Feiern bis das Amt kommt

In der Altstadt ist nach zwei Jahren nachts wieder was los. Sind damit auch die alten Probleme zurück? Ein Abend in der Jüdefelderstraße.
TEXT: FLORIAN BAYER
FOTOS: KIM OPPERMANN
LEKTORAT: ANTONIA STROTMANN
Jüdefelderstraße. Ein Dienstagabend an einem der letzten milden Herbsttage. Im Minutentakt kommen junge Leute und stellen ihre Räder am Bürgersteig ab. Die beiden Nachtbürgermeister, Lisa Tubies und Manuel Marin, sind zum Barzillus gekommen. Die Kneipe füllt sich, auch wenn das Bier mittlerweile über fünf Euro kostet. Man kennt sich untereinander, Marin hat selbst jahrelang hier gekellnert. Die Chefin ist da, auch die Besitzerin der Roten Lola unten am Hafen, wo die Nachtbürgermeister immer wieder auflegen.

Ihr eigentlicher Arbeitsplatz ist aber im Rathaus und vor allem tagsüber, sagt Lisa Tubies, als wir sie anderntags am Nachmittag dort treffen. „Mach Münsters Nacht zu deinem Job“, stand in der städtischen Stellenausschreibung vom April. Tubies und Marin bewarben sich im Tandem und matchten sich mit zwölf anderen Bewerbern. Die Wahl fiel auf die beiden, jetzt teilen sie sich die Stelle als erste Nachtbürgermeister:innen von Münster. Anfang Oktober ging es los, vorerst ist die Stelle auf zwei Jahre befristet.
Konkreten Anlass für die Einführung des Amts gab es keinen, sagen die beiden im Gespräch mit RUMS. Damit zu tun hat aber wohl die Pandemie, in deren Verlauf sich das Nachtleben zunehmend nach draußen verlagert hat. Viele der jungen Leute wollen jetzt nachholen, was lange nicht ging. Und das hat wohl auch damit zu tun, dass viele andere Städte mittlerweile Nachtbürgermeister eingestellt haben, Leipzig zum Beispiel oder Osnabrück.
„Dinge möglich machen“
Lisa Tubies und Manuel Marin arbeiten sich gerade ein. Dazu gehört, die eigene Stelle zu bewerben, zum Beispiel in den sozialen Netzwerken. Tubies und Marin bringen viele Kontakte mit und jahrelange Erfahrung im Nachtleben, als DJs, Veranstalter, in der Gastronomie. Eine „Schnittstelle“ wollen sie sein, die zwar vom Stadtmarketing im Rathaus finanziert wird, aber eben nicht nur bürokratisch agieren will. Vielmehr wollen sie „Dinge möglich machen“ und Konflikte moderieren.
Zu tun gibt es einiges, auch die ersten Streitfälle sind schon bei den beiden angekommen. Die Feierzentren der Stadt sind der Hansaring, der Hafen, der Hawerkamp und die Altstadt, hier vor allem die Jüdefelderstraße.
Seit Jahrzehnten feiern die Studierenden hier, mitten in der Altstadt auf den 170 Metern zwischen der Davidwache und der Destille. Im Sommer und auch rund um den Semesterbeginn im Oktober häufte sich die Kritik am Lärm, den Glasscherben, dem Müll und dem Erbrochenem auf der Straße.
Es sei schlimmer geworden, sagt etwa der Fahrradhändler Bernard Kneuertz. „Die Studenten lernen erst das Saufen, dann das Studieren.“ Kneuertz meint damit die Orientierungswochen der Uni. Da werde schon vormittags getrunken. Besonders beliebt ist der Kneipenbachelor – ein Zertifikat, für das man zehn kleine Bier in zehn Bars trinken muss. Besonders Ehrgeizige nehmen sich den Master (11 Bier), Doktor (12), Prof (14) oder gar den Dekan (15) vor.
Kneuertz findet all das weniger gut, jedenfalls in diesem Ausmaß. Der Mann, repariert hier seit bald 40 Jahren Räder. Im Blaumann steht er an der Theke seines Verkaufsraums und erzählt über das Feiern früher, als man noch mehr Rücksicht auf die Umgebung genommen hat. Als in den Kneipen gefeiert wurde, nicht davor. Kneuertz weiß, wovon er spricht, er ist hier in der Straße schon aufgewachsen und war auch mal jung, wie er sagt. Dann kommt eine Kundin durch die Tür.
Ein Problem: das Cornern
Eine Luftpumpe braucht sie, sagt Antonia Teske, blonde Stirnfransen und roter Wollpulli. Schnell kommt sie auf das Nachtleben zu sprechen. Zu Beginn ihres Studiums der Erziehungswissenschaft habe sie auch hier gefeiert. Doch mittlerweile ist sie 23 Jahre alt und geht woanders hin. Dabei wohnt sie nur zwei Häuser weiter. Zum Schlafen brauche sie Ohropax, aber wegen der günstigen Miete und der Nähe zur Uni wolle sie bleiben. Der Fahrradhändler gibt ihr recht. „Ja, zentraler als hier kann man nicht wohnen“, sagt er. Ihm gehört das ganze Haus, auch ihn könne keiner hier verjagen.
Um die Ecke, wo die Jüdefelderstraße in die Münzstraße mündet, wohnt Markus Offer, mittlerweile seit 15 Jahren. Er arbeitet für die katholische Kirche und lebt allein. Offer kommt gebürtig aus Köln, kam fürs Studium nach Münster und blieb hier hängen. „Nicht die schlechteste Entscheidung“, wie er sagt. Allerdings hadert er mit dem Lärm direkt vor seinem Schlafzimmerfenster. Vor dem Haus ist ein Taxistand, nicht selten werde hier nachts lautstark diskutiert, wer die Heimfahrt bezahlt.
Auch er sagt, das mit dem Lärm und dem Müll sei in den letzten Jahren schlimmer geworden. „Die Gastronomen trifft daran keine Schuld, die machen hier alle einen super Job“, sagt Offer. Ein Problem sei aber das „Cornern“, so nennt man das Lungern vor Lokalen und an Straßenecken. Die Feiernden versorgen sich mit billigen Getränken von der Tankstelle oder dem Kiosk.
Offer versteht das durchaus: „Ich glaube, man kann sich das Kneipenleben nicht mehr so leisten wie zu meiner Studienzeit.“ Er sieht das alles sehr differenziert, und er weiß, dass er hier an der Partymeile schlechthin lebt. Die ist nicht erst seit gestern da. Auch ist er froh, dass nach den „erschreckend ruhigen“ Lockdowns endlich wieder Leben eingekehrt ist. Und doch will er sich nicht alles gefallen lassen: Den Lärm, denn direkt unter seinem Schlafzimmerfenster ist der Taxistand. Den Müll, denn rundherum liegen gebrochene Scherben. Und schon gar nicht Vandalismus, den es zwar seltener, aber eben auch gibt, vor allem beschmierte Wände.
Mehr Polizei? Keine gute Lösung
Was Offer aber am meisten stört: Dass sich die Stadt nicht wirklich kümmert. Auch am Aasee habe es Probleme mit Tausenden Feiernden und rasenden Autofahrern gegeben. Dort habe die Polizei durchgegriffen, „vielleicht mehr als nötig“. Doch für ihn ist klar: Die Stadt sei dort so schnell aktiv geworden, denn dort wohnten die Reichen, sagt er. Deren Anliegen nehme man ernst.
Auch mit den offiziellen Stellen hatte Offer Kontakt, sagt er. Doch das bringe nichts: Die Polizei verweise auf das Ordnungsamt, das Ordnungsamt auf die Polizei. Offer will keinesfalls, dass um 22 Uhr die Bürgersteige hochgeklappt werden. Auch mehr Polizei sei keine gute Lösung. Vielmehr brauche es eine Art Ordnungsdienst, der Leute ermahnt, auch mal leiser zu sein, ohne gleich zu strafen. „Denn es wirkt wie ein rechtsfreier Raum in der Nacht.“
Vom neuen Nachtbürgermeisterteam habe er schon gehört, sie seien „auf jeden Fall einen Versuch wert“. Konkrete Vorschläge hat er auch: Es brauche Fahrradabstellplätze, öffentliche Toiletten und eine sichere Fußgängerquerung der Münzstraße, rüber zum Kiosk und zum Geldautomaten. Und es brauche ein Glasverbot in den Sommermonaten oder zumindest ein Pfand auf die Gläser aus den Bars. Unterm Strich sei aber alles noch sehr gutbürgerlich, wie er sagt. „Wir sind nicht auf der Hamburger Schanze, auch nicht in der Kölner Südstadt.“


Schräg gegenüber betreibt Familie Roozbehrad, die ursprünglich aus dem Iran stammt, einen Kiosk. Der 28-jährige Sohn Adi sagt, seine Eltern und er würden immer wieder für die nächtlichen Eskapaden mancher Feiernder verantwortlich gemacht – zwischen den Zeilen auch in den zahlreichen Briefen des Ordnungsamts, Das finde er unfair.
„Man kann einer Studentenstadt schon zumuten, dass Leute auch mal ein günstiges Bier auf der Straße trinken wollen“, sagt Adi Roozbehrad. Kioske seien gerade in Zeiten der Inflation wichtig, wo das Geld bei vielen ohnehin nicht mehr so locker sitzt. Sie hätten versucht, die eigenen Preise nur minimal zu erhöhen. Und bislang sei das auch gelungen, sagt Roozbehrad.
Macht die Stadt es sich zu leicht?
Gemeinsam mit Gastronomen aus der Nachbarschaft war Adi Roozbehrad beim Ordnungsamt, um ihre Idee eines eigenen Ordnungsdiensts vorzustellen. Hintergrund waren die schwer zu kontrollierenden Coronaregeln, die damals galten. Ein Sicherheitsdienst sollte Masken und Impfstatus beim Betreten der Feiermeile kontrollieren, das war der Vorschlag. Die Lokal- und Kioskbetreiber boten sogar an, die Kosten für diesen Dienst selbst zu tragen. Zum Termin im Ordnungsamt kam es, ein entsprechender Mailverkehr liegt RUMS vor.
Warum wurde nichts aus dieser Idee? Eine RUMS-Anfrage an das Ordnungsamt blieb erst lange unbeantwortet, dann hieß es: „Die Idee wurde erst einmal nicht weiterverfolgt. Konkrete Angebote bzw. Vorschläge lagen uns nicht vor.“ Roozbehrad widerspricht, er habe sehr wohl konkrete Vorschläge gemacht. Die restliche Anfragebeantwortung klingt, als sei solch ein Dienst auch künftig kein Thema. Stattdessen wolle das Ordnungsamt seine nächtliche Präsenz verstärken.
Die Stadt mache es sich mit dieser Antwort zu leicht, glaubt der junge Kioskbetreiber. Das Ordnungsamt sei nicht da gewesen, es habe nur Briefe geschrieben mit immer neuen Anweisungen. „Teilweise war das nur noch Schikane“, sagt der Wirtschaftsstudent. Seine Familie habe sich an alle Pandemieregeln gehalten, teils nur eine Person gleichzeitig in den Verkaufsraum gelassen und sogar früher geschlossen als gesetzlich vorgeschrieben. Dennoch seien die Briefe gekommen.
Dass es grundsätzlich ein Problem gibt, sieht Roozbehrad. Aber nach seinem Eindruck eben nur mit einem kleinen Teil der nächtlichen Gäste. „Die jungen Leute sollen ruhig feiern. Aber Autos zerkratzen, das geht gar nicht“, sagt er und fügt an: „Wir können ihnen aber auch nicht hinterherlaufen.“ RUMS hat bezüglich der Probleme in der Jüdefelderstraße eine ausführliche Anfrage an die Polizei geschickt, diese blieb unbeantwortet.
Die Nachbarn beschweren sich
Vater Masood Roozbehrad, der an diesem Mittwochvormittag im Verkaufsraum steht, sieht es ähnlich. Die Lage habe sich zuletzt wieder sehr beruhigt. Einzig mit den (alkoholischen) Getränken mache man im Kioskgeschäft Gewinn, sagt er. Mit Zigaretten und allem anderen – im Kiosk gibt es auch einen Postschalter – lasse sich fast nichts verdienen.

Die meisten der nächtlichen Kunden seien nett zu ihnen, wenn auch nicht alle. Er mache jeden Morgen sauber, davon zeugt an diesem Mittwochvormittag ein säuberlich zusammengekehrter Haufen Müll, der auf die Abholung durch die Müllabfuhr wartet. In den Hochphasen der Pandemie haben sich Nachbarn öfters bei der Stadt über den Kiosk beschwert. Die Roozbehrads sagen, da treffe es die Falschen.
Im nächsten Jahr will der 63-jährige Masood Roozbehrad in den Ruhestand gehen, auch die Mutter wird sich mehr und mehr zurückziehen. Dann übernimmt Sohn Adi endgültig. „Die Nachtarbeit ist besser für junge Leute“, sagt der Vater. Für die Feiernden hat er trotz aller Beschwerden viel Verständnis. „Die sind jung, wollen ein bisschen trinken, Spaß haben. So groß sind die Probleme nicht.“
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