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Dom verwackelt

Das Bistum und der Satanismus

Das Bistum Münster hat trotz Kritik jahrelang eine satanistische Verschwörungslegende verbreitet. Am Ende schloss eine Beratungsstelle, aber der Mythos bleibt. Mit der Aufarbeitung tut sich das Bistum weiter schwer.

von Sebastian Fobbe • Lektorat: Antonia Strotmann und Maria Schubarth • Titelfoto: Nikolaus Urban

Im Frühjahr veröffentlichte das Nachrichtenmagazin „der Spiegel“ eine Geschichte, die in Münster spielt und einige Konsequenzen nach sich zog.

Es geht um eine junge Frau, die sich an eine psychotherapeutische Praxis in Münster gewandt hat, um eine schwierige Trennung zu verarbeiten. Doch ihr Anliegen war laut „Spiegel“ in der Therapie schnell kein Thema mehr. Stattdessen stand bald etwas anderes im Mittelpunkt: Satanismus.

Die Therapeutin soll ihrer Patientin eingeredet haben, sie sei in die Fänge satanistischer Zirkel geraten. Obwohl sich die Frau nicht an rituelle Gewalt durch Satanskulte erinnern konnte, soll die Therapeutin von ihr verlangt haben, „wieder und wieder Bilder des vermeintlichen Missbrauchs in sich aufsteigen zu lassen“, so steht es im „Spiegel“.

Mehr noch: Durch den Missbrauch soll es den Satanisten gelungen sein, die Identität der Patientin in viele „Innenpersonen“ aufzuspalten.

Diese Annahme soll die Therapeutin dazu gebracht haben, vor dem Familiengericht zu erwirken, dass ihre Patientin das Sorgerecht für ihr ungeborenes Kind verliert, schreibt das Magazin. Sie habe laut „Spiegel“ argumentiert, das Kind sei bei einer Massenvergewaltigung von Satanisten gezeugt worden. Und wie eine bestimmte „Innenperson“ auf das Baby reagieren könnte, das sei ein „unkalkulierbares Restrisiko“.

Auf den ersten Blick klingt die Geschichte wie ein Einzelfall, auf den zweiten ist sie ein Ausläufer einer Erzählung, die ihren Ursprung vor über 40 Jahren in den USA hat. Dort verbreiteten sich in den Achtziger Jahren zum ersten Mal Gerüchte über satanistische Gruppen, die Kinder entführten und im Verborgenen missbrauchten. Bekannt wurden diese Geschichten als „Satanic Panic“. In den Jahren darauf machten sie weltweit Karriere, in vielen Köpfen leben sie bis heute fort.

Auch das Bistum Münster spielt in der Geschichte eine Rolle. „Der Spiegel“ wirft dem Bistum vor, es habe „trotz massiver Kritik aus anderen Bistümern und aus der evangelischen Kirche – Legenden um den rituellen Missbrauch“ befeuert.

Für mich war das der Ausgangspunkt meiner Recherche. Ich wollte wissen, ob das so stimmte, und falls ja, wie es dazu gekommen war. Wo lagen vielleicht die Missverständnisse? Und überhaupt, wie war das alles zu erklären?

Ende März, kurz nachdem die „Spiegel“-Geschichte erschienen war, fing ich an zu recherchieren. In den Monaten darauf sprach ich mit Fachleuten, einer Betroffenen, mit der Kirche, der Polizei, mit Menschen von Beratungsstellen und aus der Psychotherapie.

Im September veröffentlichte der Satiriker Jan Böhmermann in seinem „ZDF Magazin Royale“ eine Sendung zum Thema, die in einen Rechtsstreit mündete. Das bestätigte den Eindruck, den ich bis hierher gewonnen hatte: Wer sich kritisch mit diesem Thema beschäftigt, betritt gefährliches Gebiet.

Ein erster Schritt: Die Beratung endet

Am 13. März, drei Tage, nachdem „der Spiegel“ die Recherche veröffentlicht hatte, löste das Bistum eine eigene Beratungsstelle auf, die auf rituelle Gewalt spezialisiert war. Das Bistum hatte die Stelle erst 2019 gegründet. Sie kümmerte sich nicht nur um Missbrauchsbetroffene, sondern gab auch Infomaterial heraus und organisierte Fachtagungen über rituelle Gewalt. Eine ehemalige Mitarbeiterin der Beratungsstelle heißt Jutta Stegemann. Sie ist die Frau aus der „Spiegel“-Geschichte – die Therapeutin, die der jungen Frau den Satanismus in ihrer Praxis eingeredet haben soll.

Antonius Hamers, der bischöfliche Beauftragte für die Ehe-, Familien- und Lebensberatung im Bistum, sagte mir in einem Gespräch, mit der Berichterstattung habe die Schließung nichts zu tun gehabt. „Der Spiegel“ habe bloß den Zeitplan durcheinandergebracht, die Entscheidung habe schon länger festgestanden.

Hamers betonte, er habe sich nach seinem Amtsantritt im Dezember 2022 ein Bild von der Debatte um rituelle Gewalt machen wollen. Dazu habe er mit Expert:innen der Polizei, aus der Politik und Weltanschauungsarbeit gesprochen.

Sein Fazit ist in dieser Pressemitteilung des Bistums nachzulesen: Sicher sei es, dass es organisierte sexuelle Gewalt gebe, aber es seien „weder Theorien über rituelle Netzwerke belegt noch konnte ritueller Missbrauch durch angeblich im Verborgenen organisierte Täterorganisationen nachgewiesen werden“. Vor diesem Hintergrund sei es „nicht mehr länger vertretbar“, die Beratung am Bistum fortzuführen.

Ist das Bistum Münster vielleicht über Jahre hinweg auf eine Verschwörungslegende hereingefallen?

Antonius Hamers sagte mir, das Bistum leugne rituelle Gewalt nicht, es wolle sich bloß in der kontroversen Debatte nicht mehr positionieren. Es ist also etwas komplizierter.

Rituelle Gewalt: Was ist das eigentlich?

Kompliziert macht die Debatte unter anderem die Bezeichnung: rituelle Gewalt. Was ist das eigentlich? Schon diese Frage lässt sich kaum beantworten, denn der Begriff ist nicht eindeutig definiert. Das sogenannte „Infoportal rituelle Gewalt“ listet allein zwanzig mögliche Erklärungen auf. Eine davon stammt von der unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs bei der Bundesregierung.

Auf ihrer Website definiert die Beauftragte rituellen Missbrauch als Form des organisierten sexuellen Verbrechens. Zentraler Unterschied hierbei: „Dient eine Ideologie als Begründung oder Rechtfertigung von Gewalt, bezeichnet man dies als rituelle Gewalt.“

Diese Ideologie könne religiös, faschistisch oder rassistisch sein. Je nachdem gehörten die Täter Sekten, Kulten oder politischen Gruppierungen an. Satanismus thematisiert die Beauftragte der Bundesregierung zwar nicht explizit, andere Definitionen, die sich auf dem „Infoportal rituelle Gewalt“ finden, allerdings schon.

Was auch zu der Erzählung um rituelle Gewalt gehört: Die Täter seien in der Lage, die Persönlichkeiten der Opfer mit extremen Gewaltritualen gezielt aufzuspalten. Nachzulesen ist das in einer Broschüre, die das Bundesfamilienministerium finanziert hat. Darin heißt es, die verschiedenen Persönlichkeitsanteile seien „für bestimmte Zwecke trainiert“ und „durch die Täter_innen jederzeit steuerbar“.

Auch die Patientin, deren Schicksal „der Spiegel“ aufgeschrieben hat, war zeitweise davon überzeugt. Sie glaubte, dass mindestens acht „Innenpersonen“ in ihrem Körper lebten, die abwechselnd die Kontrolle übernahmen.

Dissoziative Identitätsstörung: Ein komplexes Phänomen

Bekannt ist dieses Krankheitsbild als „dissoziative Identitätsstörung“. Dabei handelt es sich um eine anerkannte Traumafolgestörung, die früher unter dem Namen „multiple Persönlichkeitsstörung“ bekannt war (nicht zu verwechseln mit einer Schizophrenie).

Die dissoziative Identitätsstörung entsteht meist, wenn die Betroffenen in frühester Kindheit massive Gewalt erleben. Um die Schmerzen zu verarbeiten, können sich Wahrnehmung und Bewusstsein vom Körper lösen – ein Überlebensmechanismus. Die Psychologie bezeichnet diesen Zustand als Dissoziation.

Unter den dissoziativen Störungen gilt die dissoziative Identitätsstörung als Extremform. Erst seit 2022 steht die Diagnose im international gültigen Klassifizierungssystem für Krankheiten (ICD-11). Das macht sie einerseits zu einer anerkannten Diagnose. Andererseits kann das täuschen, denn ganz eindeutig bestimmen lassen sich Störung und Ursache nicht.

So können sich falsche Deutungen ergeben. Eine verbreitete Annahme ist, dass es einen eindeutigen Zusammenhang zwischen ritueller Gewalt und einer dissoziativen Identitätsstörung gibt (zum Beispiel hier). Gäbe es diese direkte Verbindung, wäre die Störung immer ein Hinweis darauf, dass ritueller Missbrauch stattgefunden haben muss. So einen engen Zusammenhang gibt es sonst bei keiner anderen psychischen Erkrankung.

Es kann sein, dass die Frau aus dem „Spiegel“-Bericht durch diesen Glauben in die Satanismusspirale geriet. Tatsächlich kann die Störung verschiedene Ursachen haben, permanente Gewalt wäre eine mögliche. Neben einer Traumatisierung gibt es noch eine andere Erklärung für die Entstehung einer solchen Störung. Diese andere Erklärung wird später noch wichtig werden.

Laut Antje Krüger-Gottschalk ist das Krankheitsbild im Klassifizierungssystem sehr weit gefasst. Die psychologische Psychotherapeutin und assoziierte Mitarbeiterin an der Uni Münster behandelt in ihrer Praxis in Gievenbeck Patient:innen, die Traumata erlebt haben. Darunter auch Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstörung. Um die Symptome genauer zu definieren, brauche es mehr Forschung, sagt sie.

Weil die dissoziative Identitätsstörung aber äußerst selten vorkommt, ist das sehr schwierig. Je nach Studie variiert die Häufigkeit von wenigen Einzelfällen über 1 bis 2 Prozent in der Allgemeinbevölkerung bis hin zu 1 bis 9,6 Prozent in der stationären Behandlung. Für klinische Studien, die die Symptome der Störung beschreiben, sind die Stichproben somit oft zu klein. Das ist der Stand der Wissenschaft.

Die umstrittene Expertin

Einige Psychotherapeut:innen gehen in ihren Beschreibungen weit über das hinaus, was wissenschaftliche Studien belegen. Einiges davon steht in dem Buch „Multiple Persönlichkeiten“, das die Therapeutin Michaela Huber verfasst hat. Huber gilt bei manchen „als treibende Kraft“ hinter der Erzählung um rituelle Gewalt in der Psychotherapie. Für ihr Engagement wurde ihr 2008 das Bundesverdienstkreuz verliehen. Nach eigener Auskunft hat Michaela Huber „in Deutschland die moderne Traumatherapie etabliert“ und ist als „Ausbilderin“ tätig. Auf der Plattform Linkedin gibt auch Jutta Stegemann an, mindestens eine Weiterbildung bei Michaela Huber besucht zu haben. Nach ihrem Studium hat Huber laut ihrem Lebenslauf allerdings nie an einer Hochschule geforscht.

Ihr Buch „Multiple Persönlichkeiten“ war 1995 die erste deutschsprachige Veröffentlichung über rituelle Gewalt. Seitdem wird Huber in unterschiedlichen Medien als Expertin für Sekten und dissoziative Störungen präsentiert. Etwa in einer mehrteiligen Dokumentation von „Zeit online“ oder in diesem Video über Satanismus, produziert vom Bistum Münster.

Huber schildert in ihrem Buch „Multiple Persönlichkeiten“ besonders drastische Formen der rituellen Gewalt. Massenvergewaltigungen, Missbrauch durch Hunde, Folter mit Elektroschocks. Das hätten ihr Patient:innen berichtet, schreibt sie. Huber hält es für möglich, dass Täter mit Gewaltritualen eine dissoziative Identitätsstörung bei den Opfern erzeugen können und dass bestimmte „Innenpersonen“ für weiteren Missbrauch programmiert werden können. Andere „Innenpersonen“ seien laut Michaela Huber darauf ausgerichtet, Psychotherapien zu torpedieren oder sich selbst oder andere zu töten. Diese „programmierten Innenpersonen“ könnten Täter selbst durch subtile Reize von außen aktivieren.

Der Wechsel zwischen den „Innenpersonen“ könne sich auch körperlich zeigen, schreibt Huber. Immer wieder werde „Unglaubliches“ von multiplen Persönlichkeiten berichtet, heißt es auf Seite 106 der neuesten Auflage ihres Buches. Je nachdem, welche „Innenperson“ aktiv sei, hätten die Betroffenen verschiedene Sehstärken. Auch Allergien und Krankheiten wie Diabetes, Mandelentzündungen oder Krebs könnten mit jedem Wechsel auftauchen oder wieder verschwinden. Diese Liste ließe sich laut Huber beliebig fortsetzen. Diese Phänomene seien „eine Fundgrube für Psychosomatiker, die schon immer der Überzeugung waren, die Psyche habe einen erheblich größeren Einfluss auf unseren Körper, als wir je zu träumen wagten“.

Der Berufsverband deutscher Psycholog:innen kritisiert diese Darstellungen sehr deutlich. Die rechtspsychologische Sektion des Verbands schreibt in einer Stellungnahme, es sei unbedingt notwendig, dass Opfer von sexualisierter Gewalt bestmögliche Hilfe erfahren. Nur müsse das auf wissenschaftlichen Grundlagen geschehen.

Laut der Stellungnahme gebe es „keine belastbaren Anhaltspunkte“, dass rituelle Gewalt „ein häufiges Phänomen sei“, „Innenpersonen“ für bestimmte Zwecke programmiert und dissoziative Identitätsstörungen absichtlich erzeugt werden können. Die Kritik richtet sich aber nicht nur gegen einzelne Therapeut:innen. Den Eindruck erweckten unter anderem auch die Veröffentlichungen der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, heißt es. Ähnlich kritisch positioniert sich auch die deutsche Gesellschaft für Psychologie in einem Schreiben ans Bundesfamilienministerium.

Beweise für Straftaten fehlen

Bis hierhin haben wir also erfahren: Es gibt dissoziative Identitätsstörungen, und es gibt auch rituelle Gewalt. Aber beide Begriffe lassen viel Raum für Interpretationen, und dort fühlen sich Verschwörungserzählungen bekanntlich wohl. Ihr wahrer Anteil macht es kaum möglich, alles abzustreiten. Theoretisch ist es denkbar, dass es organisierte Gruppen gibt, auch größere, die in rituellen Akten Menschen missbrauchen. Es gibt nur einen Haken: Konkrete Hinweise fehlen.

Für Kritiker:innen wie Andreas Hahn, Weltanschauungsbeauftragter der evangelischen Kirche von Westfalen in Bielefeld, ist das einer der entscheidenden Punkte in der Debatte. Er hat sich in verschiedenen Fachbeiträgen kritisch mit ritueller Gewalt beschäftigt.

Hahn schreibt, es stehe außer Frage, dass es religiös motivierte sexuelle Gewalt gebe. Aber: „Die Existenz eines riesigen satanistischen Netzwerks, das unsere Gesellschaft an den entscheidenden Stellen unterwandert, ist nicht zu belegen.“ Für Andreas Hahn ist diese Behauptung ein Kennzeichen für eine Verschwörungserzählung.

Um nach Belegen für rituelle Täternetzwerke zu suchen, habe ich die Strafverfolgungsbehörden angefragt. Das Fazit: Das Bundeskriminalamt, das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen und die Polizei Münster können mir keine Straftaten nennen, die auf rituelle oder satanistische Täterkreise hindeuten.

Gerade die Antwort der Polizei Münster überrascht mich, denn 2010 ist ein englischsprachiger Artikel bei der „Deutsche Welle“ erschienen, der das Schicksal einer Frau aus Münster schildert. Sie sei demnach in einen Satanskult hineingeboren, in dem sie über Jahre hinweg rituellen Missbrauch erlebt haben soll. Darauf angesprochen, antwortet die Polizei Münster, sie habe kein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Der Fall sei nicht einmal bekannt.

Immerhin macht mich die Polizei Münster auf ein Grundsatzproblem aufmerksam: Da rituelle Gewalt nicht eindeutig definiert ist, kommt der Begriff im Strafrecht und in der polizeilichen Kriminalstatistik nicht vor. Es ist daher nahezu aussichtslos, die Polizeidatenbanken nach Straftaten im rituellen Kontext abzusuchen.

Sieben Betroffene in einem Jahr

Astrid-Maria Kreyerhoff von der Beratungsstelle Zartbitter sieht ein anderes Problem. Sie sagt: Leugne man die Möglichkeit, dass es in Deutschland so etwas wie rituelle Gewalt gibt, schließe man die Augen vor einem gesellschaftlichen Missstand. Das ist richtig. Andererseits: Wenn professionelle Beratungsstellen das alles für möglich halten, ist es dann vielleicht doch wahr?

Der Verein Zartbitter unterstützt in Münster Betroffene von sexualisierter Gewalt. Im vergangenen Jahr hätten sich sieben Menschen gemeldet, die von ritueller Gewalt berichtet haben, sagt Kreyerhoff. Zur Einordnung: Jedes Jahr suchen insgesamt rund 300 Menschen die Beratung von Zartbitter auf.

Was genau sich hinter dem Begriff verbirgt, ist wieder nicht ganz eindeutig. Geht es tatsächlich um Gruppenvergewaltigungen von Satanisten? Oder war es sexueller Missbrauch im religiösen Kontext, bei dem zum Beispiel ein Kreuz eine Rolle spielte?

Ob die Aussagen der Betroffenen vollständig stimmen, sei für Kreyerhoff erst einmal unerheblich. Es sei nicht die Aufgabe einer Beratungsstelle, den Wahrheitsgehalt zu prüfen. Bei allen Formen der sexualisierten Gewalt sei es schwer, sie zu beweisen.

Astrid-Maria Kreyerhoff sagt: „Wenn Menschen zu mir in die Beratung kommen, frage ich zuerst, was ich für sie tun kann.“ Und sie sagt, sie nehme die Schilderungen der Betroffenen ernst. Deren Beschreibungen seien oft sehr detailreich. Und in den meisten Fällen seien die Betroffenen gut diagnostiziert. Psychische Erkrankungen wie eine Psychose oder Schizophrenie könnten die Erinnerungen deshalb nicht verfälschen.

Mit der Beratungsstelle für rituelle Gewalt am Bistum habe Zartbitter gute Erfahrungen gesammelt. Die Betroffenen, die man dorthin verwies, hätten sich meist gut aufgehoben gefühlt – allein schon, weil man ihnen dort glaubte.

Die Therapeutin schweigt

Das scheint jedoch nicht für alle Hilfesuchenden zu gelten. Zwischen 2019 und 2022 haben rund eintausend Beratungskontakte bei der Beratungsstelle für rituelle Gewalt stattgefunden. Pro Jahr hat die Stelle ungefähr dreißig Menschen beraten. Und wie mir die Pressestelle des Bistums schreibt, haben sich immer wieder Betroffene über die Beratung beschwert. Wie viele es waren und worum es bei den Beschwerden ging, sagt man mir nicht.

Was ich aber erfahre: Die Betroffenen hat das Bistum an die Psychotherapeutenkammer verwiesen. Das Bistum hat die Beschwerden jedoch nicht selbst weitergeleitet. Und die Uniklinik Hamburg-Eppendorf hat die Beratung des Bistums in den Jahren 2020 und 2021 evaluiert.

Auf den Begriff Beratung legt das Bistum in seinen Antworten großen Wert: Die Stelle habe keine Psychotherapien angeboten, sondern lediglich Betroffene von ritueller Gewalt beraten. Dabei dürfen keine Diagnosen gestellt oder psychische Störungen mit Krankheitswert behandelt werden. Vielmehr gehe es darum, die Klient:innen bei der Lösung bestimmter Probleme zu unterstützen. In der Realität ist diese Abgrenzung zur Psychotherapie aber oft nicht eindeutig.

Für meine Recherche habe ich mehrmals mit einer Frau gesprochen, die das Angebot der Beratungsstelle am Bistum genutzt hat und dazu mit Jutta Stegemann in Kontakt stand. Was sie mir am Telefon berichtet, deckt sich weitgehend mit den Vorwürfen im „Spiegel“-Bericht: Es geht um fehlende professionelle Distanz, emotionale Abhängigkeit und suggestive Befragungsmethoden. Auch andere Quellen schildern mir ähnliche Erfahrungen von Klient:innen der Beratungsstelle.

Um über diese Vorwürfe zu sprechen, habe ich Jutta Stegemann angefragt. In ihrer Antwort verweist sie auf die Pressestelle des Bistums, die für Medienanfragen zuständig sei, denn noch immer sei sie beim Bistum angestellt. Auf die Frage, ob Stegemann noch fürs Bistum tätig ist, hatte die Pressestelle bislang geantwortet, sie könne und dürfe sich zu Personalangelegenheiten nicht äußern. Eine zweite Anfrage über die Pressestelle lehnt Stegemann ab. Auch die Psychotherapeutenkammer NRW möchte sich nicht zu dem Fall äußern.

Das Phänomen der falschen Erinnerungen

Wie die Beschwerden im Detail aussehen, wissen wir also nicht. Fragt man bei Fachleuten wie Bianca Liebrand von der Sekteninfo NRW in Essen nach, erhält man Auskunft darüber, welche Behandlungsmethoden in der Kritik stehen. Liebrand hatte allein im vergangenen Jahr Kontakt zu 49 Menschen, die von Satanismus berichtet haben. Darunter auch ehemalige Klient:innen der Beratungsstelle in Münster.

Die Betroffenen hätten Liebrand beispielsweise erzählt, sie sollten sich in den Therapien vorstellen, sexuell missbraucht oder in eine Kiste gesperrt zu werden. Einige Therapeut:innen würden den Ekel vor Milch als Zeichen deuten, dass die Patient:innen in ihrer Kindheit Sperma trinken mussten. Auch sei den Betroffenen geraten worden, an bestimmten Feiertagen im satanistischen Kalender nicht das Haus zu verlassen. Sonst bestehe die Gefahr, von den Tätern abtransportiert zu werden.

Solche Aussagen verängstigten und verunsicherten die Betroffenen, kritisiert Bianca Liebrand. Denn was auch noch zur Erzählung gehört: Im Nachhinein könnten sich Betroffene an den angeblichen Missbrauch nicht mehr erinnern. Das schwäche das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung und destabilisiere sie, sagt sie.

All diese Deutungen, suggestive Befragungen und aufgebaute Erwartungen können dazu führen, dass sich Patient:innen Missbrauch einbilden, der nie stattgefunden hat. Diese Scheinerinnerungen können instabile Patient:innen schließlich annehmen. „Falsche Erinnerungen fühlen sich allerdings an wie echte Erinnerungen“, sagt Bianca Liebrand. Bekannt ist das unter dem Begriff „False Memory Syndrome“.

Auf dieses Phänomen weist auch die Psychotherapeutin Antje Krüger-Gottschalk hin. Viele traumatisierte Patient:innen hätten fragmentierte Erinnerungen, sagt sie. Der Grund: Bei der Traumatisierung ist das Angstzentrum im Gehirn aktiver als der Gedächtnisspeicher. Diese Erinnerungsfetzen sind zudem meist mit starken Emotionen verbunden, die die Betroffenen bei Flashbacks als belastend empfinden. Laut Krüger-Gottschalk geht es in der Therapie darum, diesen Leidensdruck zu lindern.

Äußern Patient:innen jedoch, dass Erinnerungen an Gewalt zum ersten Mal in einer Therapie aufkommen, wird Antje Krüger-Gottschalk zurückhaltend. Dann stelle sich die Frage, wie viel Suggestion hinter den Erinnerungen steckt, sagt sie.

Das ist ein Problem: Wenn Therapeut:innen nach vermeintlich verdrängten Erinnerungen graben, nutzen sie dazu in der Regel suggestive Methoden. Diese Fehltherapie kann schlimmstenfalls dazu führen, dass die Hilfesuchenden eine dissoziative Identitätsstörung entwickeln.

Das ist die zweite mögliche Ursache für eine dissoziative Identitätsstörung, die ich oben schon angerissen habe. Auch die Suggestion in der Therapie kann so eine Störung verursachen.

Auf Anfragen antwortet der Anwalt

Die Autorin Michaela Huber bezweifelt, dass Menschen sich nur aufgrund von falschen Erinnerungen an rituelle Gewalttaten erinnern. Sie schreibt in ihrem Buch: „Diese Kulte, Kinderschänder und organisiertes Verbrechen haben eine mächtige nationale und internationale Lobby, die eine ‚Gegenaufklärung‘ betreibt (…) und Initiativen zur Bekämpfung ihrer verbrecherischen Aktivitäten blockiert und verhindert.“ Hinter dieser Lobby steckten laut Michaela Huber Organisationen, die beispielsweise das „False Memory Syndrome“ als mögliche Suggestion in Therapien in Betracht ziehen.

In meiner Recherche habe ich Michaela Huber Fragen geschickt, auch um ihr die Gelegenheit zu geben, ihre Sichtweise darzulegen. Als Antwort kam ein Schreiben aus der Kanzlei des Medienanwalts Ralf Höcker, über dessen Versuche, Einfluss auf Medienberichte zu nehmen, vor vier Jahren das Medienmagazin Übermedien berichtete. Der Artikel trägt die Überschrift: „Wie Ralf Höcker versucht, Journalisten einzuschüchtern“. In dem Schreiben an mich stehen vier knappe Antworten, die ich zitieren darf, und eine Reihe von Hintergrundinformationen, die ich nicht zitieren darf. Die Kanzlei weist mich in dem Schreiben „vorsorglich“ darauf hin, dass sie bereits beauftragt wurde, gegen eine etwaige rechtsverletzende Berichterstattung vorzugehen.

Eines der freigegebenen Zitate von Michaela Huber lautet: „In der vom Bistum Münster im Jahr 2022 vorgelegten Missbrauchsstudie sind sechs Fälle rituellen Missbrauchs beispielhaft dokumentiert.“ Tatsächlich findet sich in der fast 600 Seiten starken Studie ein Kapitel über „rituelle Elemente“ im Missbrauch (RUMS-Brief). Laut Studie seien dem Bistum Münster aber nicht sechs, sondern drei Fälle gemeldet worden, bei denen der Verdacht auf rituelle Gewalt vorliegt.

Einen Hinweis in der Studie erwähnt Michaela Huber nicht. Dort heißt es: „Bei allen drei Betroffenen haben sich die Erinnerungen allerdings erst Jahrzehnte nach den mutmaßlichen Taten wieder eingestellt.“ Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Erinnerungen erst in einer Therapie entstanden sind.

Schaut man sich die Fälle genau an, erscheint das als nicht unwahrscheinlich: Zwei Personen konnten sich erst in einer Therapie an den rituellen Missbrauch erinnern. Eine der beiden Betroffenen gibt an, sie habe erst in den Sitzungen verstanden, „dass sie ‚von frühester Kindheit an in einen satanischen Kult eingebunden‘ gewesen sei“. Im dritten Fall konnte sich die betreffende Person erst wieder „im zeitlichen Umkreis eines weiteren traumatischen Erlebnisses“ an rituelle Gewalttaten erinnern.

Zudem seien laut Missbrauchsstudie Pfarrer und Laien im Dienst des Bistums bezichtigt worden, Satanskulten anzugehören, die rituelle Gewalt verüben. Diese Anschuldigungen hätten zum Teil Therapeut:innen geäußert, die für die Studie befragt wurden. In keinem Fall habe sich der Verdacht im Zuge der Recherchen erhärtet.

Dass die Betroffenen Missbrauch und schwerste Gewalt erlebt haben, daran hegt die Studie keinerlei Zweifel. Die Autor:innen weisen aber darauf hin, man könne nicht prüfen, ob die Aussagen der Betroffenen der Wahrheit entsprechen: „Durch suggestive Befragungstechniken“ von Therapeut:innen, Kirchenangehörigen und anderem forensisch ungeschulten Personal bestehe die Gefahr, dass die Erinnerungen an den rituellen Missbrauch verfälscht sein könnte. Ob und in welchem Ausmaß rituelle Gewalt im Bistum Münster eine Rolle gespielt hat, lasse sich nach Einschätzung der Studienautor:innen nicht sagen.

Medien dürfen nicht zur Tagung

Kurz nachdem das Bistum die Beratungsstelle für rituelle Gewalt geschlossen hat, war Michaela Huber zu Gast in Münster. Sie hatte im Mai eine Veranstaltung im Franz-Hitze-Haus, einem Bildungszentrum des Bistums, besucht. Dort fand die Jahrestagung der „Deutschen Gesellschaft für Trauma und Dissoziation“ statt. An der Tagung sollte auch Jutta Stegemann teilnehmen, die ehemalige Mitarbeiterin der Beratungsstelle für rituelle Gewalt. Ein Flyer kündigte im Vorfeld einen Vortrag an, den Stegemann halten sollte.

Ich wollte mir selbst ein Bild machen und habe die Trauma-Gesellschaft gefragt, ob ich an der Tagung teilnehmen kann. Der Vorsitzende Harald Schickedanz antwortet mir per E-Mail, die Gesellschaft freue sich normalerweise über „seriös-mediales Interesse“. Die „Spiegel“-Veröffentlichung habe aber „eine erhebliche Vertrauensstörung zur Presse“ verursacht. In diesem Jahr dürften daher keine Journalist:innen zur Tagung kommen. Meine Anfrage: abgelehnt. Die Gesellschaft werde sich einen Pressekodex geben und künftig journalistische Anfragen prüfen.

Nach der „Spiegel“-Recherche habe das Bistum die Kooperation mit der Trauma-Gesellschaft gekündigt. Laut Schickedanz habe schon 2020 festgestanden, dass die Jahrestagung im Franz-Hitze-Haus stattfinden sollte. Diese sei coronabedingt mehrmals verschoben worden. „Allerdings hat der Leiter des Hitze-Hauses eine gewisse Unabhängigkeit und nach einem ausführlichen Telefonat mit mir konnte er doch einen Unterschied zwischen Boulevardjournalismus und wissenschaftlicher Fachgesellschaft erkennen“, schreibt Harald Schickedanz.

Jutta Stegemann habe ihren Vortrag abgesagt, teilt Harald Schickedanz mit. Sie habe aufgrund der „Rufmordkampagne“ des „Spiegels“ „ausreichend belastet in der Öffentlichkeit“ in Erscheinung treten müssen.

Auch hier wird deutlich, auf welche Weise die Auseinandersetzung geführt wird. Statt auf etwaige Fehler aufmerksam zu machen, qualifiziert Schickedanz den „Spiegel“-Bericht als „Boulevardjournalismus“ ab, nennt ihn eine „Rufmordkampagne“ und stellt damit auch seine Glaubwürdigkeit in Frage.

Dabei ließe es sich presserechtlich einfach klären, wenn die Berichterstattung falsch wäre. Dann müsste der „Spiegel“ seine Darstellung mindestens korrigieren. Doch bislang ist das nicht passiert. Der Artikel steht weiter im Netz, unverändert und ohne eine einzige Korrektur.

Bleibt die Frage, warum die Bistumsleitung die Veranstaltung im Franz-Hitze-Haus zugelassen hat. Antonius Hamers von der Ehe-, Familien- und Lebensberatung antwortet, man habe keinen Grund gesehen, sie abzusagen. Wegen der langen Vorlaufzeit zur Jahrestagung der Trauma-Gesellschaft habe man nicht vertragsuntreu werden wollen. Außerdem lasse die Tatsache, dass die Gesellschaft ihre Jahrestagung in einem Bildungshaus des Bistums abhält, nicht den Schluss ableiten, dass sich das Bistum mit der Gesellschaft identifiziere, schreibt die Pressestelle.

Bistum löscht Tagungsberichte

Aus erster Hand kann ich also nichts über die Fachtagung berichten. Es war aber nicht die einzige Veranstaltung in Münster, bei der es um das Thema rituelle Gewalt ging. Auch die inzwischen aufgelöste Beratungsstelle hat Tagungen veranstaltet. Ich habe mit Menschen gesprochen, die diese Tagungen besucht haben.

Astrid-Maria Kreyerhoff von Zartbitter war bei mehreren Tagungen dabei. Sie sagt, dort habe ein fachlicher Austausch stattgefunden. Der Weltanschauungsbeauftragte Andreas Hahn von der evangelischen Kirche in Bielefeld hat einen anderen Eindruck gewonnen.

Er hat im Jahr 2016 eine Tagung einer Vorgängerfachstelle besucht, die sich mit ritueller Gewalt befasst hatte, und seine Eindrücke in einem Fachartikel zusammengefasst. Hahn sagte mir am Telefon, er sei unvoreingenommen in die zweitägige Veranstaltung gegangen. Erwartet habe er, dass man sich aus verschiedenen Blickwinkeln mit ritueller Gewalt beschäftige. Es sei aber anders gekommen.

Das Veranstaltungskonzept habe keine Einordnung zugelassen, sagt er. Es sei zum Beispiel eine Betroffene anwesend gewesen, die rituellen Missbrauch schilderte. Allein dadurch sei es unmöglich geworden, kritisch über das Thema zu sprechen. Stattdessen sei es um Satanismus gegangen, um Riten, Folter, Kannibalismus, um geheime Täterkreise und unterlaufene Strafverfolgungsbehörden. Ähnliches berichtet auch die Psychotherapeutin Antje Krüger-Gottschalk. Sie hatte 2017 eine solche Tagung besucht.

Die Berichte, die im Nachgang zu den Fachtagungen der Beratungsstelle in der Bistumszeitung „Kirche und Leben“ erschienen, sind nach der Auflösung der Beratungsstelle von der Website verschwunden. Die Begründung aus der Bistums-Pressestelle: Einige Aussagen, die auf den Tagungen getroffen wurden, seien falsch gewesen oder entsprächen nicht mehr dem Stand der Wissenschaft.

Aber wenn es nur um einzelne Aussagen ging, warum hat man sie nicht kenntlich gemacht und transparent korrigiert?

Der Link zum Bericht über die Tagung im Jahr 2019 führt heute ins Leere. Doch wenn man ein bisschen sucht, findet man eine im Februar zwischengespeicherte Version der Pressemitteilung. Dort kann man nachlesen, worüber das Bistum heute lieber schweigen möchte.

Brigitte Hahn, die frühere Leiterin der Fachstelle für Sekten- und Weltanschauungsfragen im Bistum Münster, sprach bei der Tagung laut dem Bericht unter anderem „von systematischer Folter, Tötungen und dem Ausschalten jeglicher Kritik“ in Sekten.

Hahn wird dort in indirekter Rede zitiert: „Große Teile der Gesellschaft würden dieser extremen Gewalt ungläubig und mit Ablehnung gegenüberstehen. Die Täter agierten im Dunkelfeld. Rituelle und organisierte Gewalt werde planmäßig und systematisch ausgeführt. Die Opfer werden mit extrem brutalen Handlungen gequält. Ihnen Hilfe zu verweigern, mache sie ein zweites Mal zu Opfern.“

In einer anderen Passage stellt Brigitte Hahn „bei den Taten ritueller und organisierter Gewalt (…) zahlreiche Überschneidungen mit dem Geschäft um Kinderpornografie, Zwangsprostitution und Kinderhandel“ fest. Und weiter: „Nicht selten würden die Taten ideologisch verbrämt und im Dienste von Satan, Luzifer, Odin, Seth oder Luna gerechtfertigt.“

Es wirkt, als wolle das Bistum mit der Löschung der Pressemitteilung ein unangenehmes Thema unter den Teppich kehren. Der Eindruck ergibt sich auch an anderer Stelle.

Zum „Arbeitskreis rituelle Gewalt“, dem die Bistümer Münster, Osnabrück und Essen angehört haben, gibt sich das Bistum schmallippig. Die Pressestelle teilt mir lediglich mit, dort habe zweimal im Jahr ein „kollegialer Austausch“ stattgefunden. Die Mitgliedschaft des Bistums Münster ruhe derzeit.

Dieser Arbeitskreis hatte 2014 ein Buch über rituelle Gewalt herausgegeben. Laut dem „Spiegel“ behaupten die Autor:innen darin unter anderem, dass Sekten in Ausbildungslagern Persönlichkeiten aufspalten.

Was jetzt passieren muss

Mit der Schließung der Beratungsstelle hat sich das Bistum Luft verschafft. Doch Astrid-Maria Kreyerhoff vom Verein Zartbitter sieht diesen Schritt kritisch.

Das Unterstützungsangebot für Missbrauchsbetroffene sei dadurch stark eingeschränkt worden. Diese Menschen stünden nun alleine da, sagt sie. Doch warum springt Zartbitter nicht ein? Das Bistum hat den Verein gefragt, ob er die Beratung übernehmen könne. Doch das lehnte Zartbitter in Teilen ab.

Astrid-Maria Kreyerhoff sagt, Zartbitter fehle im Moment die nötigen Kapazitäten, um alle Betroffenen von der Beratungsstelle des Bistums zu übernehmen. Die Wartezeiten lägen schon jetzt bei sechs Monaten nach dem Erstgespräch. Jede Beratung umfasse zehn Sitzungen pro Person. „Das reicht oft nicht aus für den Unterstützungsbedarf von Menschen mit komplexen Problemlagen“, sagt Kreyerhoff.

Das Bistum schreibt, man sei erstaunt darüber, „wie zurückhaltend andere Beratungsstellen sind, wenn doch ein solches Angebot als so dringend erforderlich angesehen wird“.

Ob und wie das Bistum Münster Betroffenen von ritueller Gewalt in Zukunft helfen wird, ist weiter offen. Zurzeit prüfe man das, sagt Antonius Hamers. Ein Problem sehe er auch darin, dass die katholische Kirche selbst eine Missbrauchsgeschichte hat. So eine Organisation sollte seiner Meinung nach keine betroffenen Menschen beraten. Deshalb müsse das Bistum hier mit externen Stellen zusammenarbeiten.

Astrid-Maria Kreyerhoff hätte sich vom Bistum trotzdem einen „verantwortlicheren, differenzierteren und fachlicheren Umgang“ gewünscht. Zum Beispiel im Rahmen des Beschwerdemanagements oder mit einer dienstrechtlichen Lösung.

Obwohl die Debatte um rituelle Gewalt hitzig und emotional geführt wird, sind sich am Ende alle Menschen, mit denen ich in den vergangenen Monaten gesprochen habe, in einigen Punkten einig:

Keiner von ihnen bestreitet, dass es schwerste Formen der sexualisierten Gewalt gibt.

Keiner leugnet die Existenz von organisierter Kriminalität.

Keiner hält Fälle von ritueller Gewalt für eine Erfindung.

Keiner streitet ab, dass es die dissoziative Identitätsstörung gibt.

Keiner stellt sich schützend vor Täter.

Und trotzdem gibt es keine Einigkeit.

Was stattdessen passiert, fasst das Bistum in seiner Missbrauchsstudie treffend zusammen. Dort heißt es in einer Passage über rituelle Gewalt: „Die Pole in der öffentlichen Debatte reichen von einer generellen Zurückweisung und Leugnung der Existenz des Phänomens auf der einen bis zu abstrusen Verschwörungserzählungen auf der anderen Seite.“

Viele Gruppen streiten über Deutungen und Sichtweisen. Sie versuchen auf unterschiedliche Weise, möglichst wirkungsvoll ihre Interessen durchzusetzen. Dabei geht es am Ende vor allem um eins: Die Betroffenen von Missbrauch brauchen bessere Hilfe.


Update, 14. November 2023

Die Recherche hat einige Reaktionen hervorgerufen. Auch das Bistum hat sich gemeldet, um auf ein paar Ungenauigkeiten in dem Text hinzuweisen, die wir an den entsprechenden Stellen korrigiert haben:

  • In einer früheren Version schrieben wir, dass die Psychotherapeutin Jutta Stegemann die Beratungsstelle geleitet hatte. Diese Information hat auch der „Spiegel“ verbreitet. Richtig ist, dass Stegemann offiziell keine Leitungsfunktion ausgeübt hat. Die geschlossene Beratungsstelle für rituelle Gewalt hatte zwei gleichberechtigte Mitarbeiterinnen. Das Bistum hatte den „Spiegel“ nicht auf diesen Fehler aufmerksam gemacht, weil die Pressestelle in der Recherche nicht kontaktiert wurde.
  • Wir schreiben außerdem, dass die Stelle zwischen 2019 und 2021 etwa 1000 Menschen beraten hat. Richtig ist, dass es hierbei um Beratungskontakte ging, die nicht unbedingt von unterschiedlichen Menschen beansprucht wurden. Pro Jahr hatte die Beratungsstelle ungefähr dreißig Menschen in der Beratung.
  • Das Bistum hat außerdem keine Beschwerden über die Beratungsstelle an die Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen weitergeleitet, wie von uns behauptet. Diejenigen, die sich beschwert haben, wurden nur auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, sich an die Kammer zu wenden.
  • Der letzte Punkt: Wir schreiben, dass der Weltanschauungsbeauftragte der evangelischen Kirche in Bielefeld, Andreas Hahn, 2016 an einer Tagung der Beratungsstelle teilgenommen hatte. Das stimmt so nicht, die Stelle wurde erst 2019 gegründet. Richtig ist, dass Andreas Hahn eine Tagung der ehemaligen Fachstelle für Sekten- und Weltanschauungsfragen besucht hat. Aus der Fachstelle ist die Beratungsstelle hervorgegangen. Beide Stellen haben fast ein identisches Angebot geleistet, wobei die Fachstelle für Sekten- und Weltanschauungsfragen breiter aufgestellt war.

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