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„Du glaubst nicht, dass so etwas wirklich passieren kann.“
Am Morgen des 24. Februar 2022 überfiel Russland die Ukraine. Die Auswirkungen sind nun unmittelbar auch im Münsterland zu spüren. Nach mehreren Monaten Krieg beherrschen steigende Energiekosten und die Sanktionen gegen Russland die Nachrichten. Aber wie geht es den Menschen, die aus der Ukraine geflohen sind – und wie den Münsteraner:innen, die sie aufgenommen haben oder sie beruflich unterstützen? Wie gestaltet sich ihr Zusammenleben und mit welchen Herausforderungen haben beide Seiten zu kämpfen? Vier Student:innen der Hochschule Stuttgart haben für RUMS zwei ukrainische Familien und ihre neuen Mitbewohner:innen und Kolleg:innen in Münster besucht.
Uta und Thomas Dirksen aus Münster engagieren sich seit Jahren in Eritrea (Ostafrika) in der NGO „Archemed – Ärzte für Kinder in Not e. V“. Das Paar und seine Kinder haben zudem schon oft die Türen ihres Hauses für Besucher:innen und Student:innen aus verschiedenen Ländern geöffnet. So haben die Onkologin und der Psychiater zum Beispiel auch krebskranken Kindern aus dem Ausland eine Unterkunft und die nötige Pflege angeboten.
Nachdem die Dirksens von ihren Nachbarn, die ursprünglich aus der Ukraine kommen, gefragt wurden, ob sie Geflüchtete aus der Ukraine aufnehmen könnten, zögerten sie keine Sekunde. Sie boten der 42-jährigen Natalia* und ihren beiden Töchtern Viktoria und Slata ihre Hilfe an.
(*Die Familie möchte nicht, dass ihr Nachname veröffentlicht wird.)
„Als der Krieg begann, hatte ich nur eines im Kopf – meine Töchter. Ich wollte sie retten, damit sie niemand erniedrigen kann!“
Natalia
Die Mutter aus Luzk – eine Stadt in der nordwestlichen Ukraine – ist froh und dankbar, in Münster ein Zuhause auf Zeit gefunden zu haben. Ihre momentan größte Sorge gilt ihrem Mann, den sie zurücklassen musste, damit er ihre Heimat verteidigen kann.
„Ich habe geschlafen, als meine Mutter ins Zimmer gelaufen kam und sagte: ‚Vika, steh auf, wir haben Krieg!‘ Das war einer der schlimmsten Momente in meinem Leben.“
Viktoria
Vor Beginn des Krieges war Viktoria gerade dabei, ihren Schulabschluss zu machen. Durch die Flucht nach Deutschland lässt sich die 17-Jährige aber nicht aufhalten, sie beendet ihren Abschluss online.
„Es ist wie in einem Traum. Du glaubst nicht, dass so etwas wirklich passieren kann.“
Viktoria
Um die Schrecken des Krieges zu verarbeiten und ihrer Zukunft eine Perspektive zu geben, hat Viktoria ein Praktikum im Tattoo-Studio „Fifty Fifty“ in Münster-Roxel angefangen. Für ihren Traum, Tattoo-Meisterin zu werden, bringt die junge Ukrainerin gute Voraussetzungen mit. In ihrer Heimat hat sie parallel zur Schule eine Kunstschule besucht und zusätzliche Kurse in Grafik und Design belegt.
„Mein Leben ist also schon immer mit Malen und Zeichnen verbunden.“
Viktoria
Für ihren Traum verbringt die 17-Jährige viel Zeit im Tattoo-Studio und zeichnet ihre Werke auf Kunsthaut. Menschen darf sie erst tätowieren, wenn sie volljährig ist. Damit Viktoria sich noch besser integrieren und neue Freund:innen finden kann, möchte sie so schnell wie möglich die deutsche Sprache lernen.
Steffen*, der Inhaber des Tattoo-Studios „Fifty Fifty“, unterstützt Viktoria gerne.
(*Er möchte nicht, dass sein Nachname veröffentlicht wird.)
„Ich freue mich, dass ich Viktoria mit diesem Praktikum helfen kann. Sie ist eine außergewöhnlich begabte junge Frau. Sobald sie volljährig ist und anfängt, ihre Kunst auf echter Haut zu verewigen, gebe ich ihr keine zwei Monate, bis sie ihr eigenes Tattoo-Studio eröffnet.“
Steffen
„Ich habe so gehofft, dass die Angreifer uns nur erschrecken wollen.“
Slata
Seit ihrer Ankunft in Münster besucht Slata die 5. Klasse. Die eher schüchterne Elfjährige freut sich, dass die Schülerinnen und Schüler – trotz der Sprachbarriere – mit ihr spielen und malen. Manchmal gelingt die Verständigung mit ihren Mitschüler:innen nicht so gut, dann nehmen die Kinder den Google-Übersetzer zu Hilfe.
„In der Ukraine habe ich als Leistungssport Volleyball gespielt. Hier möchte ich nicht zum Sport zu gehen, weil ich Angst habe, dass man mich aufgrund der Sprachbarriere nicht mögen könnte.“
Slata
Damit Slata in Münster schneller Fuß fassen und einen vertrauteren Alltag erleben kann, hofft ihre Mutter Natalia, dass die jüngste Tochter ihre Angst überwindet und schon bald wieder das Volleyballspielen aufnimmt.
„Wir können nur erahnen, was das für sie bedeutet“
Uta Dirksen
Weil Uta Dirksen als Professorin an der Uniklinik in Essen arbeitet, ist hauptsächlich Thomas Dirksen der Ansprechpartner für die drei Frauen. Von Anfang an hat er der ukrainischen Familie mit Rat und Tat zur Seite gestanden und sie bei den Behördengängen unterstützt.
Geflüchtete aufzunehmen, ist keine einfache Sache. Dass plötzlich drei weitere Personen mit Familie Dirksen unter einem Dach leben, kann den Alltag schon mal auf den Kopf stellen.
„Natürlich läuft nicht alles glatt, da gibt es einiges an Gewohnheiten, kulturellen Unterschieden und sprachlichen Barrieren, die es zu überwinden gilt. Aber ich würde es immer wieder tun.“
Thomas Dirksen
„Ich bin sehr dankbar, dass Thomas und Uta uns aufgenommen haben. Nicht jeder kann so was, es ist echt schwer!“
Natalia
Natalia ist es sehr wichtig, die deutsche Sprache zu erlernen – und sie fügt hinzu:
„In Münster geht es uns sehr gut und mit etwas gutem Willen kann sich hier jeder integrieren.“
Natalia
„In solchen Situationen leiden die Kinder am meisten.“
Bei Dariia Opryshko sieht die Lage ein wenig anders aus. Die Anwältin und zweifache Mutter ist ebenfalls aus der Ukraine geflüchtet, lebt aber dank eines befreundeten deutschen Anwalts bereits gemeinsam mit ihren Kindern in einer eigenen Wohnung in Münster. Nach deutschem Recht darf die promovierte Medienrechtlerin ihrem Beruf hierzulande nicht nachgehen. Dennoch hat die 33-Jährige mit einem Job an der Universität Münster eine gute Möglichkeit gefunden, um selbst für ihren Unterhalt zu sorgen. Außerdem ist die sprachliche Hürde für die Juristin deutlich geringer, weil sie Englisch spricht und sich damit gut verständigen kann.
Ihren Mann aber musste auch Dariia Opryshko in der Ukraine zurücklassen. Seither bangt sie jeden einzelnen Tag um ihn. Und doch betont sie:
„In solchen Situationen leiden die Kinder am meisten.“
Dariia Opryshko
Umso mehr hat sie sich gefreut, als sie nach all den Strapazen endlich eine Wohnung in Münster beziehen konnte. Allerdings war sie anfangs überrascht, als bei einer frühen Besichtigung der Vermieter Bedenken bezüglich der Größe der Wohnung äußerte. Er hatte die Sorge geäußert, dass seine Wohnung eventuell zu klein für eine dreiköpfige Familie sein könnte. Für Dariia Opryshko hingegen erschien die Wohnung perfekt – ihr ging es darum, überhaupt ein Dach über dem Kopf und Privatsphäre für ihre Familie zu haben.
Trotz aller anfänglicher Schwierigkeiten hat Dariia Opryshko aber auch positive Erfahrungen gemacht:
„Allgemein in Deutschland und insbesondere in Münster habe ich tolle Menschen getroffen, die uns sehr geholfen haben. All diese Menschen sind wahre Engel für mich.“
Dariia Opryshko
Jan Kalbhenn hat Dariia Opryshko und ihre Familie von Anfang an begleitet. Das Thema Flucht war für den 37-jährigen Anwalt ebenso neu wie für viele andere Helfer:innen auch. Aber wie viele Jurist:innen hat auch Kalbhenn gute Kontakte zu anderen Kolleg:innen, die ihn beraten können. Die Zusammenarbeit mit den Behörden in Münster funktioniert gut.
„Bei all meinen Behördengängen waren die Mitarbeiter sehr nett und hilfsbereit.“
Jan Kalbhenn
Mit Blick auf Dariia Opryshko und das Arbeitsgenehmigungsverfahren in Deutschland verweist Jan Kalbhenn auf die Gesetzeslage, die dadurch beeinflusst wird, dass die Ukraine nicht Mitglied in der Europäischen Union ist.
„Dariia ist über einen befreundeten britischen Medienrechtler auf unser Institut aufmerksam gemacht worden. Als promovierte Medienrechtlerin und mit ihrem fachlichen Wissen zu Desinformation passt sie perfekt ins Team. Sie hat zum Beispiel bereits eine Website zum ukrainischen Medienrecht erstellt und einen Workshop zum Thema ‚Russische Desinformation in der Ukraine‘ organisiert. Im Vergleich zu anderen Geflüchteten hatte sie es durch diese Fügung wahrscheinlich einfacher, einen Job in Deutschland zu finden. Denn in der Europäischen Union wird nicht jeder im Ausland erlernte Beruf automatisch anerkannt. Teilweise bedarf es einer behördlichen Entscheidung. Ein EU-Beitritt der Ukraine würde das wahrscheinlich ändern.“
Jan Kalbhenn
Für Dariia Opryshko gibt es nun noch eine neue, positive Perspektive: Sie hat gerade die Zusage für das renommierte Philip-Schwartz Stipendium für geflohene Wissenschaftler:innen bekommen und kann damit 18 Monate lang zu den Themen Medienrecht und Desinformation forschen.
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