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„Unsere Vision für die Zukunft? Dass unser Verein überflüssig wird.“
Die Bildungschancen in Deutschland sind immer noch sehr ungerecht verteilt, während der Coronapandemie hat sich das Problem weiter verschärft. Die Initiative Rock Your Life will das ändern. Marie Wehning von der Gruppe in Münster erklärt im Interview, welches Konzept dahintersteckt und wie auch Schulen es umsetzen könnten.
Interview mit Marie Wehning
Frau Wehning, warum ist Bildungsgerechtigkeit ausgerechnet hier in Münster ein Thema?
Münster ist eine reiche Stadt, in der viele gut ausgebildete Menschen leben. Aber Bildungsungleichheit ist in ganz Deutschland ein Problem, auch hier. Der Bildungsweg der meisten Kinder und Jugendlichen wird durch die Bildungsgeschichte ihrer Eltern bestimmt. Und daraus können für einige von ihnen große Nachteile entstehen – in der Schule und auch danach, weil die jungen Menschen gar nicht wissen, was sie gut können und was sie im Leben überhaupt erreichen möchten.
Und Rock Your Life hilft ihnen dabei, das herauszufinden?
Ja, und natürlich auch dabei, ihre Ziele dann tatsächlich zu erreichen.
Wie funktioniert das?
Wir vermitteln Mentoring-Beziehungen zwischen Studierenden und Schüler:innen. Die Studierenden übernehmen dabei die Rolle einer großen Schwester oder eines großen Bruders für die Schüler:innen und helfen ihnen in der Schule, dem ersten Job, der Berufsausbildung oder auf dem weiteren Bildungsweg. Wir vom Verein unterstützen die Mentor:innen und Mentees auf verschiedenen Ebenen, zum Beispiel mit gemeinsamen Workshops.
Worum geht es da?
Diese Workshops bilden den Rahmen für das Mentoring. Im ersten Workshop legen die Teams ihre Ziele fest und auch die Regeln dafür, wie oft sie sich treffen und wie sie ihre Zusammenarbeit gestalten wollen. Die zweite Schulung heißt Job-Coach und soll den Schüler:innen dabei helfen, ihre Fähigkeiten und Stärken kennenzulernen. Der dritte Workshop bildet das Abschlusstreffen, bei dem die Teams das gemeinsam verbrachte Jahr reflektieren und überlegen, ob sie das Mentoring für ein weiteres Jahr fortsetzen wollen.
Sie begleiten die Teams also sehr eng. Trotzdem ist das Programm sicher eine sehr große Aufgabe für die Mentor:innen. Sie studieren ja noch, stehen also selbst noch nicht im Berufsleben.
Das stimmt, wir haben deshalb ein großes Netzwerk mit Kontakten zu Firmen in ganz Deutschland aufgebaut. Hauptsächlich arbeiten wir mit Betrieben und Einrichtungen vor Ort zusammen, zum Beispiel mit der Handwerkskammer Münster. Wir haben aber auch Kooperationen mit größeren Unternehmen wie etwa Starbucks, bei denen die Schüler:innen bei Besichtigungen oder Praktika verschiedene Berufe kennenlernen können.
Wo in Münster ist Rock Your Life aktiv?
Bisher kooperieren wir mit zwei Schulen: der Primus-Schule im Geistviertel und der Waldschule Kinderhaus. Das klappt sehr gut, die Schulleitungen, Lehrer:innen und Schulsozialarbeiter:innen unterstützen unsere Arbeit, und wir würden unser Programm auch gerne noch weiteren Schulen anbieten. Aber es bewerben sich schon jetzt mehr Schüler:innen um die Teilnahme, als wir in das Programm aufnehmen können. Wir bräuchten noch mehr Studierende, die sich als Mentor:innen engagieren wollen.
Konnten Sie während der Corona-Lockdowns mit Ihrem Programm weitermachen?
Anfangs hat uns die Pandemie schon ausgebremst. Wir haben 2020 den Beginn des Mentorings vom Frühjahr auf den Herbst verschoben. Und auch da mussten wir das übliche Kennenlerntreffen zwischen Studierenden und Schüler:innen anders gestalten als gewohnt. Wir haben alle Teilnehmenden gebeten, einen kleinen Steckbrief auszufüllen. In einer Zoom-Konferenz hat das Organisationsteam die verschiedenen Profile dann miteinander abgeglichen, um so möglichst Mentor:innen und Mentees zusammenzubringen, die etwas gemeinsam haben.
Und danach?
Manchmal war es für die Schüler:innen und Studierenden sehr schwierig, sich zu treffen, aber ich denke, alle haben das Beste daraus gemacht. Wir haben natürlich auch die Workshops in Videokonferenzen verlegt. Die Dynamik ist anders, aber im Großen und Ganzen hat es sehr gut funktioniert. Wir haben uns auch andere digitale Aktivitäten ausgedacht, zum Beispiel ein Quiz für die Mentor:innen. Mein Lieblingsabend war ein gemeinsamer Kochkurs per Zoom, das war sehr schön.
Wie sind Sie dazu gekommen, sich bei Rock Your Life zu engagieren?
Ich fand das Konzept toll und wollte mich für mehr Gerechtigkeit einsetzen. Als ich zur Gruppe in Münster gestoßen bin, dauerte es noch ein paar Monate bis zum Start des neuen Mentoring-Jahrgangs. Ich habe mich dann direkt dem Organisationsteam angeschlossen, bin später ins Mentoring eingestiegen und habe mich zwischenzeitlich auch im Vorstand engagiert.
Was hat Sie so begeistert?
Wir haben Einfluss auf das Leben der jungen Menschen. Wir können sie dabei unterstützen, ihren Träumen zu folgen. Das ist sehr erfüllend.
Können Sie an einem Beispiel erzählen, wie diese Unterstützung konkret aussieht?
Ich erinnere mich an eine Situation aus einer Schulung, an der ich als Mentorin teilgenommen habe. Alle Schüler:innen sollten aufschreiben, worin sie gut sind und was sie interessiert, aber auch, worin sie sich noch verbessern wollen. Danach haben wir uns gemeinsam die Profile der anderen angeschaut und ihnen Berufe vorgeschlagen, die dazu passen könnten. Ein Schüler war sehr glücklich über die Ideen der anderen, weil sein Traumjob unter den Vorschlägen war. Bis dahin hatte er sich nicht getraut, diesen Weg einzuschlagen, sondern wollte eine Ausbildung beginnen, die ihm sicherer erschien. Nach dem Workshop erzählte er, dass er nun versuchen wolle, seinen Wunschberuf zu ergreifen.
Ich glaube, vielen Schüler:innen fehlen Menschen an ihrer Seite, die ihnen Mut machen und sie darin bestärken, ihre Ziele zu verfolgen. Und an dieser Stelle setzen wir an.
Apropos Ziele. Was möchten Sie mit Rock Your Life noch erreichen?
Hier in Münster starten wir im Sommersemester mit dem nächsten Mentoringprogramm. Dafür möchten wir wie in den letzten Jahren wieder 25 Teams zwischen Studierenden und Schüler:innen vermitteln. Für unsere Organisation hoffe ich, dass sich weitere Lokalgruppen gründen, vielleicht sogar in weiteren Ländern, damit sich die Idee weiter verbreitet und wir noch mehr jungen Menschen helfen können. Und wir möchten unser Netzwerk erweitern und mit noch mehr Unternehmen zusammenarbeiten.
Was brauchen Sie, um das zu erreichen?
Die Universitäten könnten uns unterstützen, indem sie zum Beispiel Leistungspunkte an Mentor:innen vergeben. In anderen Ländern gibt es diese Möglichkeit schon, und das hilft sehr dabei, mehr ehrenamtliche Mentor:innen zu finden. Und wir freuen uns, wenn sich Unternehmen melden, die junge, motivierte Leute auf ihrem Weg unterstützen und ihnen vielleicht sogar eine berufliche Perspektive bieten möchten.
Sie haben viel vor.
Ja, es gibt noch viel zu tun. Aber das sind eigentlich nur unsere Zwischenziele. Im Idealfall sollte unser Verein überflüssig werden.
Wann werden Sie nicht mehr gebraucht?
Wenn das, was wir Kindern und Jugendlichen beibringen, in der Schule vermittelt wird. Aber ich denke, dass die Politik noch nicht so weit ist. Deshalb wird unsere Arbeit leider auch in den nächsten Jahren noch notwendig sein.
Und was müsste passieren, damit sie überflüssig wird?
Die Schulen müssten offener werden. Ich finde den Lehrplan im deutschen Schulsystem in mancher Hinsicht sehr engstirnig. Unser Dachverband hat gerade das neue Schulungsprogramm „Reach“ begonnen, in dem Lehrer:innen lernen können, das Fach „Potenzialentwicklung“ zu unterrichten. Damit möchten wir das Konzept unseres Mentoringprogramms in die Schulen bringen.
Die Initiative Rock Your Life
Rock Your Life wurde 2008 in Friedrichshafen von drei Studierenden gegründet, die Bildungsungerechtigkeit in Deutschland kritisierten und etwas dagegen tun wollten. Inzwischen gibt es mehr als fünfzig Lokalgruppen in Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz und Österreich, seit Kurzem gibt es auch eine Initiative in der spanischen Hauptstadt Madrid. Die Lokalgruppe in Münster wurde 2011 gegründet.
Kooperation mit der Hochschule der Medien
Dieser Text ist im Rahmen eines Ausbildungsprojektes in Kooperation mit der Hochschule der Medien in Stuttgart entstanden. Studierende eines internationalen Kurses zum konstruktiven und dialogorientierten Journalismus haben für RUMS Interviews geführt und geschrieben. Die Redaktion hat zusammen mit den Dozent:innen die Studierenden bei der Themenfindung, Interviewvorbereitung und Textbearbeitung unterstützt. Die Interviews veröffentlichen wir nun in unregelmäßigen Abständen hier auf unserer Website.
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