siedentop von der TU Dortmund schätzt, dass die Zahl aller Baulücken in Münster im vierstelligen Bereich liegt.

Syte-App
Die Syte-Software berechnet, ob eine Fläche Potenzial zum Bauen bietet. Für das Grundstück des Café Gasolin an der Aegidiistraße gibt es einen Treffer. Foto: Nikolaus Urban

Ob die Syte-Software demnächst bei der Stadtverwaltung zum Einsatz kommt, ist aber noch nicht klar. Erst einmal wollen die Fachleute beim Stadtplanungsamt besprechen, ob so etwas für Münster in Frage kommt. Und wenn ja, müsste die Stadt auch noch die Angebote anderer Anbieter:innen prüfen.

Die Nachbarschaft ist häufig gegen Nachverdichtung

Projekte zur Nachverdichtung stoßen allerdings nicht immer auf Gegenliebe in der Nachbarschaft. Tatsächlich gibt es einige Gründe, die gegen eine Nachverdichtung sprechen könnten: Je mehr Wohnungen an einer Straße liegen, desto mehr Autos brauchen dort im Regelfall einen Parkplatz. Das erschwert die Parkplatzsuche für alle Anwohner:innen. Und wenn eine Baulücke geschlossen wird, blockiert das neue Haus möglicherweise die Aussicht der Nachbar:innen oder nimmt den umliegenden Wohnungen Tageslicht.

Dazu kommt: Wenn auf einem bisher unbebauten Grundstück ein Haus gebaut wird, bedeutet Nachverdichtung häufig auch Flächenversiegelung. Regenwasser kann dann nicht mehr so gut versickern. Baulücken seien zwar selten „ökologisch hochwertige Flächen“, aber manchmal eben doch begrünt, so Siedentop.

An manchen Stellen kommt eine Nachverdichtung auch deshalb nicht in Frage, weil sie im Stadtbild zu sehr stören oder sogar etwas Wichtiges zerstören würde. Als Beispiel nennt Pascal Maas, Mitgründer von Syte, das Café Gasolin. Die alte Tankstelle an der Aegidiistraße wurde im Rahmen der Skulptur-Projekte 1997 erst zu Büros, dann zu einem Café umgebaut. Es schöpft zwar rein platztechnisch das Grundstückspotenzial nicht aus, gehört aber fest zum Stadtbild und soll deshalb nicht für ein Wohngebäude weichen müssen.

Cafe Gasolin
Das Gasolin bleibt. Es schöpft die Grundstücksfläche zwar nicht voll aus. Aber es gehört fest zum Stadtbild. Foto: Nikolaus Urban

Solche Gründe, die gegen eine Nachverdichtung sprechen, lassen sich wahrscheinlich für jede mögliche Fläche finden. Doch um der wachsenden Bevölkerung in Münster gerecht zu werden, wird die Stadt wohl nicht darum herumkommen, Baulücken zu nutzen. „In einer Stadt wie Münster würde ich immer empfehlen, sich über gezielte Strategien zur Schließung von Baulücken Gedanken zu machen“, sagt Stefan Siedentop. Ein Baulückenkataster wäre aus seiner Sicht ein guter erster Schritt.

Möglicherweise tut sich bald etwas: Die neue Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, Kommunen zu helfen, ein „Potenzialflächenregister“ einzuführen (hier auf Seite 88).


Transparenzhinweis:
Die Redaktion kennt Matthias Zühlke persönlich. Der Autorin war vor den Recherchen allerdings nur bekannt, dass er als Architekt in Münster arbeitet. Von seinem Startup hat sie im Zuge der Recherchen erfahren.

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Die Idee zu dieser Recherche stammt von einem RUMS-Leser. Er hatte uns die Frage geschickt: ‚Gibt es ein Konzept, wann und wie Baulücken in Münster bebaut werden?‘ Wir wussten es nicht, fanden die Frage aber sehr interessant. Und haben uns auf die Suche nach Antworten gemacht.

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